Die Ferne so nah

Die Ausstellung »All-Inclusive« in der Frankfurter Kunsthalle Schirn bittet zum Kurzurlaub in die »Welt des Tourismus«. jessica zeller hat Postkarten, Souvenirs und einen postmodernen Robinson Crusoe in der Strandküche gesehen.

Der März ist kein bevorzugter Urlaubsmonat. Wenn überhaupt, geht es für ein verlängertes Wochenende zum Skifahren in die Alpen, oder man fliegt spontan nach Südeuropa, wo Temperaturen um die 15 Grad plus herrschen. Üblicherweise sitzt man jedoch zu Hause oder im Büro, gewöhnt sich langsam daran, die neue Jahreszahl nicht mehr zu vergessen, wenn man das Datum schreibt, und wartet ansonsten auf den Sommer. Was liegt also näher, als sich in der Stadt Eindrücke von warmen Gefilden zu verschaffen? Künstliche Welten wie die »Tropical Islands«, 60 Kilometer südlich von Berlin, leisten diesem Wunsch Genüge und versprechen dem Besucher, den »Traum von einer tropischen Insel mitten in Europa« Wirklichkeit werden zu lassen.

»Abschalten vom Alltag und neue Energie tanken« – dieses verlockende Angebot überzeugt moderne Großstadtbewohner und Mittelschichts­kinder nur bedingt, obwohl ihre Bedürfnisse wohl ähnlich sind. Sie wollen nicht nur alle Viere von sich strecken, sondern sich auch im Urlaub ihre Gedanken machen, etwas besichtigen und nicht nur am Strand liegen. Nichts ist für sie abschreckender als das Siegel »All-Inclusive«. Doch wie wenig originell diese Abgrenzung heutzutage ist, brachte der US-amerikanische Journalist Sam Ewing mit dem Satz auf den Punkt: »Der normale Tourist möchte dorthin fahren, wo es keine Touristen gibt.« Auch scheint sich allgemein die Erkenntnis durch­zusetzen, dass selbst der Rucksackreisende seine Spuren im ehemals unberührten Paradies hinterlässt.

Muss man deswegen bald mit dem Gegentrend rechnen und besonders auf Distinktion bedachte Menschen in Mallorca begrüßen, die sich in der Überzeugung dorthin begeben haben, dass es ohnehin keinen richtigen Urlaub im falschen gibt? Eine mögliche Alternative bietet die Ausstellung »All-Inclusive. Die Welt des Tourismus«, die in der Frankfurter Kunsthalle Schirn zu sehen ist. Dort werden, so Kurator Matthias Ulrich in der Einleitung zum Katalog, »die Veränderungen, die der Tourismus in vielen Bereichen der modernen Gesellschaft ausgelöst hat«, künstlerisch verarbeitet. Es geht um Grenzen, Migration und Terrorismus, aber auch um Luxus für alle und die Flucht aus dem Alltag. Es geht also ambivalent zu. Der kritische Gehalt der ausgestellten Arbeiten ist dabei zwar sehr unterschiedlich, manche wollen auch einfach nur auf intelligente Weise unterhalten. Allen gemeinsam ist jedoch: Sie sehen ausgesprochen gut aus. Der Besucher kann sich also – fast wie im Urlaub – zerstreuen lassen und noch dazu ästhetische Ansprüche befriedigen.

Man betritt die Ausstellung durch eine Sicher­heitsschleuse wie am Flughafen. Es handelt sich um eine Arbeit der Künstlerin Ayse Erk­man. Man stutzt. Denn wie immer piept es, und man greift automatisch nach dem Schlüssel und dem Kleingeld in der Hosentasche. Muss man beides, wie schon die Jacke und die Handtasche, nun unten an der Garderobe einschließen lassen? »Nein!«, versichert das Sicherheitspersonal am Eingang, das die Kleidung der Luft­hansa aus den neunziger Jahren geerbt zu haben scheint. »Sie dürfen so rein. Gute Reise!«

Weiter geht es vorbei an dem Kofferband mit einem einsamen Gepäckstück, das ein Readymade der Skandinavier Michael Elmgreen und Inger Draset ist, zu den Arbeiten des taiwanesischen Künstlers Lee Mingwei und der Chinesin Yin Xiuzhen. Beide haben ihre bereits bestehenden Serien für die Ausstellung ergänzt. Lee Mingwai ließ sich in seinem »The Tourist Project« von Bewohnern Frankfurts »ihre Stadt« zeigen und hielt seine Tagesausflüge in Fotos und in Regalen mit Souvenirs fest. Eine Frankfurterin zog mit ihm von Haus zu Haus und stellte den Künstler ihren Freunden und Bekannten vor, ein anderer ging ganz traditionell mit ihm »Äbbelwoi« trinken und brachte ihm einen Bembel mit. Deutlich wurde: Ein einheitliches Frankfurt gibt es nicht.

Auch Yin Xiuzhens Arbeit »Portable Cities« spielt mit der Konstruktion von Urlaubserlebnissen und den Andenken, die man nach Hause mitnimmt. Die Künstlerin nähte ein dreidimensionales Stoffmodell der Stadt in einen Koffer ein. Klappt man das Gepäckstück auf, kommen der Römer, der Main und die Bankenhochhäuser zum Vorschein. Damien Roach geht in seiner Installation »Transit #2 Postcards« noch weiter und macht nicht nur jede Stadt transportabel, sondern gleich die ganze Welt. In der Installation grenzt Land an Land und Ozean an Ozean. Kasachstan und Kanada, die Schweiz und Patagonien werden so zumindest visuell miteinander verbunden.

Was aber passiert, wenn man sich dem Wegfahren ganz verweigert und in seiner eigenen Wohnung auf eine Insel zurückzieht? Diese Frage hat sich der Israeli Guy Ben-Ner gestellt. Glaubt man den Zeitangaben in seinem Film »Berke­ley’s Island«, hat er mehr als ein Jahr lang auf einem Sandhügel neben seiner Einbauküche ein Dasein als postmoderner Robinson Crusoe gefristet. Sein einziger Ansprechpartner und Spielgefährte war – wenig jugendfrei, dafür aber umso unterhaltsamer – sein eigenes Geschlechtsteil.

In eine ähnliche Richtung verweist die Arbeit von Sislej Xhafa mit dem Titel »Franky on Holiday«: eine Hängematte aus Goldkettchen, die man problemlos auch im eigenen Wohnzimmer aufspannen kann. Gleichzeitig reaktiviert und hinterfragt sie gängige Vorurteile über faule Männer mit Brusthaaren, die diesen Schmuck für gewöhnlich um ihren Hals tragen.

Eine Ruhepause mitten in der Ausstellung – Füße hoch und rein ins Kunstwerk! – ist jedoch selbst in einer Schau zum Tourismus nicht gestattet. Und so bleibt nach dem Besuch fast nichts anderes übrig, als sich, zurück in der kalten Wohnung, aufs Sofa zu legen und die Rückkehr des Alltags mit der Lektüre des Katalogs noch etwas aufzuhalten. Denn statt öden Reflexionen über die gesellschaftliche Rolle des Reisenden im 21. Jahrhundert oder über die gegenwärtige Renaissance der Pilgerfahrt finden sich hier neben Fotos der Arbeiten zehn ausgesprochen hübsche Reiseberichte, hervorgegangen aus einem öffentlichen Schreibwettbewerb. Man kann die Geschichte einer Frau lesen, die, »das Meer in den Augen«, einfach einmal spontan von der Arbeit mit dem Auto nach Nizza fuhr. Es gibt einen Bericht aus der New Yorker U-Bahn, in der man dicht gedrängt unter der Stadt ihre Bewohner aus 123 Nationen kennen lernen kann. Diese Geschichten lassen einen noch etwas länger träumen. Schaut man dabei zufällig aus dem Fenster, merkt man, dass nur noch eines wirklich fehlt – die Sonne.

»All-Inclusive. Die Welt des Tourismus«.

Kunsthalle Schirn, Frankfurt. Bis 4. Mai