Techno from outer space

Manche halten Techno immer noch für Bumm-Bumm und einen Ersatz für Marschmusik. Das Gegenteil ist der Fall, belegt Michael Saager anhand von Carl Craig

Mancher Fan hat sich die Frage möglicherweise schon häufiger gestellt: Wann wird Carl Craig, der wahrschein­lich wich­tigste, mit Sicherheit aber seit längerer Zeit angesagteste der verbliebenen Detroiter Techno- und House-Produzenten, eine Übersicht seines Clubwerkes inklusive der großartigen Remixarbeiten liefern? Die Antwort lautet: jetzt. Und man muss sagen: endlich, denn nicht jeder Fan ist professioneller DJ oder Vinyl­junkie und hat die letzten 20 Jahre künstlerischen Schaffens des gerade mal 38jährigen verfolgt, indem er emsig Vinyl-Maxis kaufte.

Craig gehört, so wie Robert Hood, Jeff Mills und Mike Banks (der Kopf von Underground Resistance), zur »zweiten Generation« Detroiter Techno-Musiker. Um die meisten von ihnen ist es ziemlich still geworden, fast so still wie um die Gründerväter der »ersten Generation« – um Derrick May oder Juan Atkins. Vielleicht sind die für eine innovative Szene relativ engen städtischen Grenzen mit daran schuld, dass man von all den Detroitern zuletzt vor allem Variationen des Immergleichen vorgesetzt bekam. Wenn über­haupt – denn beinahe hatte man das Gefühl, die ehemals so schillernden Figuren würden sich mit sich selbst langweilen und es deshalb mit dem Produzieren am liebsten ganz lassen.

Nicht so Craig – seine eigenen Stücke, die er auch unter Pseudonymen wie BFC, Psyche, 69, Paperclip People oder Innerzone Orchestra veröffentlicht hat, sowie Remixarbeiten für die Junior Boys, Chez Damier, Rhythm & Sound und viele andere, eint meist ein trockener, funkiger Beat, ein ebenso retroesker wie futuristischer, bisweilen leicht raviger, gerne auch – wie beim Übertrack »Falling Up« für Theo Parrish – hypnotisch signallastiger Sound und ein Überschuss jazzgewogene Musikalität mit Hang zum Pop. Craig, der immer auch ein Faible für HipHop und (dunklen) New Wave und Industrial hatte, weshalb der Remix für Delia Gonzales’ und Gavin Russoms »Revelee« kein Widerspruch ist, sondern sich bestens in den Gesamtrahmen fügt, produziert seine Tracks am liebsten so, dass man meint, sie würden einen gleich anspringen – so intensiv, so körperlich und ungeschliffen kommen sie daher. Und so ungestüm viele seiner Stücke wirken, so harsch ist teilweise auch der Mix der Doppel-CD geraten. Obgleich man, wie so oft in letzter Zeit, wieder einmal nicht ausmachen kann, wer hier beim Mix am Werk war: der Computer oder ein Platten drehender DJ. Vermutlich der Computer, denn kleins­te Uneben­heiten zierten ja vor ein paar Jahren sehr wohl die Mix-CDs durchaus geschickter Detroiter Kollegen, etwa die von Stacey Pullen, Kevin Saunderson und Claude Young. Bei Craig behaken sich manchmal die Melodien, manchmal geht es ein bisschen schnell von einem Stück zum anderen. Synchronisationsfehlerchen indessen hört man nicht.

Auf der Doppel-CD findet sich auch der sagenhafte Klassiker »Throw« von Craig unter dem Pseudonym Paperclip People, ein Track aus dem Jahr 1994. »Throw« ist eine mittels Bass und Hi-Hat sexy Pumpbewegungen vollführende Mischung aus Techno-Soul und Disco. Wie bei einer Schlangenbeschwörung schraubt sich ein einfaches, überaus einprägsames Orgelthema gemeinsam mit einer melancholischen String-Linie immer weiter in die Höhe, ab und an ins Dumpfe gefiltert, um die Spannung zu erhöhen. Ab der Mitte gibt es ein paar kleine Breaks; und dann folgt auf der Maxi, die bis heute in der Plattenkiste keines souveränen DJs fehlen sollte, ein Ausflug wild gekreischter Soul-Ekstase.

Craig hat die leicht entrückt klingende Hoffnung, die in so vielen Techno-Tracks der marode darniederliegenden Ex-Industriestadt ­Detroit von Anbeginn an steckte, mit viel Geschick und Soul in die Gegenwart überführt. Über alle Grenzen hinweg klingt seine Musik dabei immer noch wie nicht von dieser Welt, mitunter wie Afro-Jazz von einem anderen Planeten. Er hat, kurz gesagt, tatsächlich eine magische Formel entwickelt, die zeitloser und signifikanter nicht sein könnte.

Carl Craig: »Sessions« (!K7 Records/Alive)