Überwachung bei Lidl

Angst am laufenden Band

Bei Lidl wurden Mitarbeiter überwacht und ausspioniert. Weil sie nur in acht von rund 2700 Filialen gewerkschaftlich or­ganisiert sind, kann Verdi nicht viel dagegen unternehmen.

Das klingt nicht unattraktiv: »Wir bieten Ihnen neben einer überdurchschnittlichen Bezahlung viele Perspektiven in einem dynamischen Arbeitsumfeld und eine Tätigkeit, bei der jeden Tag aufs Neue der Mensch im Vordergrund steht – sowohl als Kunde als auch als Mitarbeiter!« Doch angesichts der bekannt gewordenen Bespitzelungen des Personals bei Lidl bekommen die Stel­lenangebote des Konzerns einen seltsamen Beigeschmack.

Denn der »Mensch als Mitarbeiter« stand bei dem Discounter über Monate unter der Be­obacht­ung von extra zu diesem Zweck engagierten Detekteien. Das deckte vergangene Woche das Hambur­ger Magazin Stern auf, dem mehrere hundert Seiten interner Ermittlungsprotokolle zugespielt wor­den waren. Danach wurden in 219 Filialen Mitarbeiter systematisch mit zu diesem Zweck instal­lierten Überwachungskameras ausgespäht. Ihre Toilettengänge wurden akribisch erfasst, ihre per­sönlichen Beziehungen verzeichnet sowie Einschätzungen der Detektive über die Produktivität der Mitarbeiter festgehalten. In den Protokollen finden sich Passagen wie: »Die Kräfte Frau E. und Frau F. unterhalten sich, auch vor Kunden, auf Polnisch miteinander!« Oder: »Frau J. führt seit einer halben Stunde Privatgespräche. Es ist zu prüfen, wen sie angerufen hat (Einzelverbin­dungs­nach­weis).«
Die stark an die Tätigkeit von Geheimdiensten erinnernde Vorgehensweise stritt der Konzern zunächst ab, doch wegen der zahlreichen Beweise dafür, dass in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Berlin und Schleswig-Holstein nach demselben Muster vorgegangen wurde, gestand die Geschäfts­führung die Bespitzelungen überraschend ein – und bat mittlerweile sogar um Entschuldigung. »Wenn sich Mitarbeiter durch die dargestellten Vorgehensweisen in Misskredit gebracht und per­sönlich verletzt fühlen, so bedauert dies Lidl außerordentlich und entschuldigt sich dafür in aller Form. Das Unternehmen versichert Ihnen, dass sich so etwas nicht wiederholen wird!« hieß es in einem Schreiben und in Zeitungsannoncen des Neckarsulmer Unternehmens. »Unser Ziel der Über­wachung war stets nur die Verringerung von Diebstählen durch Mitarbeiter«, beeilte sich Jürgen Kisseberth von der Geschäftsführung darzulegen. Auch habe die Datensammlung keinerlei Konsequenzen für die Beschäftigten gehabt. Ihm seien »weder Entlassungen noch Abmahnungen bekannt«.

Die Angst, das Image des Konzerns könne einen irreparablen Schaden nehmen, muss vergangene Woche groß gewesen sein. Normalerweise reagiert Lidl nämlich erstaunlich gelassen auf Vorwürfe wegen seiner Unternehmensführung und weist diese zumeist als »Diffamierungskampagnen« zurück. Und das, obwohl die Liste der Verfehlungen lang ist. Im Jahr 2004 etwa erhielt die Lidl Stiftung GmbH & Co. den »Big Brother Award« in der Kategorie Arbeitswelt für den »nahezu skla­venhalterischen Umgang mit ihren Mitarbei­terin­nen und Mitarbeitern«. Die Umweltorganisation Greenpeace warf dem Unternehmen vor, im Herbst 2005 stark mit Pestiziden belastetes Obst und Gemüse verkauft zu haben. Im selben Jahr startete das globalisierungskritische Netzwerk Attac eine Kampagne gegen Lidl. Die Dienst­leistungsgewerkschaft Verdi hatte zudem bereits 2004 das erste »Schwarzbuch Lidl« herausgebracht. Zwei Jahre später folgte das »Schwarzbuch Lidl Europa«, denn der Konzern ist inzwischen mit mehr als 7 200 Filialen in fast allen europäischen Staaten vertreten. Nicht weniger als 150 000 Beschäftigte dürften für die Discounterkette arbeiten.
Die Missstände, die Verdi in den Schwarz­büchern aufzeigt, reichen von schlechter Bezahlung über menschenunwürdige Behandlung der Mitarbeiter und Verstöße gegen den Arbeits- und Gesundheitsschutz bis zur Verhinderung von Betriebsratswahlen. Auch würden mit an Nötigung grenzendem Verhalten Beschäftigte dazu ge­drängt, Aufhebungsverträge zu unterschreiben oder von sich aus zu kündigen. Dies sei etwa dann der Fall, wenn Lidl es anstrebe, beim Personal zu sparen und langjährige Mitarbeiter durch Mini­jobber und ungelernte Teilzeitkräfte zu ersetzen. Nach Angaben der Gewerkschaft wende der Konzern gezielt Mittel wie Testkäufe, Versetzungen und Mobbing an, um Mitarbeiter loszuwerden.
Insofern überraschen die jüngsten Vorwürfe gegen Lidl nicht. Lediglich die Erkenntnis, wie systematisch die Beschäftigen bespitzelt wurden und wie tief der Konzern in ihre Pri­vat­sphä­re eindrang, sorgten doch noch einmal für Erstaunen.

»All diese Vorwürfe gibt es mehr oder weniger in allen Discounter-Märkten«, sagt Achim Neumann, Sekretär für den Bereich Handel bei Verdi, im Gespräch mit der Jungle World. Lidl sei lediglich wegen seiner Größe »Trendsetter« bei der Verletzung von Persönlichkeitsrechten und beim Lohndumping. Videoüberwachung gebe es bei Aldi genauso wie bei der Drogeriekette Schlecker, wo Mitarbeiter stundenlang durch Lochwände ausgespäht worden sein sollen. »Zur Abwehr von Diebstählen ist Videoüberwachung ein üblicher Vorgang«, erklärt Neumann. Doch er spricht auch von einem »Klima der Angst des Systems Discoun­ter«: Das bedeutet, die vorgesetzten Verkaufsleiter verunsichern ihre Mitarbeiter systematisch, Angst wird zu einem zentralen Instrument der Personalführung.
Wie gut dieses System aus Sicht der Unternehmer funktioniert, zeigt die Zahl der Lidl-Filialen in Deutschland, bei denen es einen Betriebsrat gibt: Acht sind es – von rund 2 700. Dies sei ein weiterer Skandal, sagt Neumann. Denn ohne eine gewählte Arbeitnehmervertretung kann die Gewerkschaft von sich aus kaum handeln. Im gegenwärtigen Skandal fordert Verdi die betroffenen Mitarbeiter zwar auf, sich straf- und zivilrechtlich gegen die Bespitzelung zur Wehr zu setzen. »Ich kann den betroffenen Lidl-Mitarbeitern raten, sich untereinander zu verabreden und gemeinsam zu Verdi zu kommen. Möglicherweise könnte man dann Musterklagen gegen Lidl anstrengen«, erklärte die stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft, Margret Mönig-Raane. Solange die Mitarbeiter jedoch nicht gewerkschaftlich und betrieblich organisiert sind, könne Verdi nur schwerlich gewerkschaftliche Un­terstützung leisten, schränkt Achim Neumann ein und fügt hinzu: »Mit ängstlichen Menschen kann man schlecht kämpfen.«

Neben der Gewerkschaft sind auch die Datenschutzbeauftragten tätig geworden. In Baden-Württemberg, wo die Zentrale des Konzerns an­gesiedelt ist, wurde eine Untersuchung eingeleitet. Bei Verstößen gegen den Datenschutz können die Behörden ein Bußgeld in Höhe von 250 000 Euro verhängen. Auch in Berlin werde den Vorwürfen nachgegangen, bestätigt die Presse­sprecherin des Berliner Datenschutzbeauftragten, Anja-Maria Gardain, dieser Zeitung. Den Vorgang müsse man jedoch erst auswerten.
Boykottaufrufe gegen Lidl, wie sie von verschie­denen Politikern geäußert wurden, verhallen offenbar bisher unbeachtet. Der Ruf des Discoun­ters scheint jedoch Schaden genommen zu haben: Auf dem »Brand-Index« des Marktforschungs­instituts Psychonomics AG rutschte das Unternehmen vom zweiten auf den letzten Platz unter den 16 beurteilten Discountern.