Der Konflikt zwischen schiitischen Fraktionen im Irak eskaliert

Die Herren der Checkpoints

Im Südirak kämpfen Regierungstruppen gegen die Miliz Muqtada al-Sadrs. Der Konflikt zwischen konkurrierenden schiitischen Fraktionen ist eskaliert.

Was macht ein Imam, wenn sein Haus brennt? Er erlässt eine Fatwa, die Häusern das Brennen verbietet. Seit die jüngsten Gefechte zwischen der Mahdi-Miliz Muqtada al-Sadrs und irakischen Regierungstruppen begannen, hagelt es nicht nur Gewehrkugeln, sondern auch Rechtsgutachten der schiitischen Geistlichen, die den Kämpfern und der in Deckung gegangenen Bevölkerung erklären, was in Basra, Bagdad und anderen Städten des Landes geschieht. Die Hektik ist verständlich. Denn der Konflikt um die Entwaffnung der Mahdi-Miliz ist zugleich der seit langem erwartete Ausbruch offener Feindseligkeiten zwischen den schiitischen Fraktionen im Irak, die sich gegenseitig des Verrats, krimineller Machenschaften und der Kollaboration mit dem Iran bezichtigen.
Recht haben sie in gewisser Weise alle. Sowohl die nur der Form nach in der irakischen Armee aufgegangene Badr-Miliz des Hohen Islamischen Rates im Irak (SIIC) und die islamische Da’wa-Partei des Premierministers Nuri al-Maliki als auch die Sadristen erhielten großzügige Förderung aus dem Iran, dessen Irakpolitik in den vergangenen Jahren im Wesentlichen darin bestand, alle schiitischen Fraktionen gegeneinander zu unterstützen und darüber hinaus auch jeden anderen, der sich bereit fand, gegen die Koalitionstruppen zu kämpfen.
In der Hochphase des Terrors im Irak erfreuten sich sunnitische Selbstmordbomber genauso iranischer Unterstützung wie die schiitischen Mordkommandos der Mahdi-Miliz und die ebenfalls schiitischen Parteien Da’wa und SIIC. Um zu ahnen, dass das nicht funktionieren kann, muss man keine Fachliteratur abonniert haben. Doch solider Glaube und ein kleiner Gewinn am Rande dürften allen Beteiligten über aufkommende Zweifel hinweggeholfen haben.

Die Eskalation war lediglich eine Frage der Zeit. Mindestens dreimal haben die irakische Regierung und vor ihr die Übergangsregierung zusammen mit den Koalitionstruppen die Gelegenheit verpasst, Sadrs Miliz zu zerschlagen. Jedesmal intervenierten der schiitische Klerus oder die schiitischen Parteien, denen Sadr den Kampf angesagt hat, und jedesmal zog der sich auf die Position zurück, eigentlich nur die »Besatzer« zu bekämpfen. Jedesmal auch überlebte Sadr, weil die USA und alle anderen Beteiligten einen offenen Bürgerkrieg zwischen den schiitischen Fraktionen neben allen anderen Krisen nicht auch noch wollten. So kommt es, dass mit Duldung der Koalitionstruppen, dank Vermittlung der schiitischen Parteien und mit freundlicher Förderung des Iran Sadrs bewaffneter Haufen zu einer mächtigen Miliz ähnlich der Hizbollah aufgestiegen ist. Wie diese profitiert er von der Regierung und bekämpft sie zugleich.
Auch die Auseinandersetzungen in Basra sind kein neues Phänomen. Seit Jahren schon liefern sich dort Mitglieder der Badr-Miliz Gefechte mit den Sadristen, wobei sich beide in der konkreten Form ihrer Herrschaftsausübung nur graduell unterscheiden. Badr- wie Sadr-Milizen verschaffen ihren Klientelen, die kaum über den Tag hinausweisende politische oder ideologische Vorstellungen haben, die konkrete Kontrolle über den begrenzten Raum von Stadtteilen. Ihre mehr oder weniger brutale Herrschaft wird von keiner anderen Instanz als dem eigenen Gutdünken und dem verbissenen Willen gelenkt, das Revier niemand anderem zu überlassen.

In Basra haben die Milizen längst die Funktion staatlicher Institutionen und teilweise auch diese Institutionen selbst übernommen. Niemand weiß, zu welcher Miliz Polizisten gehören, die Bürger abholen und mitunter ermorden. Alle profitieren vom einträglichen Ölschmuggel, an dem wiederum auch der Iran verdient. Die Stadt ist bereits unter britischer Kontrolle zu einem Ort des alltäglichen Terrors gegen die Bevölkerung geworden, die mal von dieser, mal von jener Miliz drangsaliert wird.
Und doch gibt es Unterschiede zwischen den sich derzeit bekämpfenden Fraktionen. Während Sadr einen starken, islamistisch dominierten, zentralistischen irakischen Staat propagiert und gegen föderale Konzepte wettert, favorisiert sein Gegenspieler Abdul Aziz al-Hakim, Führer des SIIC, eine südirakische Föderation und eine schwache Zentrale in Bagdad. Die Badr-Miliz verfügt über eine Geschichte langjährigen Widerstands gegen das Regime Saddam Husseins und eine hierarchische Tradition. Sadr dagegen schuf völlig neue bewaffnete Verbände und versprach dem großen Heer jener, die weder zur richtigen Familie gehören noch sich im Widerstand Ansprüche auf die Zukunft erwirtschaftet hatten, Erfolg und Teilhabe.
Wie wenig dazu gehört, ein Kämpfer Sadrs zu sein, zeigte der im vergangenen September unternommene Versuch, die Miliz in einen politischen Verband zu transformieren und ideologische Mindeststandards zu formulieren. Mitglieder der Miliz sollten auf einem Blatt einfache Fragen zum Islam, dem Koran und zu ihrer politischen Orientierung beantworten. Die Aktion wurde nach kurzer Zeit wieder gestoppt, weil von den etwa 60 000 Milizionären nur wenige in der Lage waren, die Fragen zu beantworten.
Das gescheiterte Projekt kennzeichnet den Zustand einer doppelt von der Zeit abgetrennten Bewegung, die weder eine Vorstellung von der Zu­kunft noch eine Geschichte hat. Wie die gesamte Rhetorik Sadrs sind seine Milizionäre rein auf das Tagesgeschehen fixiert, sie sind Handelnde ohne Handlungsanleitung und in der Praxis Herren ihres Checkpoints, ihres Bezirks oder Reviers. Wenn sie jetzt erbitterten Widerstand leisten, dann gegen die Konkurrenz, bei der es größtenteils nicht besser aussieht.
Erst durch die jüngsten Entwicklungen im Zen­tral­irak ist die schiitisch dominierte Regierung in Zugzwang geraten. Während sich dort in den vergangenen Monaten die Lage weitgehend beruhigte, vor allem dank der neuen amerikanischen Taktik, mit Hilfe obskurer sunnitischer Milizen die Anhänger von al-Qaida zu isolieren, treten die innerschiitischen Konflikte nunmehr offen zu Tage. Die Regierung Nuri al-Malikis, die bislang vor allem für ausufernde Korruption und vollständige Handlungsunfähigkeit stand, während die Beruhigung der Lage im Zentralirak den US-Truppen zugerechnet wird, steht unter erheblichem Druck, wenigstens in den schiitischen Regionen Ordnung und Sicherheit wiederherzustellen. Und Pfründe zu sichern: Anfang des Jahres wandten sich in einer Unterschriftenaktion 300 000 Menschen aus dem Süden des Landes mit einem Appell an die irakische Regierung und forderten ein Ende der Bandenherrschaft.

Dass Malikis Versuch, den Süden gewaltsam zu befrieden, Erfolg haben wird, ist mehr als zweifelhaft. Die gegenwärtige Militärkampagne »Knights Charge« richtet sich eben nur gegen einen Teil der Milizen, die die Bevölkerung terrorisieren. Nach Ansicht vieler Irakis kämpft hier nicht eine nationale Armee gegen irreguläre Milizen, sondern es kämpfen drei konkurrierende Parteien um die Vorherrschaft.
Und genau dies ist das Problem. Bei Umfragen der BBC erklärten Bewohner Basras fast durchgängig, sie wünschten ein Ende der Milizenherrschaft, nur glaubten sie nicht daran, dass die Regierung dies bezwecke. Vielmehr gehe es nur darum, eine Clique durch die andere zu ersetzen. Außerdem wirkte die von Maliki seit längerem angekündigte Offensive im Süden, mit der er der Welt und den Irakis seine Handlungsfähigkeit beweisen wollte, schlecht vorbereitet. Obgleich der Premierminister eigens nach Basra reiste, um öffentlichkeitswirksam zu erklären, die Stadt werde nun um jeden Preis stabilisiert, begann der Vormarsch irakischer Truppen, von denen einige Tausend Soldaten umgehend desertierten oder überliefen, nach wenigen Tagen zu stocken und Koalitionstruppen mussten zu Hilfe gerufen werden. Während die Briten, die Basra im Januar in das selbstverwaltete Chaos entlassen und demonstriert hatten, was ein frühzeitiger Abzug ausländischer Truppen aus dem Irak bewirkt, vom fernen Flughafen die Straßenkämpfe beobachteten, rief Maliki amerikanische Kampfflugzeuge zu Hilfe.
Offiziell griffen die USA auf Seiten der irakischen Regierung in die Kämpfe ein, de facto wurden sie aber, wie Anthony Cordsman vom Center for Strategic and International Studies richtig bemerkte, in einen innerschiitischen Kampf hineingezogen. Ihr großer Gegenspieler, der Iran, sah hingegen seinen Einfluss schwinden. Fast verzweifelt rief deshalb auch Ayatollah Ahmad Jannati, Vorsitzender des iranischen Wächterrates, alle beteiligten Parteien an den Verhandlungstisch.
Denn je länger die Kämpfe dauern, desto schlechter steht der Iran als Hegemonialmacht da. Stützt er nämlich Sadr gegen eine Allianz aus anderen schiitischen Parteien und den USA, so wird deutlich, dass die Schiiten ebenso zerstritten sind wie die Sunniten. Die vielbeschworene Einheit des Islam erweist sich einmal mehr als eine Chimäre, der täglich mehr Muslime zum Opfer fallen.
Da die Probleme, die sich in Basra offenbaren, allerdings struktureller Natur sind und aufgrund der Beschaffenheit der Mahdi-Miliz auf dem Verhandlungswege wohl nie gelöst werden können, werden sich Waffenstillstände, wie schon in der Vergangenheit, als kurzfristige Feuerpausen erweisen. Auch wenn am Sonntag Sadr seine Truppen zum Rückzug aufrief, so wird der Konflikt weiter schwelen und kann jederzeit erneut und noch heftiger ausbrechen.
Angesichts der miserablen Lage vor allem in Basra hat die Auseinandersetzung lediglich ein Gutes. Vor kurzem stellte die New York Times fest, dass besonders junge Menschen im Irak zunehmend jeden Respekt vor Klerikern und islamischen Parteien verlieren. Und gerade diese Jugendlichen – 60 Prozent der irakischen Bevölkerung ist jünger als 21 Jahre – waren und sind es bisher, die sich aufgrund von Perspektivlosigkeit und ideologischer Verblendung den unterschiedlichen Milizen angeschlossen haben.