Anarchie in Hessen

Hessen swingt

Eine Hommage an die kurze, wunderbare Zeit, als in Hessen alles und nichts möglich schien.

Sich schöne Augen machen, umeinander werben und buhlen. Miteinander wetteifern, sich gegenseitig hofieren, manchmal auch offen und unver­hohlen flirten. Das alles sind selbstverständliche menschliche Verhaltensweisen, sie lassen sich jeden Tag im Straßencafé, an der Ampel, in der Bibliothek und in der Disko beobachten oder sogar selbst erleben. In einem nicht gerade marginalen, nein, sogar sehr einflussreichen Bereich der Gesellschaft verursacht der Gedanke an Liebe, Sex und solche Sachen jedoch Unwohlsein: in der Politik.
Gerade dort wird aber derzeit, zumindest in Hessen, am meisten geflirtet. Jeder will irgendwie beim anderen landen. Was böse Zungen sonst Tor­schlusspanik nennen, heißt in Hessen Reg­ierungs­bil­dung. Die Grünen mit der CDU? Die Liberalen mit der SPD? Ypsilanti mit Koch? Dagmar Metzger mit Willi van Ooyen? Die Ökos mit den Yuppies? Alles ist auf einmal denkbar, jede Schamgrenze gefallen. Die Protagonisten verweisen neun­­­malklug darauf, dass die Linkspartei das Vier-Parteien-System durcheinandergewirbelt habe und man fortan in einer Fünf-Parteien-Landschaft leben werde.
Durcheinanderwirbeln ist ein gutes Stichwort. Denn in Wirklichkeit geht es in Hessen zu wie in einem Swingerclub – alle probieren es mal mit allen, und die früheren Partner schauen sich dabei gegenseitig zu. Was als emphatische Auflösung aller Bindungen beginnt, bringt diese doch wieder hervor. Am Ende kehren alle wieder in die vertraute Konstellation zurück, hatten aber ein Abenteuer in einem hoffentlich ansprechend eingerichteten Ambiente. Die Bedeutung des Interieurs, so das inzwischen zum Allgemeinplatz gewordene Wissen über solche Etablissements, kann nämlich gar nicht überschätzt werden.
Dabei blitzte doch in den vergangenen Wochen des Öfteren so etwas wie die Hoffnung auf, Hessen werde unregierbar. Und, welch’ Reiz des Paradoxen, nicht wegen eines Bürgerkrieges oder Generalstreiks, sondern weil gewählt wurde. Schon manchen Slogan konnte man reimen: »Lieber unregiert als kochregiert« oder »Wählen ist Widerstand, es gibt kein ruhiges Hessenland«. Das wäre ein großartiges Schauspiel geworden. Koch wäre von einer linken Mehrheit vorgeführt worden, während sich diese Mehrheit damit automatisch selbst vorgeführt hätte. Und so hätte sich auch die linke Mehrheit auflösen müssen, um sich nicht aufzulösen. Die Landespolitik wäre zum nie endenden Spiel der Zeichen geworden, jede Bedeutung hätte sich früher oder später ver­abschiedet. Damit unweigerlich auch Koch, Ypsilanti, Al-Wazir etc. Das wäre Anarchie gewesen! Das wäre die Erotik der Politik gewesen, die Susan Sontag für die Kunst forderte!
Diese Lust an der Anarchie verführte viele, denen man es nie zugetraut hätte. Die Autorin dieser Zeilen durfte noch vor zwei Wochen in Frankfurt am Main ohne Ticket Bus fahren, nur weil es in Strömen regnete. Stellen Sie sich das einmal bei den Berliner Verkehrsbetrieben vor!
Das alles dürfte nun aber vorerst der Vergangenheit angehören. Wenn in dieser Woche der hessische Landtag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommt, dann werden diejenigen miteinander bzw. gegeneinander stimmen, die das schon immer gemacht haben: die CDU und die FDP gegen SPD, Grüne und Linkspartei. Das Erste, was die linke Mehrheit beschließen will, ist die Abschaffung aller Studiengebühren. Finanzieren will sie dies ausgerechnet, indem sie bei der Repräsentation der Landesregierung spart. Und dazu gehört wohl auch das Interieur.