Schallplatten und Martin Luther King

»Menschen sind wie Schallplatten …

… nur gut aufgelegt kommen sie über die Runden.«

Marvin Gaye: ­Abraham, Martin & John

Anybody here seen my old friend Martin? /Can you tell me where he’s gone? / He freed a lot of people, / But it seems the good they die young. / I just looked ’round and he’s gone

Abraham Lincoln, 1865 erschossen von einem fanatischen Südstaatler, John F. Kennedy, 1963 erschossen unter Umständen, die bis heute unklar sind, MLK, 1968 erschossen, unter Umständen, die bis heute unklar sind. Drei Männer, die Geschichte geschrieben haben, wie in solchen Geschichten meistens Männer Geschichte schreiben. »Abraham, Martin & John«, 1968 ein Hit für den weißen Sänger Dion, 1970 dann für Marvin Gaye. Marvin Gaye übrigens, am 2. April 1984 erschossen, unter Umständen, die klar sind. Marvin Gayes Vater, Marvin Gaye Sr., er war ein Pfarrer wie MLK, könnte sich mit dem Lebensstil seines Sohnes nicht abfinden – zu viele Frauen, zu viel Kokain – und erschoss ihn, einen Tag nach seinem 45. Geburtstag.

Stevie Wonder: ­Signed, Sealed, ­Delivered, I’m Yours

Like a fool I went and stayed too long / Now I’m wondering if your love’s still strong / Oo baby, here I am, / signed, sealed delivered, I’m yours

Der junge Stevie Wonder in den sechziger Jahren zur Blütezeit der Hitfabrik Motown. Der Song wird gerade wieder zum Hit, denn Barack Obama hat ihn zum musikalischen Leitmotiv für seine Kampagne erkoren. Ein Song von einem, auch bei Weißen, sehr beliebten schwarzen Mann. Aber eben auch der Song von einem blinden Mann, also einem farbenblinden Mann, das passt, denn Obama steht für den Traum von einem farbenblinden, »postrassistischen« Amerika, in dem Haut­farbe keine Rolle mehr spielt.

Stevie Wonder: Happy Birthday

And we all know everything / That he stood for time will bring / For in peace our hearts will sing / Thanks to Martin Luther King

»Happy Birthday« ist ja nicht irgendein Geburtstagsliedchen. Der Song ist Martin Luther King gewidmet und war Teil der Kampagne zur Durchsetzung von Kings Geburtstag am 15. Januar als Nationalfeiertag. Indem er Wonder als Kampagnensänger wählt, knüpft Obama ein symbolisches Band zu MLK.
Heute ist der Martin Luther King Day in den USA ein Feiertag. Aber das war nicht immer so. Anfangs lehnten einige Staaten den King-Feiertag ab. Diesen Umstand thematisieren Public Ene­my in ihrem Song »By the Time I Get to Arizona«. Interessanterweise wird das Stück eröffnet von Sister Souljah, gegen die Bill Clinton in seinem ersten Präsidentschaftswahlkampf eine Kampagne entfachte, seinen ganz eigenen Krieg gegen den HipHop. Die Rapperin Sister Souljah (Soldier und Soul Jah) hatte nach den Riots von Los Angeles 1992 in einem Interview mit der Washington Post gesagt: »Die Gewalt war in Ordnung. Wenn schwarze Leute jeden Tag andere schwarze Leute töten, warum dann nicht mal eine Woche lang Weiße töten?«
Clinton machte sich das Thema zu eigen und Sister Souljah-Bashing gehörte fortan zu seinem Wahlkampf-Repertoire. Da er sich sonst als Freund der Afroamerikaner präsentierte, kam ihm Sister Souljah gerade recht, um seine Entschlossenheit gegen schwarze Übergriffe zu demonstrieren. Im US-amerikanischen Politsprech wird eine derartige rhetorische Figur seitdem »Sister Souljah Moment« genannt.

Nina Simone: Why? (The King of Love Is Dead)

But he had seen the mountaintop / And he knew he could not stop / Always living with the threat of death ahead / Folks you’d better stop and think / Everybody knows we’re on the brink / What will happen, now that the King is dead?

Nina Simone erinnert an den König der Liebe. Sie ist ja nun schon einige Jahre tot und merkwür­dig abwesend im Diskurs um afroamerikanische Musik, quasi unsichtbar, ungenannt, unbekannt, wenn es um die großen Traditionslinien afro­ame­rikanischer Musik geht, um den historischen Stammbaum der Soulmusik. Da fallen immer dieselben Frauennamen: Bessie Smith, Billie Holi­day, Aretha Franklin, aber Nina Simone? Vielleicht ist sie zu sehr im weißen Liederkanon zu Hause, bei aller Blackness? Vielleicht hat sie zu sehr genervt, genervt mit ihrem Beharren auf Frei­heit, Gleichheit, Gerechtigkeit, auf die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens. Genervt mit Songs wie diesem: »I Wish I Knew How It Would Feel To Be Free.« So viel ungeschütztes Pathos, das ist vielen zu viel.

Robert Wyatt: At Last I Am Free

At last I am free / I can hardly see in front of me / I can hardly see in front of me / I’m lonely, please listen to what I say

Mit »Free at last« den Worten aus einem »old negro spiritual« (MLK) endet die »I have a dream«-Rede. MLKs Forderung nach Freiheit wird variiert in einem zauberhaften Song von Chic. Nile Rodgers, der das Lied zusammen mit Bernard Edwards geschrieben hat, war mal Black Panther, bevor er einer der wichtigsten Musiker der Dis­co-Geschichte wurde. Eigentlich ist »At Last I Am Free« ein Liebes- bzw. Entliebungslied, aber der Subtext lässt sich lesen im Geiste des »Free at last«. Für die politische Lesart des Songs von Robert Wyatt spricht in seinem Fall, dass es sich um eine Single mit zwei Coverversionen berühm­ter schwarzer Songs handelt. Auf der Rückseite singt Wyatt »Strange Fruit«, das von Billie Holiday berühmt gemachte Lied über die Lynchmorde an Schwarzen im Süden der USA: »­Strange Fruit Hanging From the Trees«.

Talib Kweli & Cornel West: ­Bushonomics

Revolution requires participation / The government must respect the will of the people / The government serves the people / The people don’t serve the government

Cornel West beschwört eine Besinnung auf die bes­seren Werte des schwarzen Amerika: Weg vom »bling bling« zu »let freedom ring«, also weg von den Goldketten und den dicken Autos, hin zu jener Freiheit, die MLK erkämpfen wollte. »Revolution requires participation«, sagt Cornel West und beruft sich explizit auf die conscious Tradi­tion der schwarzen Musik, von den Last Poets und Gil Scott-Heron bis Grandmaster Flash. Dessen »Like A Jungle Sometimes« aus »The Message« zitiert er in diesem Song. Der Universitätsprofessor und Mediendarling gibt den Teacher und den Preacher, er droppt Knowledge, er rüttelt seine Leute auf. Auf seinem Album »Never Forget: A Journey Of Revelations« versucht er eine Zeit heraufzubeschwören, als im Soul und im Jazz noch mehr über respect, Gleichberechtigung, Freiheit und sol­che Dinge geredet wurde. Zu diesem Zweck sammelt West Vertreter des »Conscious HipHop« und des »Nu Soul« um sich. Manchmal riecht das ein bisschen nach »Black History Lesson« und nach Aufstand der Anständigen, vor allem, wenn er die Lage auf den simplen Nenner bringt: Mehr King – weniger Bling. Doch so einfach ist es leider nicht.

Brother Ali: Uncle Sam Goddam

Welcome to the United Snakes, / Land of the ­thieves, home of the slaves, / where the Dollar is sacred

Gerappt von einem blinden Albino aus Minneapolis, der sich Brother Ali nennt. Aufgrund seiner Musik wird Ali zunächst für einen Afroameri­kaner gehalten. Er selbst hat sich anfangs geweigert, über seine »Rasse« oder Hautfarbe zu reden. Schließlich hat er sich doch geäußert: »Ich bin Albino, meine Familie ist weiß, aber ich wurde großgezogen von der schwarzen Community, von ihr habe ich meine Lektionen fürs Leben gelernt.« Interessante Pointe, auch im Vergleich mit dem blinden Stevie Wonder. Ein weißer Rapper, weißer als weiß, weil Albino, dazu blind, also farbenblind, der alles, was er weiß und tut, der schwarzen Gemeinde verdankt. Mit »Uncle Sam Goddam« hat er sich unbeliebt gemacht. Er rappt über die Nation der Sklavenhändler und bescheinigt »Uncle Sam Goddam« mit Bezug auf den Irak-Krieg einen »billion dollar a week kill-brown-­people habit«. »Undisputed Truth« nennt der far­benblinde und farblose Brother Ali sein Album. Aber Undisputed Truth ist auch der Name einer Band.

Undisputed Truth: Smiling Faces Sometimes

Listen to me now, beware / Beware of that pat on the back / It just might hold you back / Smiling faces, smiling faces sometimes / They don’t tell the truth / Smiling faces, smiling faces /Tell lies and I got proof

Der Song ist entstanden nach den Morden an MLK und Malcolm X, einer von mehreren Soulsongs aus den späten Sechzigern und frühen Siebzigern, die das Motiv des Lächelns durchdeklinieren. »Smiling Faces Sometimes« ist ein Top drei Hit in den USA im Mai 1971, das heißt, es konnten sich viele Leute in dieser Warnung vor dem lächeln­den Gesicht wiederfinden, vor allem viele Schwarze. Die Erfahrung, reingelegt worden zu sein, war offenbar weit verbreitet. Wer noch nie von Undisputed Truth gehört hat: Es ist mit das Beste, das jemals auf Motown-Schallplatten erschienen ist.
»Smiling Faces« ist einer der schönsten poli­tischen Hits der Popgeschichte, das Politische kommt zur Hintertür rein, also eher im Modus der gemeinsamen sozialen Erfahrung. Implizit statt explizit. In Geheimsprache quasi, und von Geheimsprachen versteht man in Jamaika sehr viel.

Cocoa Tea: Barack Obama

This is not about class nor color, race nor creed./It’s about the changes, what the people need … / It is not Hillary Clinton, or the one John McCain, / it is not Chuck Norris, and it is not John Wayne, / it is not the one Rambo and it is not the Terminator

Cocoa Tea, jamaikanischer Roots-Crooner mit seiner Wahlkampfhilfe für Barack Obama. Unklar ist, ob Obama von dieser Wahlkampfhilfe wusste und, wenn ja, ob er sich darüber gefreut hat. Cocoa Tea ist ein alter Rastaman, also An­hän­ger einer sehr schwarzen, sehr afrozentristischen Religion, die auch in den USA viele Freunde hat, nicht nur unter den Millionen von Einwanderern aus Jamaika. Die Nähe zu einem Typen wie Cocoa Tea identifiziert Barack Obama eindeu­tig als »schwar­zen Kandidaten«, und das heißt im Umkehrschluss der schlichten Wahlkampf-Logik: Wer nur der Kandidat der Schwarzen ist, der wird nicht mehrheitsfähig. Aus diesem Grund haben ja die Clintons, vor allem Bill Clinton, versucht, Obama als schwarzen Kandidat darzustellen. Da kam Scarlett Johannson gerade recht. Blond, weiß, jung, hip und mit schlimmstenfalls schwedischem Migrationshintergrund ist sie die ideale Besetzung für den Obama-Werbeclip »Yes We Can«.

Will.I.am: Yes We Can

Yes we can to opportunity and prosperity / Yes we can heal this nation / Yes we can repair this world / Yes we can

Will.I.am, der Rapper von den Black Eyed Peas, dockt an einen afroamerikanischen Klassiker an, genauer gesagt einen New-Orleans-Klassiker: »Yes We Can Can«, geschrieben von Allen Toussaint, erstinterpretiert 1970 von Lee Dorsey und zum Hit gemacht 1973 von den Pointer Sisters. Nach dem Hurrikan Katrina wurde dieses »Yes we can can, I know we can make it, I know that we can can« umcodiert zur Trotz- und Selbstermutigungshymne des schwarzen New Orleans. Was Will.I.am natürlich weiß.
Im Video zu seinem »Yes We Can«, gedreht übrigens von Bob Dylans Sohn Jesse, tauchen prominente und nicht prominente Obama-Supporter mit ihren Testimonials auf. Dabei ergibt sich hautfarbentechnisch eine dunkle Überlegenheit, aber alles andere als eindeutige Blackness, es dominiert ein Latte-Macchiato-Beige. Will.I.am. heißt ja eigentlich einfach William, zu deutsch Wilhelm. Die Schreibweise Will.I.am. verweist auf einen berühmten Vorgänger von Barack Obama. Nicht auf MLK, nein, auf den einzigen schwarzen Präsidentschaftskandidaten, der es weiter gebracht als zum Bürgermeister. Reverend Jesse Jackson war zumindest in den Vorausscheidungen und das reicht, damit wir uns an ihn erinnern.

Pace-Setters: Push on Jesse Jackson

Jesse Jackson, push on! / Brothers if you’re black or white, / If you believe in freedom and justice, / Push on, Jesse Jackson

Jesse Jackson war in den siebziger und achtziger Jahren so etwas wie der legitime Nachfolger von MLK, wenn auch nicht unbedingt mit dessen Strahlkraft. Aber wie MLK hat auch Jesse Jackson der Welt ein geflügeltes Wort gegeben. Bei King war das: »I have a dream«. Bei Jesse Jackson ist es: »Damn right I am somebody«. »Verdammt noch mal, ich bin doch jemand« war seine Antwort auf die Nichtbeachtung von Schwarzen durch die weiße Mehrheit. Die erste Person Singular betont die Sichtbarkeit, die eigene Existenz, und ist ein wiederkehrendes Motiv in der afroamerikanischen Musik und Literatur des 20. Jahrhunderts. »I am somebody«, das hat Jesse Jackson von MLK übernommen, und das hat William von den Black Eyed Peas dazu gebracht, aus dem William einen Will.I.am zu machen.

Dieser Text ist eine redaktionell gekürzte Verschriftlichung der Sendung »King – wo sind deine Leute heute?« von Klaus Walter im Internetradio www.byte.fm. Sie läuft am Freitag, 4. April um 12 Uhr und Samstag, 5. April um 7 Uhr.