»Shine a light« von Martin Scorsese

Musik zum Sehen

Für alle, die die Rolling Stones nicht kennen, hat Martin Scorsese den Film »Shine a light« gedreht.

Rockbands sind die Vorreiter der Globalisierung: Sie werden überall hereingelassen, machen einen Haufen Umsatz und zahlen so gut wie keine Steuern. Sie definieren sich als Marke, projizieren ihre Logos in den Himmel und lassen sich überall kaufen.
Die Musik ist dabei weniger ausschlaggebend – sie ist nur eine Voraussetzung. Will sagen: Wenn man eine weltweit bekannte Rockband sein will, sollte man schon Musik machen.
Ansonsten aber gilt: Rockmusikern will man nahe sein. Deswegen gehen die meisten ins Konzert. Nicht wegen der Musik geht man dorthin, sondern wegen eines Gefühls, dem der Liebe, und wegen dessen Spiegelung, dem Protest.
Die Großmeister des konservierten Aufmupfs sind zugleich die allerallerdickste Rockband: die Rolling Stones. Wo sie hinkommen, wird ihnen die Tür aufgehalten und der Stuhl zurechtgerückt. Leute, die die Rolling Stones treffen, scheinen regelmäßig verrückt zu werden. Meist reagieren die Musiker extrem cool, wenn sie mit so etwas konfrontiert werden. Es ist anzunehmen, dass die Bandmitglieder ausgeglichene Charaktere sind.
Wo die Rolling Stones auftauchen, da sind auch ihre gealterten Fans, die kundtun, dass sie zu Hause noch eine E-Gitarre haben. Die stammt noch aus Zeiten, bevor sie dann Leiter eines Kulturfestivals oder auch Chefin einer Splitterpartei wurden. Sie fahren Harley Davidson und haben gekifft, ohne zu inhalieren. Sie haben ihren Job als Professor/EU-Abgeordnete trotz Whiskeyabhängigkeit durchgehalten. Auch sie haben, wie die Stones, überlebt – und das ist ihnen in der Tat anzurechnen.
Ob die Musikrabauken Mick Jagger und sein Gitarrist Keith Richards schon mal Kinder segnen mussten, wurde bisher nicht bekannt. Sicher aber sind welche nach ihnen benannt wor­den. Der VW-Konzern hat sogar mal einen VW Golf nach ihnen benannt, ein Auto, in dem Richards/Jagger wahrscheinlich nie fahren müssen.
Mit welcher Musik wird man für den VW-Konzern interessant? In den achtziger Jahren spielten zwar viele Schülerbands ihre Stücke nach, auch die Schülerbands, die Geld mit ihrer Arbeit verdienten. Aber ist die Musik der Rolling Stones wirklich einflussreich?
Man könnte sagen, die Rolling Stones übersetzen den Blues für ein weißes Publikum, damit dieses das nicht selbst machen muss. Blues steht für authentisches Leben, Abweichung, Widerstand. Der Blues besteht maßgeblich aus fünf Tönen, der Kick kommt davon, ab und zu mal eine Note zwischen die fünf zu hauen. Keith Richards spielt oft mit nur fünf Saiten.
Die Rolling Stones singen für eine Mittelschicht, die trotz Bausparvertrag Kontakt mit ihrer eigenen Wildheit halten will. Die Rolling Stones haben bei Woodstock gekniffen, als Kom­pensation aber haben sie die Musikrichtung Stadionrock erfunden – ein Kompromiss­ange­bot für Leute, die sich in Konzerten nicht wohlfühlen.
Daneben aber geben sie auch immer wieder »kleine« Konzerte, Insider-Gigs vor einigen hun­dert Zuhörern – oder besser Zuschauern. Sie wollen ihren Status als Musiker schließlich nicht verlieren. Kurz: Die Rolling Stones sind ein ganz großes Künstlerkollektiv für die ganz große Men­ge. Sie sind: für alle. Aber damit sich jeder in ihnen wiederfinden kann, müssen sie schon mal ganz exklusiv wirken.
Einen ganz exklusiven Club von Stones-Fans hat der Regisseur Martin Scorsese ausgemacht, als er einen Musikfilm mit den Rolling Stones machen wollte. Dieses Werk mit dem Titel »Shine a light« eröffnete die diesjährige Berlinale und kommt nun ins Kino.
Dafür spielten die Rolling Stones an zwei Tagen im New Yorker Beacon Theatre für irgend­ein Charity-Gedöns und ganz nebenbei dem nichtinhalierenden Kiffer Bill Clinton zum 60. Geburts­tag.
Scorsese sei immer schon Fan der Rolling Stones gewesen, heißt es. Doch es drängt sich der Verdacht auf, dass er ein ausgemachter Stones-Hasser ist: Wähnt man sich zu Beginn noch in einem Dokumentarfilm mit witzigen Einsprengseln wie Fernsehinterviews in Japan oder Korea – Moderatorin: »Hahahaha, hihi«, Jagger: »Was ist denn so komisch?«, Moderatorin: »Na, Sie haben gesagt, Sie sind 29. Und ich, hihi, bin auch 29!« – und Verhaftungen, sieht man alsbald den gestressten Kinogroßmeister Scorsese, wie er noch mehr Stress kriegt, weil er nicht weiß, wie er die 20 Kameras über der Bühne aufhängen soll und sich darüber aufregt, dass Mick Jagger ihm die Playlist für das Konzert nicht gibt. Jagger selbst sagt: »Dann spielen wir das hier und das noch, das mögen die Leute immer.«
Beim Anbringen der Kameras gibt Keith Richards – da blitzt die ursprüngliche Experimentierfreude durch – den einzigen vernünf­tigen Kommentar ab, der aber seltsamerweise ungehört bleibt. Er schlägt vor, eine Linse in der Bass Drum von Schlagzeuger Charlie Watts zu installieren – »denn ich bin sonst der Ein­zige, der diese Scheiße sieht«.
Wie alle, die mit den Musikern in Kontakt treten, verwandelt sich auch Scorsese in Wurst – was zum Teufel würde sich denn ändern, wenn er wüsste, welche Lieder sie spielen?
Scheußliche Musik wird nicht besser, wenn man sie sieht. Scorsese kennt keine Gnade, das zeichnet alle seine Filme aus. Das Schlimme ist auf keinen Fall, dass alte Leute hier Musik machen, im Gegenteil: Alte Leute machen ganz toll Musik, sie machen ja schon sehr lange Musik. Aber diese hier haben gar kein Vergnügen an der Musik, sonst würden sie mehr damit anstellen. Die Rolling Stones sind ihre eigene Cover-Band, sie entwickeln sich nicht. Das zentrale Moment der Musik, das Spiel, das findet bei ihnen nicht statt.
Die Bildregie haut in diese Kerbe. Der Großteil des Films besteht aus dem Gesicht Mick Jaggers, aus dem fortwährend schlimme Töne röhren. Es gibt Bläsersätze und einen Backgroundsänger, die genau dann einsetzen, wenn man damit rech­net. Hier ist alles vorhersehbar, diese Musik kennt keine Überraschung. Und auch keine Improvisation, die den Blues zu gewissen Teilen ausmacht. Hier ist alles auf Linie gebracht.
Damit das jeder versteht, holen sie sich Gastmusiker auf die Bühne. Am gravierendsten ist der Auftritt des Gitarristen Buddy Guy, um ei­niges älter als ein Durchschnitts-Rolling-Stone. Der Mensch spielt wenig mehr als zwei Töne, holt einen viel besseren Sound aus seinem Verstärker und singt, als gelte es, die Stones von der Bühne zu vertreiben. Dass sich auch die Stones darüber hinaus zur Wurst machen können, beweist Keith Richards: Er schenkt Guy seine Gitarre – »Die gehört jetzt dir.« – Was soll er nur damit?
Mick Jagger gilt als fitter Turnschuh der Branche, weil er so viel rumjoggt auf der Bühne. Musik sollte man allerdings nicht mit Se­niorentraining verwechseln. Ich glaube, der Stones-Musik mangelt es trotzdem an Energie und Seele. Dieses Defizit deckt Guy – und später auch Gastmusiker James White von den White Stripes – schonungslos auf.
Das ist nicht erst seit heute so. Wenn man sich Aufzeichnungen alter Clip-Shows aus den sechziger Jahren ansieht, hat man folgendes Setting: Zuerst spielen die Rolling Stones und dann zum Beispiel Sly and the Family Stone. Man wunderte sich über den Auftritt der Stones und wusste nicht ganz, warum. Nachdem man Sly gesehen hatte, wusste man, was den Stones fehlt: Energie und Seele. Als Untote geistern sie monolithisch durch die Musikgeschichte. Rockmusik hätte, man ahnt es, ohne die Stones etwas ganz anderes werden können.

»Shine a light« (USA 2007). Regie: Martin Scorsese. Kinostart: 4. April