Martin Luther Kings Traum

Träum weiter, Baby!

Martin Luther King Jr. träumte nicht nur davon, dass die Schwarzen weiße Restaurants besuchen können, sondern auch davon, dass sie es sich leisten können, dort essen zu gehen. Vor vierzig Jahren wurde der Bürgerrechtler ermordet.

Amerika sei »der größte Verbreiter von Gewalt auf der Welt«, »verrückt geworden« über einen Krieg, »der ein Feind der Armen ist« und »die Seele Amerikas total vergiftet«. Dieser Krieg, in dem »wir unsere neuesten Waffen an der Bevölkerung testen wie die Deutschen neue Medikamen­te und neue Foltermethoden in den Konzentra­tionslagern Europas getestet haben«, werde geführt mit »der tödlichen Arroganz des Westens« und sei »nur ein Symptom für eine viel schwerere Krankheit des amerikanischen Geistes«, der sich dem »spirituellen Tod nähert«.
Diese Worte klingen zwar, als ob sie aus der »God-damn-America«-Rede von Reverend Jeremiah Wright, Barack Obamas Pastor aus Chicago, stammen. Doch diese Verdammung amerikanischer Politik ist einer Predigt des Jahres 1967 von Martin Luther King Jr. entnommen, an dessen Geburtstag, den 15. Januar 1929, seit 1983 jährlich mit einem nationalen Feiertag in den USA erinnert wird.

Martin Luther King Jr. wurde am 4. April 1968 von James Earl Ray auf dem Balkon eines Motels in Memphis, Tennessee, mit einem Gewehrschuss in den Kopf ermordet. Als Reaktion darauf brachen in etwa 100 Städten der USA Unruhen aus, bei denen 40 Leute starben. Eine weitere Folge war, dass die Stadtverwaltung von Memphis, die sich zuvor in schweren, auch gewalttätigen Aus­einandersetzungen unnachgiebig gezeigt hatte, nun den Forderungen der Gewerkschaft der öffentlichen Angestellten, zu deren Unterstützung King nach Memphis gekommen war, auf ganzer Linie nachkam.
Dass der Baptistenprediger King auch 40 Jahre nach seinem Tod in den USA noch eine große Bedeutung hat, zeigt sich nicht zuletzt an Barack Obamas Versuch, Präsident der USA zu werden. Nicht zufällig ist Obama am Tag nach dem na­tionalen Feiertag für King im Januar 2007 in den Wahlkampf eingestiegen. Und Anfang 2008 war Obama in der Ebenezer Baptist Church in Atlanta, Georgia, an der King Pastor war, der Festredner zur Erinnerung an den Bürgerrechtler.
Auch Amtsinhaber George W. Bush bemüht sich, mit King in Verbindung gebracht zu werden. Er nahm sowohl an der Grundsteinlegung des King-Denkmals an der National Mall in Wa­shington teil als auch an der Beerdigung der Witwe Kings, Coretta Scott-King, 2006. Diese Auftritte von Bush waren immer von Protesten derjenigen begleitet, die eine solche Aneignung des Vermächtnisses von King als Sakrileg empfinden: Linke, Liberale, Sozialisten, Kommunisten. Ob schwarz oder weiß, sie alle streiten mit ihrer eigenen Auslegung um das politische Erbe des Mannes, der zur Ikone für die Civil-Rights-Bewegung geworden ist, und sind sich dabei aber ­einig in einem mit dem ehemaligen FBI-Chef Edgar J. Hoover einig, King habe kommunistische Subver­sions­absichten gehabt.
Näher an der Wahrheit ist man wohl, wenn man King als eine Art bewussten Katalysator für eine Entwicklung betrachtet, die der amerika­nische Soziologe Gunnar Myrdal schon 1944 im Umgang mit Rassismus im amerikanischen Süden beobachtet hatte: »Sehr viele Amerikaner aus dem Norden, wahrscheinlich die Mehrheit, werden schockiert und in ihrem Gewissen erschüttert sein, wenn sie die Tatsachen erfahren.« Deshalb »ist es von höchster strategischer Wichtigkeit für die Schwarzen, Publicity zu bekommen«.
Diesem Ratschlag folgte King seit seinem ersten nationalen Auftritt beim Montgomery-Bus-Boykott 1954/55. Als Rosa Parks, inspiriert von der Entscheidung des Supreme Courts gegen diskriminierende Segregation an Schulen, sich im Dezember 1954 weigerte, ihren im für Weiße vorgesehenen Teil des Busses eingenommenen Platz zu verlassen, ergriffen King und einige Mitstreiter die Gelegenheit, dies zu einem amerikanischen Grundsatzthema zu machen. Sie organisierten einen fast ein Jahr lang dauernden Boykott des lokalen Bussystems, mit dem Resultat, dass die Segregation in den öffentlichen Verkehrs­mitteln aufgehoben wurde.

Davon angespornt gründete King 1957 die Southern Christian Leadership Conference und versuch­te, Leute zu ermutigen, die nach dem Vorbild von Rosa Parks durch direkte Aktion gegen die Segregationsgesetze im Süden der USA protestierten. Diese organisierte Selbsthilfe der schwar­zen Bevölkerung im Mississippi-Delta rief nicht nur unmittelbar den Zorn der Weißen hervor, son­dern beunruhigte auch die bis dahin wichtigste Interessenvertretung der Schwarzen, die National Association for the Advancement for Coloured People, die auf rein juristischem Wege die Desegregation herbeiführen wollte.
So wurde Kings Strategie sowohl von Weißen als auch von Schwarzen anfangs als Provokation und Aggression wahrgenommen. King wurde zwar durch sein Eintreten für gewaltfreien Wider­stand inklusive Feindesliebe bekannt und bekam dafür auch 1964 den Friedensnobelpreis. Doch auch wenn King es mit dem Prinzip radikaler Gewaltlosigkeit ernst gemeint haben sollte, war der Erfolg seines Vorgehens immer mit der Drohung von Gewalt und immer wieder auch mit deren Anwendung verknüpft.
Zum einen entstand der Druck auf die USA, den rechtlich institutionalisierten Rassismus im Süden des Landes abzuschaffen, nicht nur durch King und seine Anhänger, sondern auch durch die Praxis zahlreicher anderer Gruppen, die zur bewaffneten Selbstverteidigung übergingen. Zum anderen bestand Kings Taktik objektiv darin, durch gewaltloses Insistieren auf schwarzen Bür­gerrechten die weißen Rassisten im Süden zur Gewalt zu treiben, mit der Folge – the revolution will be televised –, dass diese Szenen landesweit in die Medien kamen, bis den Bundesbehörden keine andere Wahl mehr blieb, als mit den Truppen der National Guard gegen den weißen Mob vorzugehen.

Diese Methode erwies sich für die beinahe archa­ischen und vormodernen Zustände im Süden als perfekt geeignet. Die von King und anderen ausgelöste Bewegung der schwarzen Amerikaner häng­te den Baptistenprediger allerdings bald ab: »Martin Luther King hat im Norden nicht die geringste Autorität. Er hat das Ende der Fahnenstange erreicht«, erklärte der schwarze Schriftsteller James Baldwin schon 1962. So war das Student Nonviolent Coordination Committee (SNCC), das sich 1961 im Anschluss an die schnell Schule machenden Sit-ins gegründet hatte, King bald schon nur noch durch die Gewaltlosigkeit im Namen verbunden. Sonst teilte es weder seine Bereitschaft zur Kooperation mit den Liberalen noch sein Ideal der bürgerlichen Integration und schon bald auch nicht mehr die Idee des friedlichen Protests. Stattdessen setzte das SNCC auf Militanz und offene Konfrontation, griff nicht mehr die rechtliche, sondern die soziale und öko­nomische Verfasstheit der USA an und entwickel­te einen immer stärker ausgeprägten revolutionären Gestus.
Statt »Freedom now!« lautete der Slogan nun »Black Power«, wie die Black Panther riefen. Stoke­ley Carmichael, einer ihrer Aktivisten und später Mitglied der Black Panther Party of Self-Defense, drückte das Verhältnis zu King 1966 so aus: »Ich sehe Dr. King jeden Tag im Fernsehen und sage dann zu mir: ›Das ist mal ein Mann, den dieses Land unbedingt braucht. Das ist ein Mann voller Liebe. Aber jedes Mal, wenn ich Lyndon B. Johnson im Fernsehen sehe, sage ich mir: ›Martin, Baby, du hast noch einen langen Weg vor dir.‹«
Zu dieser Entwicklung, die ab 1965 in heftigen Ausschreitungen in Watts (Los Angeles) und anderen schwarzen Ghettos kulminierte, gehörte auch der große Zulauf, den die Nation of Islam zwischen 1955 und 1965 verzeichnete: »Die einzige Grassroots-Bewegung in den USA«, wie Baldwin anerkennend den Aufstieg der Organisation von Elijah Muhammad und seinem Adlatus Malcolm X kommentierte. Mit einem apokalyptischen, anti-weißen und von Antisemitismus durchsetzten Weltbild agitierten sie gegen Martin Luther King, den »modernen Uncle Tom, der von den Weißen bezahlt wird«, wie Malcolm X erklärte.

King trug dieser Entwicklung hin zu Radikalismus und Militanz verbal und inhaltlich Rechnung. 1965 ermahnte er die Bürgerrechtsbewegung, Na­poleon zitierend: »Um gute Soldaten zu haben, muss eine Nation sich permanent im Krieg befin­den.« Entsprechend verschärfte er im Laufe der sechziger Jahre seine Positionen. Er bezog sich positiv auf die antikolonialen Bewegungen in Afrika und Asien, spitzte seinen Protest gegen den Vietnam-Krieg immer mehr zu und rief aus: »Wir befinden uns in revolutionären Zeiten!« Vor allen Dingen versuchte er aber, die Phase der Bürger­rechtsbewegung zu überwinden, indem er das schwarze und weiße Proletariat für eine Umwälzung der ökonomischen Verhältnisse in den USA begeistern wollte, die zwar das »preferential treat­­­ment« für Schwarze, den Vorläufer der »affirmative action«, nicht ausschloß, aber es dennoch nur als Teilelement einer grundsätzlichen Ver­änderung ansah: »Ein Gebäude, das Bettler hervorbringt, muß umgebaut werden.« Schon der Marsch auf Washington 1963, der heute nur noch wegen Kings Rede (»I have a dream«) in Erinnerung ist, trug den Namen »March for Jobs and Freedom«. Und auch Kings letzte Ak­tion, die Poor People’s Campaign, zielte auf die soziale und ökonomische Struktur der USA ab. Allerdings lief die Kampagne nur zäh an und wurde durch die Kugel von James Earl Ray jäh unterbrochen.
Es scheint eher dieser späte, anfangs zitierte Martin Luther King Jr. zu sein, an den Barack ­Obama zumindest in seiner Philadelphia-Rede anknüpfen will. Er will nicht nur »den langen Marsch derer, die vor uns kamen«, fortsetzen, son­dern appelliert mit seinen Versuchen, den Rassismus zu rationalisieren, an ein hautfarbenüber­greifendes Spektrum, das er zum Protest gegen den Krieg im Irak und gegen »die wahren Schuldigen« aufrufen will, gegen eine von Gier bestimm­te »corporate culture«, gegen Lobbyisten und gegen »Unternehmen, für die du arbeitest und die dann ins Ausland gehen – nur aus dem Grund, Profit zu machen«.