Alles auf Rot
Grün, Gelb, Rot, quietschende Reifen. In Mexiko-Stadt bremst man spät. Erst recht an Ampeln, vor denen es doch stets noch ein, zwei Plätze gutzumachen gilt. Gelassenheit oder Höflichkeit sucht man hier vergeblich. Einmal die Pole-Position zu erobern, sich um sechs Uhr abends ein kurzes Hochgefühl im Endlosstau zu verschaffen – dafür drängt man hier ohne Reue Radfahrer und Pizzamopeds auf den Gehweg. Und auch Fußgänger mit guten Reflexen setzen jeden Schritt mit Bedacht, warten lieber bis die Autofahrer bei Rot vollends in den Sekundenschlaf fallen. Denn statistisch betrachtet sterben in Mexiko nirgends so viele Menschen wie im Straßenverkehr. Kein Wunder. Den Führerschein kauft man für 35 Euro an der Supermarktkasse.
An den Kreuzungen der Metropole seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist deshalb fast schon ein Stuntjob. Doch an den Ampeln der Hauptstadt können Jongleure und Artisten, die sich vom Smog und der Polizei nicht abschrecken lassen, etwas verdienen. Auch für Migranten ohne Papiere, wie den 30jährigen Ecuadorianer Germán, ist das oft die einzige beständige Einkommensquelle. Dreimal in der Woche trifft man ihn in der Frühe an der Kreuzung nahe der S-Bahn-Station La Noria im Süden von Mexiko. »Ein guter Job, nur die Geschwindigkeit hier schafft mich. In der ecuadorianischen Hauptstadt Quito geht es doch etwas gemächlicher zu«, keucht Germán in einer Verschnaufpause. Dann springt die Ampel wieder auf Gelb – Showtime.
Die ersten drei Reihen Autos, die zum Stehen kommen, sind ausschließlich PKW, in einigen sitzen sogar Kinder – das dankbarste Publikum im Drive-Trough-Zirkus. Jetzt heißt es schnell sein. Germán schnallt sich das Akkordeon um, schwingt sich auf sein Einrad, wippt sich in Balance und schlängelt sich behende zwischen Rückspiegeln und Antennen hindurch. Seine Zirkusmusik verhallt schnell zwischen den laufenden Motoren, weshalb jedes Fenster einzeln abgefahren werden muss. Zeit für Verbeugungen gibt es keine. Es gilt, den Pappbecher mit Münzen füllen zu lassen, während die ersten Wagen schon wieder losrollen und Germán sich im Windschatten eines Kleinbusses geschickt auf eine Verkehrsinsel rettet. Ta-Taa!
Akkordeonspielen auf dem Einrad, das ist gut, das ist exotisch und entlockt dem sonst knauserigen Publikum ein paar Pesos mehr als üblich. »Ich brauche selten länger als einen Vormittag, um Geld für mein Zimmer und sonstige Lebensmittel zusammenzukriegen«, erzählt Germán, seinen Kram zusammenschnürend, »so bleibt mir täglich Zeit, mit ein paar Freunden für ein Varieté-Programm zu proben«. Heute holt ihn sein Kumpel Rafa mit einem Kleinbus ab, der schon halb voll mit weiteren Zirkusutensilien ist und gerade noch Platz genug für zwei Passagiere hat. »Vorsicht mit den Keulen und sachte mit dem Zauberkoffer«, herrscht uns der große Mann am Steuer an.
Rafa präsentiert sich als weltgewandter Produzent, der den Ampeljob an den Nagel gehängt hat, »um jetzt Qualitätszirkus zu machen, mit eigenem Zelt und eigener Kompanie«. Mit ein paar Jobs als Akrobatentrainer beim Fernsehen hat er letztes Jahr unverhofft Geld verdient und in einen Fuhrpark investiert, mit dem er jetzt sein Leben bestreitet. »Trotzdem zieht es mich immer wieder zur Ampel«, sagt Rafa. »Das ist auch eine Art öffentlicher Testlauf, ob Nummern funktionieren. Spektakel für 30 bis 40 Sekunden zu erfinden, ist nicht einfach.«
Auf der vierspurigen Division de Norte ist heute ein jugendlicher Fakir zu sehen. Vor unserer Kühlerhaube kippt er zerbrochene Glasflaschen auf den Asphalt und schlägt anschließend ein paar Purzelbäume in die Scherben. Dann rollt er sein Bündel zusammen, zieht mit leerem Blick durch die Reihen. Der Fahrer im Wagen neben uns kurbelt das Fenster nach oben. Germán spendiert eine Mango. »Willkommen im Zirkus der Tränen«, sagt Rafa.
Der »Zirkus der Tränen« ist eine eigene Kompanie, mit der Rafa und Germán nie auf Tour waren. Denn Schauspielstudenten, Rucksackjongleure, Hippies und Mittelklasserebellen sucht man hier vergebens. »Fakire, menschliche Pyramiden, Mütter mit Baby auf dem Arm, die mit zwei Orangen in einer Hand jonglieren – das ist das Programm der Armen.« Rafa nickt dem Jungen mit den Glasscherben hinterher: »Das ist der Teil der Straßenkünstler, der nie Unterricht genommen hat, der hier eine Show aus reiner Notwendigkeit improvisiert. Denen gibt niemand Geld für Salti Mortali, sondern aus purem Mitleid.«
Doch so groß der soziale Voyeurismus auch sein mag, die Spenden für allein erziehende Jongleurinnen an der Ampel fallen gering aus und sind meist noch von vorwurfsvollen Blicken begleitet. Arme Straßenkünstler sind gesellschaftlich geächtet. Sie gelten als faul, ungebildet und gefährlich. »Wie will man auch durch ein hoch geschlossenes Fenster unterscheiden lernen?«, fragt Rafa, als wir an der nächsten Ampel aussteigen. »Klar gibt es an den Kreuzungen auch Missbrauch und Ausbeutung, Kinder, die unter dem strengen Blick eines Aufpassers bis zum Schwindligwerden Rad schlagen müssen. Aber wer weiß schon, wie viele das sind?«
Die jungen Scheibenputzer Jorge und Juan würden jedenfalls lieber jonglieren als jeden Samstag auf der Avenida Universidad Frontscheiben zu ledern, erzählen sie, während hinter ihnen unablässig Familienkutschen aus einem Einkaufszentrum fahren. Jedes Wochenende fahren die beiden Jungs mit insgesamt sechs Kindern aus ihrem Barrio in Iztapalapa über eine Stunde zur Ampelkreuzung. Ihre Hemden sind über den Bäuchen schwarz gefärbt, denn um die Autofenster vollständig sauber zu bekommen, müssen sie jedes Mal auf die Reifen klettern und ihren Körper gegen die heißen Karossen drücken, und das sechs Stunden lang.
Noch dazu zeigen sich viele Autofahrer genervt, hupen oder schreien, wenn die Kinder ungefragt die Autofenster einseifen. »Man bekommt immer weniger Geld von den Autofahrern«, schimpft Jorge. »Die Konkurrenz ist groß. Immer mehr Kinder stehen an den Ampeln. Ich habe eigentlich keine Lust, das weiter zu machen.«
Um spätestens sieben Uhr abends machen sich die Kleinen auf den Rückweg, denn mit der Dunkelheit wächst das Misstrauen der ohnehin permanent hysterischen Autofahrer in Mexiko-Stadt. Und damit sich niemand fürchten muss, werden Jongleure, Scheibenputzer und Straßenverkäufer auf den Boulevards immer wieder von der Polizei vertrieben.
Besonders gern gesehen waren die Straßenkünstler in Mexiko zu keiner Zeit. Der Zirkus unter freiem Himmel hat hier eine lange Geschichte, die von Duldung und Vertreibung gekennzeichnet ist. Bereits seit 1623 steht deshalb die Jungfrau von San Juan de los Lagos den mexikanischen Gauklern als exklusive Schutzheilige bei. Damals fanden die Schausteller vor allem bei den Minen, als Vorprogramm bei Stierkämpfen oder auf Marktplätzen und Jahrmärkten ein Publikum. Diese Art populärer Zirkus fand nie seinen Weg in die großen Manegen, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Mexiko auf Tournee gehen. Vielmehr suchten die Straßenkünstler in den städtischen Zentren nach neuen Auftrittsorten: Bahnhöfe, Metrostationen, Parkanlagen.
Wann der erste Clown oder Jongleur den Zigaretten- und Kaugummiverkäufern an die Straßenampel folgte, ist nicht belegt. Außer Frage steht jedoch, dass die Zahl der Straßenkünstler mit der mexikanischen Wirtschaftskrise Mitte der achtziger Jahre schnell anstieg. Bis heute sind informelle Jobs wie die Ampelakrobatik ökonomische Überlebensstrategien, die oftmals mehr abwerfen als feste oder Gelegenheitsanstellungen unter Mindestlohnniveau.
Es ist bereits dunkel geworden, aber auf der Sonara-Straße, Ecke Insurgentes, drängt sich eine wartende Autoschlange ins versnobte Ausgehviertel Condesa. »Mach, dass du wegkommst, oder ich überroll dich morgen«, schreit eine dickhalsiger Mann aus einem schwarzen Hummer, der in der Gegenrichtung unterwegs ist. Auf dem begrünten Mittelstreifen taucht ein blasser Clown in Nietenjacke auf, schickt dem Jeep zwei Mittelfinger hinterher. »Verschwinde! Und ihr beide mit der Kamera, was guckt ihr denn so?« Bühne frei für Oscar.
Als selbsternannter Anarchist hat es der 63-jährige auf Clown geschminkte Punkopa nicht leicht mit seinen Jongliernummern. Seinen Job an der Straßenecke beschreibt Oscar auf recht pragmatische Weise: »Ich lebe von der Ampel, kaufe Kleidung, esse. Ich bin von niemandem abhängig.« Von der Magie des Zirkus und von strahlenden Kinderaugen hinter den Fensterscheiben will er nichts wissen. Oscar lebte den Großteil seines Lebens auf der Straße, arbeitete als Handlanger auf dem Bau, als Putzmann bei der Metro – für ein eigenes Zimmer reichte es trotzdem nie. Erst als er sich vor zwei Jahren in einem verlassenen Hotel vor einem Spiegel das Jonglieren beibrachte, tat sich eine Einkommensquelle auf, die meistens für Miete und Essen reicht. »Schon komisch«, schnauzt Oscar, »an meinem letzten Schultag verkleidete ich mich als Clown, und jetzt, mit über 60, arbeite ich als einer.«
Fast zehn Uhr nachts. Unter dem in Mexiko-Stadt nie zu sehenden Sternenhimmel arbeiten nur noch die hungrigsten Artisten oder jene, die am meisten Ausdauer haben. Dazu gehören die nächtlichen Spezialisten wie Sol-Rah und sein Neffe El Vaquero, der Cowboy. Einst Strafverteidiger in Diensten des mexikanischen Militärs, bestreitet Sol-Rah inzwischen seit zehn Jahren sein Leben lieber als Feuerjongleur an der Kreuzung Viaducto, Ecke Monterrey.
»Ich ging zum Militär, weil ich dachte, das ist ein fester Job mit festem Einkommen, aber auf Dauer ist es mit den Uniformierten nicht auszuhalten«, sagt Sol-Rah und taucht seine Jonglierkeulen in eine Benzinmischung. Der schlaksige Vaquero nickt seinem Onkel begeistert zu. »Als Jongleur lebt man besser als ein Fabrikarbeiter. Der kriegt den Mindestlohn. Hier schwankt es ein bisschen, aber dafür ist es zehnmal angenehmer als am Fließband.« Dann zünden beide ihre Jonglierkeulen an, sorgen für ein bisschen fliegendes Feuer auf der Kreuzung. Ein verängstigter Fahrer in der ersten Reihe legt den Rückwärtsgang ein, erst die nervöse Hupe eines Taxis bringt ihn zum Stehen.
Alle paar Monate entdeckt ein Kamerateam die Feuerjongleure für irgendeine Magazinsendung. Oder der Chef einer Diskothek bucht sie für eine Party. Ein wenig zusätzliches Geld, das den Traum, eine eigene kleine Firma zu haben, wahrmachen soll. »Wenn Zeit bleibt und wir gerade genug Geld haben, ziehen wir auch an anderen Ampeln herum und klären andere Straßenartisten über ihre Rechte auf«, erzählt der ehemalige Jurist Sol-Rah. Denn eigentlich gewährt ein »Gesetz des zivilen Zusammenlebens« den Ampelkünstlern ein ungehindertes Arbeiten, solange sie keine Fußgänger oder Autofahrer bei ihrer »Zirkulation« behindern. »Doch kaum ein Straßenkünstler kennt es und kaum einen Ordnungshüter interessiert es«, lacht Sol-Rah.
Feierabend, Vaquero versteckt noch schnell die Arbeitsgeräte unter einer nahen Brücke. Morgen ist Sonntag, da sind die beiden nicht an der Ampel, denn ein Familienvater hat sie für einen Kindergeburtstag angeheuert. Auf dem Weg zur U-Bahn drehen sie sich noch einmal zu ihrer Kreuzung um. »Eine gute Ampel, so gut wie nie Stress mit der Polizei, und nie hatten wir Unfälle mit denen, die es eilig haben«, sagt Sol-Rah versöhnlich. »Außerdem haben selbst aggressive Typen Angst vor dem Feuer«, meint Vaquero im Parque Cuathemoc. »Uns Feuerkünstlern könnte wohl höchstens ein Gaswagen mit einem Leck gefährlich werden. Aber so einer ist uns bisher noch nicht begegnet.« Vorhang.