Brasiliens städtische Besetzerbewegung

Wohnen ist nicht genug

In Brasilien besetzen Mitglieder der Bewegung obdachloser Arbeiter Häuser und ungenutzte Flächen. Den Besetzern geht es nicht allein um die Aneignung von Wohnraum.

Der »rote April« hat eine längere Tradition in Brasilien. In Erinnerung an einen Polizeieinsatz gegen Landlose im April 1996 in Eldorado do Carajás, bei dem 19 Menschen getötet wurden, beginnen die sozialen Bewegungen in diesem Monat ihre Kampagnen. Nicht nur auf dem Land. Bereits am 28. März wurden mehrere ungenutzte Flächen in brasilianischen Städten besetzt.
Eines der Zentren dieser Bewegungen ist der Bundesstaat São Paulo mit der Metropolenregion um die Stadt, in der 20 Millionen Menschen leben, 2,5 Millionen von ihnen in Favelas und anderen prekären Behausungen. Allein im Großraum São Paulo kam es zu drei Besetzungen von seit Jahren leer stehenden Flächen durch die Massenbewegung Movimento dos Trabalhadores Sem Teto (MTST). Mitglieder der »Bewegung der obdachlosen Arbeiter« errichteten über Nacht in Embu, Mauá und Campinas Zeltstädte mit Gemeinschaftsküchen und provisorischen Sanitäreinrichtungen. In diesen Behausungen haben etwa 1200 Familien erstmals provisorischen Wohnraum gefunden.
Der MTST hat sich aus der brasilianischen Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) entwickelt, als diese sich 1996 unter dem Präsidenten Fernando Henrique Cardoso staatlichen Repressionen ausgesetzt sah, die Leben und Arbeit der Mitglieder bedrohten. Die stetig wachsenden urbanen Ansiedlungen in den Metropolenregionen von Rio de Janeiro und São Paulo wurden zum erweiterten Aktionsfeld der Bewegung. So kam es 1997 zur Gründung des MTST, der die Erfahrungen aus den Kämpfen in den ländlichen Regionen in die Städte brachte, die basisdemokratischen Formen der Organisierung in »Nucleos« sowie Formen der symbolischen Politik, wie die medienwirksame Organisation von Sternmärschen und kollektiven Protestcamps vor Regierungssitzen und Kirchen. Oft werden solche Proteste von direkten Besetzungen ungenutzter Flächen und brachliegenden Landes begleitet.

Seit seiner ersten Besetzung in Campinas 1997, dem »Parque Oziel«, benannt nach dem in Carajás ermordeten jugendlichen Aktivisten Oziel da Silva, fordert der MTST Wohnraum, sozialen Wohnungsbau und eine Infrastruktur für die städtischen Armen. Es gelang ihm, in Campinas mehr als 3 000 Familien, hauptsächlich arme Bauern und Zuwanderer aus dem Nordosten, dauerhaft anzusiedeln. Den Menschen dort gelang es, eine funktionierende Infrastruktur mit Strom, Wasser, Straßen und Busanbindung zu errichten, von der heute alle rund 30 000 Bewohner profitieren.
Nach dem Erfolg von Campinas begann der MTST, sich im Großraum São Paulo zu engagieren und dort größere Besetzungen zu initiieren. Besonderen Ruhm erlangte die Besetzung »Santo Dias« in São Bernardo do Campo im Jahr 2003, bei der Angehörige des MTST mit 4 000 Familien ein Gelände des Volkswagen-Konzerns besetzten. Das Gelände wurde jedoch gewaltsam geräumt, obwohl es weit über die Grenzen Brasiliens hinaus Proteste und Solidaritätskundgebungen gab. Trotz solcher Rückschläge gelang es dem MTST, auch in Rio de Janeiro und im Nordosten des Landes Fuß zu fassen.
Bei der Besetzung »Joao Candido« in Itapecerica da Serra 2007 im Südosten São Paulos wurden über Nacht hunderte von Zelten, Gemeinschaftsküchen und behelfsmäßige Sanitäranlagen auf einem Gelände errichtet, das für einen Golfplatz vorgesehen war. Die Anlage befand sich seit 15 Jahren im Planungsstadium. Die Nachricht von dieser Besetzung zirkulierte schnell unter den etwa 10 000 Wohnungslosen in São Paulo, und aus einer kleinen Besetzung wurde in Kürze eine Ansammlung von mehreren Tausend Menschen. Das rief eine besonders starke gesellschaftliche Solidarisierung hervor, dennoch ordneten die verantwortlichen Politiker die Räumung an. Allerdings verpflichtete sich die Gemeinde zum Bau von Sozialwohnungen für die Besetzer. Den bedürftigsten 350 Familien, die sonst keine Bleibe finden konnten, wurde ein neues Gelände zugewiesen, auf dem das Projekt »Joao Candido« weitergeführt wird.
Auch in Rio de Janeiro kam es im November 2007 wieder zu einer Besetzung eines Häuserkomplexes durch Angehörige des MTST. In dieser Stadt übersteigt die Zahl der leer stehenden sogar die der benötigten Wohnungen. In São Paulo dagegen orientiert sich die Bewegung eher auf Besetzungen in der Peripherie.

Gerade aufgrund der Erfolge entstanden verschiedene Probleme. Viele Anführer von sozialen Bewegungen erlagen der Anziehungskraft der sozialdemokratischen Regierung Luiz Inácio Lula da Silvas. Dies drohte auch dem MTST, dessen Mitglieder bei Wahlen nicht als Kandidaten für politische Ämter antreten. Um der Gefahr einer Entpolitisierung entgegenzuwirken, die nach der erfolgreichen Aneignung von Wohnraum einsetzen könnte, suchte der MTST den Anschluss an andere soziale Bewegungen und thematisierte auch Prekarität, kulturelle Exklusion, ungleiche Verteilung, Rassismus, Bildung und den Kampf um soziale Rechte.
Der Fokus liegt weiterhin auf der Aneignung des städtischen Raumes, doch geht es nicht allein um Wohnraum, Stromversorgung und Verkehrsanbindung. Mit dem Zusammenschluss von peripheren Gemeinden und der direkten Zusammenarbeit mit kommunalen Vereinigungen wie Anwohnergruppen und lokalen Kultureinrichtungen wird eine Politisierung der Peripherie, die »Periferia Ativa«, angestrebt. Viele Menschen haben die Erfahrung des individuellen Überlebenskampfes auf den Staßen der Metropole gemacht, über den sie nun, häufig zum ersten Mal in ihrem Leben, in organisierten Zentren mit anderen sprechen können. In den Nucleos können sich lokale Basisgruppen organisieren. Frauen stellen die Mehrheit der Bewegung dar und besetzen auf allen Ebenen wichtige Positionen.
Neben den Nucleos, die bestimmte Vorhaben planen und gestalten, gibt es Gruppen, die sich mit speziellen Gebieten wie Bildung, Kultur, Kommunikation und Information befassen. Zur Infrastruktur sollen auch Kultureinrichtungen für die Menschen gehören, die von jeglichen kulturellen Veranstaltungen der Metropole ausgeschlossen sind.
Am 28. März haben mehrere Obdachlosenbewegungen in neun Bundesstaaten Brasiliens erstmals ihre Forderungen gemeinsam im »Manifesto popular 28 de marco« zu Papier gebracht, um auf die desolate Lage der städtischen Armen aufmerksam zu machen. Die beteiligten Bewegungen fordern eine soziale Woh­nungs­po­li­tik für die Bedürftigen, ohne umständliche bürokratische Regulierungen, und wollen, dass ihnen die ungenutzten Flächen und Gebäude im städtischen Raum überlassen werden. Die Besetzerbewegung verlangt überdies Sozialtarife für Wasser und Strom, einen kostenlosen Nahverkehr sowie Kindertagesstätten und Bildungseinrichtungen. Am 17. April ist der Jahrestag des Massakers von Eldorado do Carajás, für die folgenden Tage sind weitere Aktionen geplant.