Melinda Gebbie und Alan Moore im Gespräch über ihr neues pornografisches Comic-Werk »Lost Girls«

»Frauen sind sich ihres Körpers sehr bewusst«

Ein Interview mit den Comic-Künstlern Melinda Gebbie und Alan Moore über ihr neues pornographisches Werk »Lost Girls«.

Frau Gebbie, Ihre ersten Comicarbeiten in den siebziger Jahren waren feministische Underground-Klassiker wie die Anthologie »Women’s Comix«, die damals in San Francisco erschien. Sehen Sie »Lost Girls«, Ihren neuen Comic zusammen mit Alan Moore, als eine Fortsetzung des sexuellen Diskurses, an dem Sie damals teilgenommen haben?

Melinda Gebbie: Auf jeden Fall. Ich interessiere mich seit meiner Teenagerzeit für Pornographie. Mein Vater hat sich jeden Monat seine Playboy-Ausgabe schicken lassen, und meine Mutter war immer ziemlich wütend darüber. Zwölf Mal pro Jahr hieß es dann: »Du hast zwei Wochen Zeit, bevor das Ding rausfliegt!« (lacht). Und ich habe mich immer gefragt, warum sie so wütend darüber war. Das ist doch nur ein Magazin mit Bildern von Frauen! Ich war damals gerade mal 14 Jahre alt und konnte keine Verbindung zwischen der Zeitschrift und dem Ärger meiner Mutter ziehen. Natürlich habe ich seitdem so einiges über diese Verbindung und alle damit verbundenen Konsequenzen herausgefunden, aber ich bin immer noch überzeugt, dass ein Partner nicht das Recht hat, dem anderen vorzuschreiben, was er oder sie lesen oder nicht lesen darf. Daraufhin habe ich mich dann mit Pornographie an sich beschäftigt. Ich war wirklich neugierig. Ich habe nach künstlerischen Aspekten gesucht, aber natürlich kaum welche gefunden. Es gab nur eine ganze Menge Bilder von Frauen, die auf ziemlich unbequem aussehenden Möbelstücken vor sich hin froren. Wahrscheinlich haben sie sich dabei gedacht: »Was setze ich denn heute Abend den Kindern zum Essen vor? Lasst mich endlich hier raus!« Allerdings habe ich doch ein paar künstlerische Arbeiten gefunden, die mir gefallen haben. Aber ich habe auch schnell gemerkt, dass es praktisch keine weiblichen Künstler im Bereich der Pornographie gibt.

Wir haben in Interviews mit Ihnen gelesen, dass Sie Ihre weiblichen Protagonisten nicht als Objekte vorführen möchten. Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass Sie der Pornographie ein zweifellos abstoßendes, aber gleich­zeitig oft auch wichtiges Element nehmen. Wie stellen Sie Dinge wie Ekstase oder Begierde dar, ohne auf die »klassischen« Mittel der Pornographie zurückgreifen zu können?

Melinda Gebbie: Ich habe ziemlich hart daran gearbeitet, die Frauen in »Lost Girls« als begehrenswert darzustellen, allerdings sollte das auf eine Art geschehen, bei der sich weibliche Leser nicht unwohl fühlen. Wenn man sich meine Figuren ansieht, dann sind sie – mal abgesehen von Geschichten, die sich um Missbrauch drehen – sehr elegant in Szene gesetzt. Sie sind sehr schön gezeichnet. Ich glaube, was jede Frau schaudern lässt, sind Bilder von anderen Frauen mit gespreizten Beinen wie Käfer in einer Insektensammlung. Frauen sind sich ihres Körpers sehr bewusst. Und ich habe für Frauen gezeichnet. Ich wollte Pornographie schaffen, die Frauen wirklich begeistern kann.
Alan Moore: Bei unseren ersten Diskussionen im Vorfeld ging es in erster Linie eigentlich darum, was uns an Pornographie überhaupt nicht gefiel. Denn dafür hatten wir weit mehr Beispiele parat als für Aspekte, die wir tatsächlich mochten. Uns ist vor allem aufgefallen, dass der Großteil der Pornographie sich an heterosexuelle Männer richtet. Es gab zwar damals (Anm.: vor 18 Jahren, zu Beginn des Projekts) auch schon Sammlungen von feministischer Pornographie, aber davon hat uns nichts wirklich angesprochen. Das soll jetzt nicht heißen, dass diese Geschichten nicht toll geschrieben waren, aber uns kam es vor, als wollte man zu zwanghaft einer feministischen Leserschaft gefallen. Daraufhin haben wir beschlossen, etwas zu schaffen, das sich nicht um Political Correctness kümmert, in dem Sinne, wie man den Begriff in den achtziger Jahren benutzt hat. Dabei ist uns auch klar geworden, was für eine Gelegenheit wir hatten, als ein Mann und eine Frau an einem Werk dieser Art zusammenzuarbeiten und dabei die Probleme und Fehler früherer pornographischer Arbeiten zu vermeiden. Melinda fiel beispielsweise auf, dass der Ort, an dem die pornographische Handlung stattfindet, für männliche Leser völlig irrelevant ist, weil die sich nur für gynäkologische Details interessieren. Wir haben dann beschlossen, dass es keinen Grund gibt, das Setting unseres Comics nicht so visuell einladend und anregend wie möglich zu gestalten. Wir achteten also genau auf das Aussehen von Materialien, Stoffen, Kleidung. Einer unserer Freunde, Oscar Zarate, der Zeichner von »A Small Killing«, bezeichnete Melindas Zeichnungen als sehr ungewöhnlich für ein pornographisches Werk. Er sagte, auffällig sei vor allem, dass niemand verängstigt aussehe. Porno­graphie dreht sich meist um Macht und Dominanz, während die Leute in »Lost Girls« so aussehen, als ob ihnen der sexuelle Akt Freude bereitet. Das heißt natürlich nicht, dass wir keine kontroverseren Themen behandeln können. In diesem schönen, üppigen Rahmen geht es auch um extreme, intensive Dinge, sicherlich auch um Themen, die weibliche Leser nicht im Traum lesen würden, wenn sie nicht in diesem einladenden Kontext an sie herangetragen würden.

Um auf das Grundkonzept von »Lost Girls« zu kommen: Der Comic dreht sich um Figuren aus Lewis Carrolls »Alice im Wunderland«, J. M. Barries »Peter Pan« und L. Frank Baums »Der Zauberer von Oz«. Wenn ich mich recht erinnere, erschien die erste freudianische Interpretation von Lewis Carrolls Arbeiten 1933, und seitdem ist die psycho­analytische Herangehensweise an Kinder­bücher niemals aus der Mode gekommen. »Lost Girls« scheint deutlich von diesen Arbeiten inspiriert zu sein, dennoch erinnere ich mich, dass Sie, Herr Moore, in früheren Interviews eine ziemliche Skepsis gegenüber diesen Praktiken zum Ausdruck gebracht haben.

Alan Moore: Dabei kommt es vor allem auf den Kontext an. Wenn ich in Interviews über meinen Glauben an die Magie befragt wurde, habe ich die Ansicht vertreten, dass die Psychoanalyse im Grunde wissenschaftlich getarnter Okkultismus sei. Denn es geht dabei ja um das Gleiche wie im Okkultismus – den menschlichen Geist und die Imagination. Das bedeutet doch, dass das eine nicht wissenschaftlicher als das andere sein kann. Keine von beiden Disziplinen beschäftigt sich mit Dingen, die man unter Laborbedingungen beweisen könnte. Damit will ich nicht die Psychoanalyse herabwürdigen. Ge­rade vor Leuten wie Jung habe ich einen unglaublichen Respekt. Vor jemandem wie Freud dagegen eher weniger. Vielleicht ist das auch wirk­lich nur meine persönliche Sicht der Dinge, aber ich bin der Meinung, Freud hat mehreren Generationen des psychoanalytischen Diskurses seine persönlichen Probleme aufgeladen. Mit der Psychoanalyse an sich habe ich kein Problem. Im Falle dieser drei Kinderbücher war mir daran gelegen, nicht den Eindruck zu erwecken, dass sich unsere sexuelle Interpretation unbedingt, auch nicht nur unterbewusst, mit der Intention der Autoren deckt. Da wir selbst eine Geschichte erzählen, waren wir zu einem gewissen Grad von diesen eher analytischen Überlegungen befreit. Wir wollen keine freudianische Analyse von »Alice im Wunderland« liefern, wir benutzen einfach die Geschichte des Buchs als Sprungbrett. Wir denken darüber nach, welche Geschehnisse in einem sexuellen Zusammenhang gesehen werden könnten, und diese ergeben dann die Grundlagen für verschiedene Episoden.

In den USA ist »Lost Girls« bereits seit einer geraumen Zeit erhältlich. Wie zufrieden seid ihr mit den Reaktionen? Wurde »Lost Girls« so aufgenommen, wie Sie es erhofft haben?

Alan Moore: Oh ja, ich bin sehr erfreut darüber und war auch ziemlich überrascht. Man muss ja bedenken, dass sich Amerika immer noch in den Fängen der Bush-Regierung befindet, die der christlichen Rechten sehr nahe steht. Das Klima in den USA ist heute so repressiv wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Zahlreiche, weit harmlosere Werke als »Lost Girls« hat man dort beschlagnahmt, sie wurden Gegenstand groß angelegter Sittenprozesse. Existenzen wurden auf diese Art vernichtet. Es gab beispielsweise einen Comic, der die exakte Umzeichnung einer Fotografie von Pablo Picasso zeigt, der nackt vor seiner Leinwand arbeitet. Das führte dazu, dass der Besitzer eines Comicladens und seine Frau von ihrem Umfeld ausgegrenzt und in den Ruin getrieben wurden. Bei »Lost Girls« gab es dagegen bisher keinen Fall dieser Art – hoffen wir, dass es so bleibt. Das klingt vielleicht etwas zu einfach, aber einer der Gründe, warum »Lost Girls« bisher kaum Widerstand entgegengesetzt wurde, mag sein, dass ich von Anfang an darauf bestanden habe, »Lost Girls« als Pornographie zu bezeichnen. Manche Leute empfanden das wohl als pervers, aber ich hatte meine guten Gründe. Zum einen ist es weit weniger prätentiös, als von »Erotica« zu sprechen. Und zum anderen hat es den klassischen Reflex der Kritiker verhindert. Hätte ich gesagt, »›Lost Girl‹ ist Kunst«, dann wäre die erste Reaktion gewesen: »Nein, das ist Pornographie!« Aber da ich den Comic von mir aus als Pornographie bezeichnet habe, wurden potenzielle Kritiker wohl kalt erwischt und widersprachen mir direkt mit einem »Nein, das ist Kunst«, bevor ihnen überhaupt klar war, was sie da gerade gesagt hatten.

Melinda Gebbie: Ich bin auch sehr, sehr zufrieden. Ich bin begeistert von den Leserreaktionen. Als ich 2006 zum Verkaufsstart von »Lost Girls« auf der größten amerikanischen Comic-Messe in San Diego war, waren mindestens die Hälfte der Käufer Frauen. Viele waren ziemlich jung – natürlich musste ich mir dann die Ausweise zeigen lassen –, aber an eine Leserin erinnere ich mich besonders. Sie sagte: »Oh, ich bin so aufgeregt. Ich gehe sofort nach Hause und fange an zu lesen.« Am nächsten Tag kam sie wieder, nachdem sie alle drei Bände gelesen hatte. Sie hatte Tränen in den Augen und sagte: »Ich musste noch einmal kommen, um dir zu danken.« Dann nahm sie meine Hand und hielt sie für einen langen Moment. Ich sagte dann nur: »Du weißt gar nicht, wie viel auch mir das bedeutet.« Ich habe diesen Comic für Frauen gezeichnet. Ich wollte Pornographie schaffen, in die sich Frauen wirklich verlieben können. Und bisher scheint das auch tatsächlich so einzutreten.

Alan Moore, Melinda Gebbie: Lost Girls. Aus dem Amerikanischen von Christian Langhagen. 3 Bände, Cross Cult, Asperg 2008, 75 Euro.