Geschlecht als Maskerade

Körpertheater

Mit der Rhetorik von Performanz und Mas­kerade schwören die Gender-Theoretiker das postmoderne Subjekt auf seine Ohnmacht ein.

Es gibt eine spezifisch linke Erzählung vom Karneval als Umkehrung der gesellschaftlichen Hier­archien, die sich mit Vorliebe auf Michail Bachtins Rabelais-Studien beruft und meistens wie folgt abläuft: Der Karneval, wie wir ihn heute kennen – als Ort von Bierseligkeit, Infantilismus und kollektiver Regression –, sei gar nicht der »echte« Karneval, sondern die ideologische Verfallsform eines subversiven Spektakels, das in Mittelalter und früher Neuzeit die herrschenden Mächte mit ihrem ausgeschlossenen Anderen konfrontiert habe; mit dem Gelächter der Geächteten, dem Schmutz, der Hässlichkeit, dem Rausch und vor allem mit dem »Körper«.
Was bei Bachtin noch der historisch zwar wenig triftige, als polemische Negation der stalinistischen Zustände aber immerhin nachvollziehbare Versuch war, in der Vergangenheit Spuren einer »Volkskunst« ausfindig zu machen, die weder völkisch noch kollektivistisch, sondern heterogen und nicht-hierarchisch gewesen sei, dient seit der Universalisierung des Spektakels als einzig möglicher Politikform allein der Legitimation des Vergnügens an emotionaler und geistiger Selbstabstumpfung.
Weil man eben gerne Party macht, und weil seit den zwar definitiv vergangenen, rhetorisch aber immer wieder beschworenen Zeiten des saturierten Großbürgertums abgeranzte Individuen, die an nicht dafür vorgesehenen Orten herumlungern, als Teil einer irgendwie umstürzlerischen Subkultur gelten dürfen, übt man sich auch anno 2008 noch im épater le bourgeois, obwohl die Bürger längst ebenso ausgestorben sind wie die Bohemiens. Die sublimen akademischen Debatten, die in vermeintlich linken Kreisen über die utopische Qualität des neudeutschen Spaß- und Freude-Nationalismus im Zuge der Fußball-WM geführt wurden, bezeugen die Popularität dieses Konzepts.

Der Erfolg von Judith Butlers Gender-Theorie, die seit Jahren als eine Art Sprachschaum durch sämt­liche Postcolonial-, Queer- und Popdiskurse schwimmt, beruht nicht zuletzt darauf, dass Butler die geschlechterpolitischen Fragen, die eine seriöse Geschlechterforschung in den siebziger Jahren noch konkret sozialgeschichtlich zu stellen vermochte, in Form eines großen Karnevals abfeiert. Die richtige Einsicht, dass die sozialen und kulturellen Leitdifferenzen allesamt nicht naturgegeben, sondern konstruiert sind, mutiert bei Butler zum Alibi für die Umwandlung des Stigmas zum Warenzeichen: »Anders« zu sein, verweist nun nicht mehr auf einen gesellschaftlich produzierten Makel, der das Subjekt von der Ordnung, aus der es ausgestoßen wurde, entfremdet, sondern erscheint als positive Selbstauszeichnung angesichts eines Zustands, in dem jeder aufgerufen ist, noch seine Wunden, Schwächen und Fehlleistungen als Differenzierungsmerkmale zu Markte zu tragen.
Das verständliche Bedürfnis von Außenseitern, sich endlich in die Mehrheitsgesellschaft integrieren zu dürfen, erscheint dem postmodernen Gender-Blick, der stets das »Queere«, »Abweichende« und »Marginale« sucht, als Zeichen von Konformismus. Wie sich die multikulturalistischen Postcolonial Studies das »Fremde« nur als das ausgeschlossene Eigene, das Unbewusste der eigenen Kultur vorstellen können – also im Grunde immer nur als Abgeleitetes, Sekundäres –, wird der Gender-Theorie das Geschlecht zur bloßen Maskerade, die im ständigen Gleiten der Differenzen die prinzipielle Austauschbarkeit aller mit allen sanktioniert.
Das Zauberwort für diese Umdeutung des puren Daseins und Mitmachens in eine produktive Leistung lautet »Performativität«: Wer im akademischen Diskurs oder im Alltag einen »performativen« Blick beansprucht, erklärt damit seine Bereitschaft, fortan nicht mehr darauf zu schauen, welchen Wahrheitsgehalt eine Rede, ein Kunstwerk oder ein bestimmtes Sozialverhalten haben könnte, sondern nur noch darauf, was diese jenseits ihres Gehalts »machen«, »hervorbringen«, »produzieren«.
Wie die politische Praxis aussieht, die mit solcher Erniedrigung der Revolte zum Spektakel einhergeht, lässt sich am Christopher Street Day oder am Berliner Karneval der Kulturen illustrieren, die früher einmal politisch motivierte Veranstaltungen gewesen sein mögen, mittlerweile aber zur differenztheoretischen Selbstbeweihräucherung einer Gesellschaft verkommen sind, die das Individuum endgültig liquidiert hat und allenfalls als Imitat, als bunt zurechtgemachten Stellvertreter einer ethnisch, sexuell, politisch oder sonstwie homogen definierten Gruppe dulden mag. Das »Anderssein«, das Ausländer, Schwule und Lesben oder (wenngleich seltener) Punker in den Augen des normalisierten Gutmenschen repräsentieren, wird dabei überhaupt nicht mehr als Symptom einer Wunde – also als Produkt von Diskriminierung und Leiden – wahrgenommen, sondern nur noch als abstrakter Unterschied, mit dem die solcherart Stigmatisierten in der zum hedonistischen Kollektiv zusammengeschweißten Volksgemeinschaft hausieren gehen sollen.

Wie gering die Halbwertzeit der ästhetischen Strategien wie Diskursparodie, Travestie usw. ist, die Butler im »Unbehagen der Geschlechter« als politische Strategien glaubte verteidigen zu können, zeigt sich daran, dass der Ausdruck »schwul«, gleich hinter »Jude«, auf deutschen Schulhöfen längst wieder zu einem der beliebtesten Schimpfwörter geworden ist. Während Butler meint, aus der Taktik diskriminierter Gruppen, die abwertenden Fremdzuschreibungen positiv »umzudeuten« (Homosexuelle nennen sich schwul, Frauen verkleiden sich als Hexen), ein subversives Politikkonzept machen zu können, beweist der Alltag, dass die Praxis der »Resignifikation« in der umgekehrten Richtung, als Restitution des überkommenen Stigmas, womöglich noch besser funktioniert. Hassbilder, die sich einmal etabliert haben, können immer wieder abgerufen werden, umso schneller, wenn die Arbeit an ihrer »Umcodierung« sie enttabuisiert und allgemein zugänglich gemacht hat. Die explicit lyrics im HipHop definieren längst den Kanon dessen, womit jugendliche Banden ohne Angst vor Sanktionen ihre Nebenmenschen traktieren dürfen, bevor es handgreiflich wird.
Was lernen wir aus alldem über den Zusammen­hang von Gender und Popfeminismus? Die Vorsilbe Pop markiert hierzulande mit traumwandlerischer Sicherheit den Punkt, an dem eine Sache ihren Geist aufgibt, indem sie ihn verbreitet. Deshalb darf ein Feminismus, der Pop sein will, sich nicht auf die verbissene Diskussion akademischer Probleme wie dem Verhältnis von Haupt- und Nebenwiderspruch oder die Kritik sexueller Gewalt beschränken, sondern muss anschlussfähig werden für jene, die hier und jetzt das richtige Leben im falschen wollen. Umgekehrt sind Pop­ikonen, die, wie in seligeren Zeiten Patti Smith, einfach nicht besonders auf ihr Äußeres achten, für Pop-Gender-Diskurse unbrauchbar, denn um »dekonstruiert« zu werden, müssen die Rollenbilder immer auch zitiert, mithin wiederholt werden; die Dekonstruktion lebt vom Gegenstand ihrer Kritik wie der Talkmaster vom Skandal.
Deshalb ist es kein Zufall, dass Butler in »Hass spricht« als Beispiel für die Dekonstruktion diffamierender four letter words ausgerechnet die Frauen der biederen HipHop-Band Salt’n’Pepa anführt, die schon im Namen die Vereinigung von Sexismus und Multikulti zelebriert und sich als akademisches Spekulationsobjekt ebenso eignet wie als Wichsvorlage für juvenile Machos, die sich im Ghetto wähnen, weil sie schlecht in der Schule sind. Der »Körper« wird dabei, wie es die einschlägigen Diskurse unverblümt ausplaudern, tatsächlich zur »Einschreibfläche«, zum Rohstoff theatraler Inszenierungen und damit – aller Polemik gegen »Naturalisierungen« zum Trotz – erst recht zur bloßen Natur, statt als unverfügbares Residuum subjektiver Erfahrung wahrgenommen zu werden. Dass diese Entwicklung Zeugnis eines »freieren« und »glücklicheren« feministischen Selbstverständnisses sein soll, wie ihre Apologeten suggerieren, ist zweifelhaft. Wäre es wirklich so, hätten sie längst verlernt, ihr Glück mit dem Lautsprecher der Mehrheit in die Welt zu posaunen.