Der Videobeweis im Fußball

Der Schiri und die Kamera

Immer wieder wird nach umstrittenen Schiedsrichterentscheidungen die Einführung des Videobeweises gefordert, zuletzt von einem prominenten Referee. Dabei spricht wesentlich mehr dagegen als dafür.

Achtzig Minuten war das Eröffnungs­spiel der Europameisterschaft alt, da forderten die gastgebenden Schweizer vehement einen Elfmeter: Der tschechische Abwehrchef Tomas Ujfalusi hatte den Ball mit der Hand berührt, doch Schiedsrichter Roberto Rosetti sah darin keine Absicht und dementsprechend auch keinen Grund für einen Pfiff. Ungezählte Zeitlupen später waren sich die Experten immer noch uneins: »Die Hand hat da oben nichts zu suchen«, urteilte der frühere Fifa-Referee Urs Meier im ZDF. »Das ist Basketball.« Das deutsche Fachmagazin kicker hingegen fand die Entscheidung des Unparteiischen aus Italien »nachvollziehbar« und attestierte ihm »eine starke Leistung«.
So umstritten wie diese Szene ist auch die Einführung des Videobeweises für derartige Situationen, wie sie zuletzt der – inzwischen ehemalige – deutsche Schiedsrichter Markus Merk forderte. Im Bundesligaspiel zwischen Werder Bremen und Borussia Dortmund Anfang März hatte Merk ein Tor des Bremers Markus Rosenberg anerkannt, obwohl der Angreifer klar im Abseits gestanden hatte. Das zumindest schienen die Fernsehbilder zu zeigen. Der dreimalige Weltschiedsrichter des Jahres sprach nach der Partie von der »schwärzesten Stunde meiner 20jährigen Laufbahn«. Seinen Fehler habe er bereits wäh­rend des Spiels erkannt, als die Wiederholung des Treffers über die Videowand des Weserstadions flimmerte. Da war es für eine Änderung seiner Entscheidung jedoch zu spät.
Merk ging schließlich in die Offensive und plädierte öffentlich engagiert für die Einführung des Videobeweises. »100 Prozent der klaren Fehler« von Referees könnten so rückgängig gemacht werden, glaubt er. In einem 30seitigen Papier konkretisierte der frühere Zahnarzt seine Ideen. »Ich stelle mir vor, dass ein Vertreter der beiden Mannschaften und der Schiedsrichter je zwei Möglichkeiten zum Vetorecht haben«, sagte er. »Die Erfahrung zeigt, dass das ausreichen würde, um die meisten Fehlentscheidungen zu überprüfen.« Dabei sollten die Spielunterbrechungen nicht länger als jeweils eine Minute dauern.
Merks Vorschlag stieß auf energischen Widerspruch bei den Kollegen. »Ich halte, ehrlich gesagt, gar nichts davon«, meinte beispielsweise Fifa-Schiedsrichter Thorsten Kinhöfer. »Dann haben wir nur noch mehr Diskussionen als ohnehin schon.« Und auch im Schiedsrichterausschuss des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) regte sich Unmut über das Vorpreschen Merks. »Es wird niemand jemals behaupten können, dass wir von unseren Spitzenleuten eine angepasste Meinung verlangen«, schrieb der Vorsitzende Vol­ker Roth in der Schiedsrichter-Zeitung, dem offiziel­len Organ der deutschen Unpar­teiischen. »Allerdings sollte die geäußerte Meinung begründet sein und verantwortet werden. Bei grundlegenden Fragen kann gar erwartet werden, dass diese, bevor die Öffentlichkeit gesucht wird, in den Fachgremien diskutiert worden sind.«
In der gleichen Ausgabe wies der frühere Bundesliga-Linienrichter Lutz Lüttig sogar nach, dass die TV-Bilder von Rosenbergs vermeintlichem Abseitstor längst nicht so eindeutig sind, wie Merk dachte. Lüttig, der als Sportredakteur bei der Bild-Zeitung arbeitet, wertete das komplette Videomaterial der Partie aus und kam zu dem Ergebnis, es spreche »mehr dafür als dagegen«, dass Rosenbergs Treffer regulär war. »Dieser Fall sollte allen Schiedsrichtern deutlich machen, dass Erkenntnisse, die man im Spiel gewonnen zu haben glaubt, immer noch einer Überprüfung bedürfen, egal wie viel Erfahrung man hat«, resümierte er. Zudem zeige sich immer wieder, »dass Wahrheit und Wirklichkeit des Fußballs eben doch noch woanders liegen als in den digitalen Aufbereitungsanlagen des Fern­sehens«.
Lüttigs bemerkenswerte, mit mehreren Bildschirmfotos und Animationen untermauerte Ana­lyse demonstriert anschaulich, dass selbst unzweifelhaft scheinende Fernsehbilder sich bei näherem Hinsehen als trügerisch erweisen können. Mal wird das Bild bei Abseitssituationen nicht im Moment des Abspiels »eingefroren«, son­dern Sekundenbruchteile zu früh oder zu spät, mal ist die Abseitslinie falsch gezogen, mal verzerrt die Kameraperspektive das Geschehen. Nicht gerade ideale Voraussetzungen für das von Merk vorgeschlagene, aus Vertretern beider Mann­schaften sowie dem Unparteiischen bestehende Oberschiedsrichter-Triumvirat. Zumal, wenn sich später herausstellt, dass es sich geirrt hat.
Beim Weltfußballverband Fifa lehnt man Merks Idee deshalb kategorisch ab. »Ein Videobeweis ist nicht vorstellbar«, sagte der Kommunikationsdirektor Andreas Herren. »Wir müssen bei allen Entscheidungen zwischen Nutzen und Gefahren abwägen. Es geht um schnelle Entscheidungen der Schiedsrichter. Das kann selbst beim Videobeweis lange dauern. Wir können es nicht zulassen, dass auch mit einem solchen Videobeweis der ›Kommissar Zufall‹ regiert.« Der gleichen Ansicht ist auch die Mehrheit der Bundesligaspieler: Satte 67,1 Prozent beantworteten in einer aktuellen Erhebung des kicker die Frage »Braucht der Profifußball den Videobeweis?« mit »Nein«.
In der Tat sprechen weit mehr Gründe gegen dieses technische Hilfsmittel als dafür. Nicht genug damit, dass die Bilder längst nicht immer unzweifelhaft Aufschluss geben; völlig unklar ist zudem, in welchen Situationen sie überhaupt zu Rate gezogen werden sollen. »Bei Abseitssituationen, nach denen ein Tor erzielt wurde? Oder auch bei Zweikampfsituationen zur Klärung der Frage, ob der Unparteiische auf Strafstoß oder nicht erkennen muss?« fragte Merks Kollege Herbert Fandel, der für den DFB bei der Europameisterschaft im Einsatz ist. »Und auch bei vermeintlichen Handspielen im Strafraum? Was geschieht bei Eckbällen, Einwürfen und Freistößen, nach denen unmittelbar ein Tor erzielt wurde? Wann also soll das Spiel angehalten werden, und wer entscheidet dies?«
Fandel hatte aber noch ein anderes, grundsätzlicheres Argument gegen den Videobeweis in petto: »Als Fußballfan möchte ich nicht, dass eine Spielszene durch ein Gremium auf der Tribüne entschieden wird.« Denn die Wahrheit liegt bekanntlich auf dem Platz, von der Kreis- bis zur Bundesliga und der Welt- oder Europameisterschaft. Der Fußball bezieht nicht zuletzt daraus seine Popularität, dass die Regeln für alle gleich sind und Fehler dazugehören, die der Spieler genauso wie die der Unparteiischen. Deshalb hat Christian Heidel, der Manager des FSV Mainz 05, Recht: »Es war schon immer so und soll immer so bleiben, dass man sich auch über Entscheidungen der Schiedsrichter aufregt« – wie über einen verschossenen Elfmeter oder eine vergebene Torchance.