Flexibel arbeiten in Europa

Allzeit bereit in Europa

Wie viel sollen die Europäer arbeiten? Nicht unbedingt mehr, aber bitte flexibler, lautet die Antwort der EU-Regierungen auf die Streitfrage um einheitliche Arbeitszeiten in Europa.

Bringt die neue Arbeitszeitrichtlinie den rund 300 Millionen Beschäftigten in der EU nun endlich mehr Schutz? Ist es gar der Einstieg in das »soziale Europa«, wie EU-Sozialkommissar Vladimir Spidla nach dem Kompromiss in der ver­gange­nen Woche euphorisch vermeldete? Oder stimmt doch eher die Lesart vieler Abgeordneter im Europa-Parlament, die von einem »Schlag ins Gesicht für alle Arbeitnehmer« sprachen? Mit dem nach fünfjährigen Verhandlungen erzielten Kompromiss hat die europäische Politik einmal mehr ihre hohe Kunst an den Tag gelegt, Vexierbilder zu produzieren. Blickt man von der einen Seite auf den Kompromiss der 27 Regierungen, erscheint ein prächtiges Arbeiter-Paradies mit europaweit vereinheitlichten Arbeitszeiten. Von der anderen Seite betrachtet zeichnet sich hingegen kaum mehr als ein schwacher Rahmen ab, der von den Beschäftigten vor allem eines fordert: Sei da, wenn der Chef dich braucht! Das versprochene »soziale Europa« endet da ganz schnell, wo ökonomische Interessen anfangen.

Kein Europäer soll in Zukunft durchschnittlich mehr als 48 Stunden pro Woche arbeiten. Dies gilt erstmals auch für das wachsende Heer der Zeit- und Leiharbeiter – Branchen, in denen mitt­lerweile mehr als drei Millionen Menschen beschäftigt sind. Auch die maximale Wochenstundenzahl wurde auf 65 Stunden reduziert. Bis dato sind es 78 Stunden. Dass der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Michael Sommer, dennoch von einem »sozialen Rückschritt« spricht, dürfte an der großen Zahl von Ausnahmeregeln liegen, die die EU mit der neuen Richtlinie einführen will. Die könnten besonders für Klinik­ärzte, Feuerwehr- und Wachmänner böse Überraschungen bieten.
Gerade in deutschen Krankenhäusern droht die Arbeitszeit wieder verlängert zu werden, weil die EU künftig zwischen »aktiven« und »inaktiven« Bereitschaftsdiensten unterscheiden will. Damit konterkarieren die EU-Sozialminister das Arbeitszeitenurteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2003. Damals gaben die Luxemburger Richter deutschen Ärzten Recht, die ihren Bereitschaftsdienst entgegen der bis dahin gültigen deutschen Rechtslage als volle Arbeitszeit anerkannt wissen wollten. Nun könnte die 70-Stunden-Woche wieder Alltag in deutschen Krankenhäusern werden. Auch in anderen Branchen wollen Europas Regierungen einen großen Türöffner für Ausnahmen einbauen. Jede direkte Einigung zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften könne die Arbeitszeitbegrenzungen aufheben, so der Vorschlag. Nur im Norden Europas haben die Arbeitnehmervertreter die Stärke, diese Ausnahme zugunsten der Beschäftigten auszulegen. Südlich der Ostsee dürfte dies vor allem den Arbeitgebern in die Hände spielen.
Dass das Lob für die Arbeitszeitrichtlinie vor allem von der europäischen Wirtschaft kommt, während Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen bestenfalls verhalten reagieren, kann daher nicht überraschen. Schließlich haben die europäischen Regierungen mit ihrem Vorschlag zur Arbeitszeitrichtlinie die Blaupause für arbeitgeberfreundliche Arbeitszeitmodelle der Zukunft gegeben. Die Kernidee: mehr Flexibilität. Was das konkret bedeutet, könnten die Beschäftigten in der EU bald erfahren.
Im Unterschied zu heute soll die vorgegebene durchschnittliche Wochenstundenzahl nicht etwa innerhalb von drei Monaten erreicht werden, sondern innerhalb eines Jahres. Studien zufolge wären dadurch 78-Stunden-Wochen möglich. Beispiele in der Automobilbranche zeigen, dass dies nicht abwegig ist. Die schwankenden Auslastungen der Fabriken haben bereits heute zur Folge, dass Mitarbeiter stark differierende Arbeitszeiten haben. Die »atmende Fabrik«, die der damalige VW-Arbeits­direktor und »Vater der 4-Tage-Woche« beim Wolfs­burger Konzern, Peter Hartz, angesichts der Konjunkturschwankungen als Lösung anpries, braucht konsequenterweise auch flexible Arbeitszeitmodelle.

Wie sozialdemokratische Programmatik und Interessen der Unternehmen Hand in Hand gehen, zeigt nicht zuletzt das Beispiel der 35-Stunden-Woche in Frankreich. Was wie eine rein arbeitnehmerfreundliche Reform anmutete, erfreut mittlerweile auch die Arbeitgeber. Denn die geringere Grundarbeitszeit lässt mehr Raum für Überstunden, die häufig genug keineswegs freiwillig angehäuft werden. Es war Ségolène Royal, die im Präsidentschaftswahlkampf vergangenes Jahr auf diesen Zusammenhang hinwies und von ihrer Partei schwer missverstanden wurde.
Nicht nur Karin Jöns, Abgeordnete der deutschen SPD-Fraktion im Europaparlament, fragt sich, was sie ihren Wählern nach dem Kompromiss der EU-Regierungen vom »sozialen Europa« erzählen soll. Denn nur für die wenigsten Europäer werden die flexiblen Arbeitszeiten auch ein Mehr an Freizeit und eigener Zeitgestaltung bedeuten. Als etwa bei VW 1994 die 4-Tage-Woche eingeführt wurde, hatte dies verschiedenen Studien zufolge vor allem negative Auswirkungen auf das soziale Leben. 140 verschiedene Schichtmodelle, die den klassischen Drei-Schichten-Tag ablösten, führten bei Vereinen zu einer Austrittswelle, weil gemeinsame Treffen schlicht und einfach nicht mehr organisierbar waren. Die Scheidungsrate unter Beschäftigen des Autobauers ging deutlich nach oben.
Einmal mehr beweist die EU, dass ihre Sozialpolitik gerade soweit reicht, wie es dem europäischen Binnenmarkt dient. Das Credo bleibt dabei immer gleich: vereinheitlichen, um gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Das Integrationsmotto der Union, »Erst die Wirtschaft, dann die anderen Politikfelder«, hat in der EU äußerst problematische Auswirkungen.
Dass die Arbeitnehmerinteressen in der EU nicht stärker vertreten sind, liegt zu einem Großteil aber auch an einem strategischen Fehler der Gewerkschaften. Sie haben auf die nationale Karte gesetzt, als es Anfang der neunziger Jahre um Kompetenztransfer der nationalen Regierungen an die europäische Ebene ging. Anders als in der Umweltpolitik, die seit dem Maastrichter Vertrag europäisiert wurde, ist die Sozialpolitik auch auf Druck der Gewerkschaften fast vollständig national geblieben. Den Protagonisten eines sozialen Europa bleibt in der EU heute oftmals nur ein Platz auf der Zuschauertribüne, während unumstößliche ökonomische Rahmenbedingungen für Europas Mitgliedsstaaten gefällt werden. »Die Gewerkschaften hätten heute in Brüssel ein anderes Gewicht, wenn sie früher anders agiert hätten«, musste sich der DGB-Vorsitzende Sommer vor nicht allzu langer Zeit von Europa-Abgeordneten vorhalten lassen. Zu erwidern hatte er nichts.