Das deutsche Woodstock auf CD

Das deutsche Woodstock

Das Waldeck-Festival im Hunsrück verstand sich in den Sechzigern als Bauhaus des Liedes und wurde zum Ausgangspunkt für die Karrieren von Musikern wie Franz Josef Degenhardt, Reinhard Mey und Hannes Wader. Ein Zehnerpack CDs dokumentiert die Veranstaltungen in den Jahren 1964 bis 1969.

Die Burg Waldeck ist ein komisches Ding. Kaum mehr als Burg zu erkennen, eher eine Ansammlung von Ruinen, abseits der Verkehrswege im Hunsrück gelegen, also genau dort, wir erinnern uns, wo die Figuren von Edgar Reitz’ »Heimat« den Mittel­punkt der Welt vermuten.
In dieser Abgeschiedenheit wurde 1964 nach anfänglichem Widerstand der örtlichen Jugendführer ein neues Festival etabliert, ein Festival für Chanson, Folklore, Lieder. Viele Aktivisten behaupten heute, dass von diesen Festivals ein wichtiger Impuls für die 68er-Bewegung ausging. Andere meinen, die 68er hätten das Festival am Ende auch zerstört. Gerade diese beiden Behauptungen sind es, die die damaligen Waldeck-Festivals zu etwas werden ließen, was man in der heutigen Medienwelt gern einen Mythos nennt. Die heute dort stattfindende Veranstaltung rund ums Lied, etwa der alljährliche Peter-Rohland-Singewettstreit, steht noch immer in der Tradition der sechs Festivals von 1964 bis 1969.
All das waren für das sehr verdienstvolle Label Bear Familiy Records gute Gründe, eine zehn CDs umfassende Sammlung von Original-Aufnahmen herauszubringen, zusammen in einer Box mit einem 240 Seiten starken, großformatigen Begleitbuch. Auf den CDs und im Buch kom­men so unterschiedliche Barden, Sänger und Agitateure wie Reinhard Mey, Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader, Walter Moßmann, Rolf Schwendter, Dieter Süverkrüpp, Phil Ochs, Floh de Cologne oder Hein und Oss Kröger zu Wort, auch ein paar Frauen sind erwähnt, Fasia Jansen etwa. Einige der Protagonistinnen und Protagonisten des Festivals sind heute bereits verstorben, einige verstockt, einige noch immer zerstritten.
Doch sprechen wir zunächst über die Vorgeschichte der Burg, denn diese wird während der Festivals aber auch beim Kampf um die Bedeutung und Deutung dieser Festivals immer wieder angerufen werden. Bereits zu Beginn des 20. Jahr­hunderts gingen Wandervögel auf die Burg und versuchten, einem bündischen Jugendideal nach­zueifern, in den zwanziger Jahren dann siedelten die »Nerother Wandervögel« auf der Burg. Offensichtlich gilt für diese, was für beinahe alle deutschen Jugendbewegung gilt – sie waren heimatverbunden, einem romantisch verbrämten Männlichkeitsideal verpflichtet und mehr oder minder zivilisationsfeindlich. Dennoch wurden die meisten Nerother, wie viele anderen Mitglieder der Bündischen Jugend auch, nicht unbedingt zu begeisterten Nazis, im Gegenteil, einer ihrer Bundesführer, Robert Oelbermann, starb 1941 als Häftling des KZ Dachau.
Diese Vorgeschichte gilt es zu kennen, wenn man das antifaschistische Selbstverständnis der Nerother wie überhaupt den antifaschistischen Mythos verstehen will, den die Burg Waldeck schon vor dem ersten Festival innehatte. Es gehört zu ihren besonderen Reizen.
So kam es, dass der früh verstorbene Barde Peter Rohland beim ersten Festival im Jahr 1964 jiddische Lieder vortrug, dass Reinhard Mey französische Chansons sang, Fasia Jansen, die afrodeutsche KZ-Überlebende, Wolf Biermanns antirassistische »Ballade vom Briefträger William L. Moore« vortrug, da der Ostberliner Barde nicht ausreisen durfte, während Dieter Süverkrüp scharfzüngig den neuen Nationalismus geißelte. Auf der anderen Seite fühlten sich die örtlichen Nerother von der Organisation ausgegrenzt und wähnten das bündische Ideal verraten, sodass sie massiv gegen die Festivals vorgingen, was darin gipfelte, dass nach einem der Festivals die Bühne gesprengt wurde – der Täter konnte nie ermittelt werden, doch wer die Fäden zog, schien allzu offensichtlich.
In diesem Konflikt verhielt sich niemand neo­nazistisch, wohl aber ging es um Führungsansprüche bei einem großen Projekt. Deutschland wollte man auf ganz naive Weise wieder heilen. Aus diesem Grund störte es und stört es auch offensichtlich bis heute niemanden, dass das erste Plakat, das auch grafische Elemente für die Gestaltung der jetzigen CD&Buch-Box abgibt und noch immer von der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck e.V. benutzt wird, von Arno Breker stammt, der bis 1945 für Hitler Übermenschenkörper aus dem Stein meißelte.
Während die Waldecker Nerother jedoch offensichtlich glaubten, man könne einfach so weitermachen, wie man vor 1933 gejugendbündelt hatte, schienen wiederum die Sängerinnen und Sänger der frühen Festivals zu meinen, man müsse zwar das Vorgefallene thematisieren, könne es aber gewissermaßen rückwirkend für die Zukunft verhindern, und dabei wenn nicht »das Deutsche«, so doch zumindest »uns« aus der historischen Schuld retten. Deswegen agitierte man gegen die »faschistischen« USA.
Das findet sich symptomatisch in dem Degenhardt-Song »Wo sind eure Lieder« aus dieser Zeit: »Wo sind eure Lieder, / eure alten Lieder? / fragen die aus andren Ländern, / wenn man um Kamine sitzt, / mattgetanzt und leergesprochen / und das high-life-Spiel ausschwitzt. // Ja, wo sind die Lieder, / unsre alten Lieder? / Nicht für’n Heller oder Batzen / mag Feinsliebchen barfuß ziehn, / und kein schriller Schrei nach Norden / will aus einer Kehle fliehn. // Tot sind unsre Lieder, / unsre alten Lieder. / Lehrer haben sie zer­bissen, / Kurzbehoste sie verklampft. / Braune Horden totgeschrien, / Stiefel in den Dreck gestampft.« Der deutsche Song also, das Volkslied wie der Schlager, waren hinüber, Peter Alexander und Peter Kraus haben ihn nicht gerettet, ein ein­faches Weitersingen der Volkslieder aber schien zynisch.
Also belieh man andere Nationen, sang vermeintlich Unverfängliches, schrieb neue Songs mit deutschen Texten und versuchte auf diese Weise, das deutsche Lied zu rehabilitieren oder zu reetablieren. Dabei – das sollte man nicht unterschätzen – wurden sehr viele neue Formen gefunden und ausprobiert, die sich heute in den Liedern deutschsprachiger Popbands wiederfinden. Dennoch entstand genau hier eine Bruchlinie, so ist dem Buch wie den CDs zu entnehmen, die Unmöglichkeit des Weitermachens führte schließlich zum Streit. Und wenngleich das in seiner Gänze niemandem aufging und einige der damaligen Protagonisten es bis heute leugnen, so ist es doch anderen zumindest aufgefallen, dass es so nicht weitergehen konnte.
Im Zuge der politischen Mobilisierung der sechziger Jahre wurden auch die Waldeck-Festivals immer politischer, erlangten schon bald weit über die Region hinaus Bedeutung und wurden von Medien aus der ganze Republik beäugt. Henryk M. Broder, Thomas Rothschild oder Klaus Theweleit, die später für die Linke wichtig wurden, besuchten die Festivals, Be­obachter der bürgerlichen Presse interpretierten sie als Spektakel der deutschen Sangesfreude, während Politgruppen die Veranstaltungen wiederum für ihr ureigenstes Spielfeld hielten.
1968 kam es zum Eklat. Benno Ohnesorg war im Jahr zuvor erschossen worden, das Attentatsopfer Rudi Dutschke hatte gerade das Krankenhaus verlassen. Angesichts dessen wollte ein Teil des Publikums nicht mehr einfach Lieder hören. Die Auftritte von Reinhard Mey und Hanns Dieter Hüsch wurden massiv gestört und mussten abgebrochen werden. Ein Manifest einer »Basisgruppe 1968« forderte während des Festivals: »Stellt die Gitarren in die Ecke und diskutiert!« Der »ästhetische Eskapismus« der Festivalleitung wurde gegeißelt, das Konzert von Degenhardt in ein Teach-In verwandelt. Reinhard Mey hatte gesungen: »Ich würde für ihre Liebe /Gendarm oder Soldat / Und würde im Getriebe des Staats / Ein kleines Rad / Und ein Kapazitätchen/Ich würd’ es für mein Mädchen.« Rolf Schwendter wiederum sang dieses Lied zur Blech­trommel noch einmal, verzerrt, und kritisierte es singend als »faschistoid«. Auf der anderen Seite blieb das Konzert der Blödeltruppe Insterburg & Co absolut ungestört, im Gegenteil es fand ungeteilte Begeisterung. Am Ende des Festivals schließlich sangen die linken Aktivisten auf der Bühne die Internationale.
Das Festival des Jahres 1969 war dann kaum noch ein Liedfestival. Die First Vienna Working Group: Motion brachte es mit »Hunger: Biafra« noch einmal zum Eklat, da sie einfach nichts machte und stattdessen auf der Bühne genüsslich die besten Speisen verzehrte. Das Publikum begriff nicht, dass es selbst eingreifen musste, blieb weiter in der Konsumentenhaltung und begann zu murren. Die Kritik der Wiener an der Passivität der Waldecker jedoch (»Wer keine Ingroup-Kritik verträgt, ist Faschist«) leuchtete den Betroffenen nicht ein. Man wollte »gut« sein und wurde »gut« qua Teilnahme am Gutsein. Das richtige Leben im Falschen wurde zelebriert.
Daran hat sich bis heute wenig geändert. Das der CD-Box beiliegende Buch dokumentiert Aussagen der alten Kämpen, die noch immer kaum hinterfragen, was denn 1968/1969 auf der Burg Waldeck eigentlich passiert ist. Und inwieweit das Festival die politischen Irrungen und Wirrungen in der damaligen Linken spiegelte. Dennoch, dank des reichen Materials und der rund 300 Songs und Diskussionsschnipsel, die sich auf den CDs finden, ist diese Box auf jeden Fall brauchbar.
Über die Gegenwart wird allerdings zumeist nur indirekt gesprochen. Die einen verübeln den anderen noch immer ihre Aktivitäten um 1968, doch im Großen und Ganzen herrscht Versöhnung vor.
Lediglich Franz Josef Degenhardt, dessen DKP-Vasallentreue ihn sonst oft gezwungen hat, Unsinn zu verbreiten, hat hier einen klaren Kopf bewahrt. Als er auf ein Revival-Konzert zum 40. Jahrestag des ersten Waldeck-Festivals eingeladen wurde, lehnte er dankend ab. Er schrieb, und dieser Brief ist ebenfalls im Buch dokumentiert: »Seit längerem schon – ich lese ja die Waldeck-Zeitung Köpfchen, höre dies und das von alten Freunden und Genossen – wird eine Wende, besser eine Rolle rückwärts vorgeführt da oben im Hunsrück. (…) Zuletzt bin ich in dieser meiner Einschätzung bestärkt worden während einer von Arte ausgestrahlten Sendung mit dem Titel ›Get up. Stand Up. Die Geschichte von Pop und Politik‹, die überwiegend recht gut und informierend war, bis auf den Abschnitt, der sich auf die Waldeck-Festivals in den Sechzigern bezog. Es wurde überhaupt nicht eingegangen auf das wirklich Neue damals, das die Liedermacherei, Song-Interpretation, Rezeption in der Folge formal und inhaltlich gründlich mitbestimmt hat. Dies durch: die Konkretisierung, Hereinnahme des aktuell Gesellschaftlichen, den gerichteten militanten Antifaschismus, die Kritik am idyllisch gemachten und dargebotenen Liedgut, am Romantizismus, der Skepsis gegenüber den traditionellen Liedformen überhaupt. Nicht dieses sollte und soll nach der vom neu-alten Waldeck-Geist monopolisierten Interpretation im Gedächtnis bleiben. Vielmehr sollen die Festivals nun gewertet werden vor allem als Anstoß zur Bewahrung der ›guten, alten Lieder‹, die nach Vorstellung eines dieser uns bekannten Wal­decker ›nicht verstören, sondern gefallen‹ sollen. Diese uns nur zu bekannte Mischung aus provinziellem Mief und deutsch-nationaler Gefühligkeit ist natürlich das Spiegelbild einer gesamtgesellschaftlichen Haltung und Vorstellung heute hierzulande, und nicht nur hierzulande. Und insofern sind die Waldeck-Knaben wieder mal ›dabei und vorneweg‹ – ihr ewiger Wunsch. Diese Anschlussfähigkeit à tout prix ist besonders widerwärtig.«

»Die Burg Waldeck Festivals 1964–1969« (Bear Family ­Records)