Hugo Chávez und die Farc

Dem Imperium keine Ausrede

Hugo Chávez appelliert an die kolumbianische Guerilla Farc, sämtliche Geiseln bedingungslos freizulassen. Auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, ist dies keine »180-Grad-Wende«.

Hugo Chávez ist bekanntlich immer für eine Über­raschung gut. Dass der venezolanische Präsident allerdings für eine seiner Äußerungen die geschlos­sene Zustimmung der gegenwärtigen kolumbianischen Regierung genießen könnte, galt bis vor kurzem als nahezu unmöglich. »Das erste Mal erscheinen mir die Kommentare des Präsidenten Hugo Chávez als positiv«, jubelte der rechte kolumbianische Präsident Álvaro Uribe. Sein Vertei­digungsminister Juan Manuel Santos sprach von »guten Nachrichten«, die sich nun in »konkreten Aktionen« niederschlagen müssten.
Kurz zuvor, am 8. Juni, hatte Chávez sich in seiner sonntäglichen Fernsehshow »Aló Presidente« an Alfonso Cano gewandt, den neuen Chef der Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc). »Ich glaube es ist an der Zeit, dass die Farc all jene freilassen, die sie in den Bergen haben«, sagte Chávez. Etwa 700 Personen, so wird geschätzt, befinden sich in der Gewalt der Guerilla. »Im Gegenzug für nichts« wäre dies »eine große humanitäre Geste« und könnte ein erster Schritt zur Beendigung des internen Krieges in Kolumbien sein. Und Chávez ging noch wei­ter: »Der Krieg der Guerillas ist Geschichte.« Es gebe keine Gründe mehr, um die Existenz dieses Typs von bewaffnetem Konflikt zu rechtfertigen.

Die Äußerungen sorgten international sowohl für Zustimmung als auch für Verwunderung. Da Chávez Anfang dieses Jahres noch erfolglos gefordert hatte, die Farc offiziell als Kriegspartei an­zuerkennen und von den internationalen Terrorlisten streichen zu lassen, wurden seine jüngsten Äußerungen vielfach als »180-Grad-Wende« tituliert. Auch seien die Äußerungen eine Reaktion auf das Bekanntwerden der angeblich guten Kon­takte zwischen Chávez und den Farc. Bei einem Raketenangriff des kolumbianischen Militärs auf ein Camp der Farc in Ecuador am 1. März wurde deren Nummer zwei, Raúl Reyes, getötet. Auf den dort sichergestellten Computern waren angeblich unter anderem Hinweise auf eine finanzielle Unterstützung der Farc durch Chávez gefun­den worden. Zwar ist trotz der Feststellung von Interpol, die Dateien auf den Computern seien nicht manipuliert worden, keineswegs klar, ob es sich wirklich um die Rechner von Raúl Reyes handelte. Auch sieht der Interpol-Bericht durchaus zahlreiche Unregelmäßigkeiten, wie etwa 2 000 in die Zukunft datierte Dokumente. Die kolumbianische Justiz will die Dateien nun von britischen Polizeiexperten noch einmal untersuchen lassen
Doch bereits jetzt werden sie als argumentative Waffe effektiv genutzt. Die kolumbianische Regierung serviert häppchenweise angebliche Belege für Verbindungen zwischen den Farc und zahlreichen Fürsprechern einer politischen Lösung des Konflikts. Da Interpol in dem Gutachten auch zu dem Schluss kam, die fast 40 000 ge­fun­denen Dokumente seien aufgrund einer Verletzung internationaler Standards der Beweissicherung juristisch belanglos, werden die angeblichen Belege wohl niemals vor einem Gericht landen.

Bei genauer Betrachtung erweisen sich Chávez’ jetzige Äußerungen jedoch keineswegs als »180-Grad-Wende«. Vielmehr handelt es sich um die konsequente Weiterführung seiner Mitte vorigen Jahres begonnenen Anstrengungen für eine Verhandlungslösung des kolumbianischen Kon­flikts. Insgesamt sechs Geiseln hatten die Farc auf Vermittlung von ihm und der linksliberalen kolumbianischen Senatorin Piedad Córdoba dieses Jahr bereits freigelassen. Den unilateralen Freilassungen sollte Chávez zufolge möglichst bald ein umfassender Gefangenenaustausch folgen, der als erster Schritt zu einem Verhandlungsfrieden dienen könnte. Nach dem Vorbild der internationalen Contadora-Gruppe, die in den achtziger Jahren den Frieden in Zentralamerika gemeinsam mit den Konfliktparteien verhandelte, solle auch in Kolumbien eine multilaterale Verhandlungslösung gefunden werden. Die Forderung, die Farc als Kriegspartei anzuerkennen, galt in diesem Zusammenhang offenbar als Grundlage für Verhand­lungen. Die Tötung von deren Chef-Unterhändler Raúl Reyes setzte den Bemühungen für einen Gefangenenaustausch jedoch ein jähes und von der kolumbianischen Regierung gewolltes Ende.
Nach dem Tod des Farc-Anführers Manuel Marulanda passte der venezolanische Präsident seine Position nun gewissermaßen den neuen Umständen an. Neu ist daran nur, dass er die Farc auffordert, sämtliche Geiseln bedingungslos freizulassen, und vor allem die sehr pragmatische Begründung, die er für seinen Appell anführte. »Die Farc müssen eine Sache verstehen: Ihr habt euch in eine Ausrede des Imperiums (der USA, d. A.) verwandelt, um uns alle zu bedrohen«, sagte Chávez. »An dem Tag, an dem es Frieden in Kolumbien geben wird, ist es mit der grundlegenden Ausrede des Imperiums vorbei, dem Terrorismus, wie sie es nennen.« Aus Sicht der venezolanischen Regierung stellt der massive US-Einfluss auf Kolumbien zunehmend ein Sicherheitsrisiko für Venezuela und seine Regierung dar.
Erst kürzlich äußerte William Brownfield, US-Botschafter in Kolumbien, der zuvor in Venezuela tätig war, die US-Militärbasis im ecuadorianischen Manta, deren Vertrag über 2009 hinaus nicht ver­längert wird, könne nach Kolumbien verlegt werden. Als Ort erkor er die Halbinsel La Guajira unweit der venezolanischen Grenze. Mitte Mai drang zudem ein US-amerikanisches Kriegsflugzeug in venezolanischen Luftraum ein und überflog angeblich versehentlich den venezolanischen Militärstützpunkt auf der Karibik-Insel La Orchila. Für die venezolanische Regierung stellt sich dies, in Verbindung mit den andauernden Anschuldigun­gen hinsichtlich einer Unterstützung der Farc, als eine Kette von Provokationen dar.

Dem von Chávez verfolgten Projekt einer poli­tischen und wirtschaftlichen Einigung Latein­amerikas in seinem Sinne, unter Zurückdrängung des US-Einflusses in der Region, steht die derzeitige innerkolumbianische Situation ebenfalls im Wege. Chávez weiß, dass in diesem Bereich nur mit einer gemäßigten, möglichst linken kolumbianischen Regierung Fortschritte zu erzielen sind. Diese jedoch ist unter Bedingungen des andauernden Konflikts und der staatlichen Repression gegen zivile linke Strukturen nicht mög­lich. Ob Chávez’ Vorstoß das gewünschte Ergebnis bringen wird, ist allerdings fraglich. Möglicher­weise wird sein tatsächlicher Einfluss auf die Farc enorm überschätzt. Zwar ist bekannt, dass die Guerilla seinem politischen Projekt wohlwollend gegenübersteht, ob sie sich deswegen jedoch in einen Friedensprozess ohne eigene Druckmittel begeben würde, darf bezweifelt werden.
Der kolumbianischen Regierung ist weiterhin an einer rein militärischen Lösung gelegen, um den gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Status quo beizubehalten. Für die Guerilla jedoch kommt ein Friedensschluss ohne soziale Veränderungen nicht in Frage. Ob die Farc nach dem Verlust ihrer zwei ranghöchsten Comandantes sowie mehreren Desertionen wirklich so geschwächt sind, dass dies für sie den einzigen Ausweg darstellen würde, bleibt abzuwarten. Durch die Äußerungen von Chávez dürften die wegen ihrer Kampfmethoden auch in der Linken umstrittenen Farc in Lateinamerika weiter an Legitimität verlieren. Um Erfolg zu haben, müsste der venezolanische Präsident jedoch sowohl die Farc als auch die Regierung Uribe von der Not­wendigkeit ernsthafter, respektvoller Verhandlungen überzeugen. Ohne internationalen Druck wird das nicht gehen.