Die EU-Verfassung, eine Geschichte des Scheiterns

Bühne frei für Fahrradkünstler

Die Idee der europäischen Einigung ist verbunden mit vielen Niederlagen und Rückschlägen. Diesmal soll das Problem dadurch gelöst werden, dass die Verantwortung einfach an die unwilligen Iren zurückgegeben wird.

Im Zweifel hilft noch immer Jacques Delors. Der frühere EU-Kommissionspräsident hat das seltene Privileg, von allen politischen Seiten hoch geschätzt zu werden. Von rechts wird er für seine Taten gelobt, etwa die Schaffung des Binnenmarktes, und von links für seine Rhetorik vom »so­zialen Europa«. Vor allem aber wird der Franzose von den Redenschreibern in der europäischen Hauptstadt Brüssel geschätzt, denen er eine kuriose Sammlung von Zitaten über Europa hinterlassen hat. Nun, da die Iren mit ihrem »Nein« in der Abstimmung zum EU-Reform-Vertrag dem eu­ropäischen Projekt einen herben Rückschlag erteilt haben, muss mal wieder einer seiner Aussprüche herhalten, um den Kern des Problems zu beschreiben: »Europa ist wie ein Fahrrad, hält man es an, fällt es um.«
Seit zwei Wochen versuchen Politiker in Europa nun, das europäische Rad am Laufen zu halten. Obwohl die Iren mit ihren 54 Prozent »Nein«-Stimmen eigentlich klar ihr Veto eingelegt haben, sollen die anderen Mitgliedstaaten im Ratifizierungsprozess voranschreiten, als wäre nichts pas­siert. 18 Länder haben bereits ihren parlamentarischen Segen zum EU-Reform-Vertrag gegeben, die anderen sollen nun auf keinen Fall die Annahme des neuen EU-Vertrags verzögern. Das Ziel: möglichst bis zum Ende des Jahres 26 »Ja«-Stimmen aus ganz Europa dem irischen »Nein« entge­genzustellen. Irland bliebe spätestens dann politisch keine Möglichkeit, den gesamten Prozess wei­ter zu blockieren, so das Kalkül. Bereits vergangene Woche machten die Staats- und Regierungs­chefs bei ihrem Gipfel in Brüssel die Vorgehensweise deutlich: Der Vertrag sei unerlässlich, neue Verhandlungen kommen nicht Frage.

Alles, bloß keinen Stillstand – das ist die Lehre, die die europäischen Politiker aus ihrer Geschichte der Niederlagen gezogen haben. Denn das europäische Integrationsprojekt hat in seiner mehr als 50jährigen Geschichte immer wieder Kri­sen und Rückschläge erlebt – in jüngster Zeit vor allem durch Volksabstimmungen. Die europä­ische Krisendynamik verläuft dabei stets nach demselben Muster: Nach der Euphorie, die zumin­dest unter den politischen Eliten durch die unterschiedlichen Vorhaben hervorgerufen wurde, kam dann das »Nein« aus der Bevölkerung oder den nationalen Parlamenten und mit ihm eine Katerstimmung, die Europa oft über lange Phasen lähmte. Europas letzte große Krise vor dem irischen Votum, das Scheitern der europäischen Verfassung bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden, liegt gerade einmal drei Jahre zurück. Auch damals galt, dass die Union nach dem Doppel-»Nein« aus den beiden EU-Gründungsstaaten politisch über Monate paralysiert war.
Bevor die Bevölkerung der Mitgliedsstaaten ins Spiel kam, machten sich Regierungen und Par­lamente oft selbst untereinander das Leben schwer. Vor allem französische Politiker haben das europäische Projekt immer wieder ausgebremst. Das erste »Nein« kam bereits im Jahr 1954, noch bevor das Projekt einer europäischen Vereinigung richtig zu starten begann. Damals lehnte die französische Nationalversammlung die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und damit die Abschaffung nationaler Armeen ab. In den sechzi­ger Jahren strafte Frankreichs Präsident Charles de Gaulle den europäischen Ministerrat, die wichtigste Behörde, mit dauerhafter Abwesenheit und blockierte mit dieser »Politik des leeren Stuhls« Europa für Jahre. Als »Eurosklerose« wurde die damit einsetzende und bis Mitte der achtziger Jahre andauernde Krise Europas später betitelt.
Die »Europhorie«, die Ende der achtziger Jahre angesichts der Gründung des europäischen Binnenmarktes unter der Bevölkerung für einen kurzen Zustimmungsboom zur EU führte, hielt nicht lange an. Denn seit den neunziger Jahren sind es vor allem die Bevölkerungen, die den Regierungen zu schaffen machen. Dort, wo sie die Ge­legenheit dazu bekamen, über die Intensivierung der europäischen Integration abzustimmen, haben die Bürger vielfach zumindest für Zitterpartien unter den Politikern gesorgt. Wenn sie nicht gar mehrheitlich ihre Ablehnung demonstriert haben. So lehnten die Dänen 1993 den Maastrichter Vertrag ab, die Iren im Jahr 2000 den derzeit gültigen Vertrag von Nizza. Den damaligen französischen Präsidenten François Mitterand ereilte 1993 fast dasselbe Schicksal wie zwölf Jahre später seinen Nachfolger Jacques Chirac bei der Abstimmung über die Verfassung. Mit nur 51 Pro­zent Zustimmung konnte er 1992 den Vertrag von Maastricht in seinem Land durchbringen.

Zwei derart heftige Rückschlag wie in den vergan­genen Jahren hat die EU jedoch selten in so kurzer Abfolge erlebt: erst die Zurückweisung der eu­ropäischen Verfassung 2005 und jetzt das irische »Nein« zum EU-Vertrag, der gerade eben als Ersatz für die gescheiterte Verfassung dienen sollte. Damit die EU anders als in den sechziger und siebziger Jahren nicht in einen Dornröschen­schlaf fällt, fährt die Union im Gegensatz zu früheren Vertrauenskrisen nun offenbar eine neue Strategie. Eine »Phase der Reflexion« wie etwa nach den negativen Voten im Jahr 2005 soll es dies­mal nicht geben. Denn insbesondere die Staats- und Regierungschefs scheinen immer weniger be­reit zu sein, ihr aufwändiges Verhandlungsergebnis mehrerer Jahre später erneut zur Disposition zu stellen. Auf Kritik stoßen sie mit dieser Haltung bei Abgeordneten im Europa-Parlament. Der Fraktionschef der SPD Martin Schulz erinnert daran, dass »wir einmal eine pro-europäische Mehrheit in Europa hatten«. Diese sei in erster Linie von den Regierungen verspielt worden.
Doch die EU will die derzeitige Krise am liebsten dahin zurückgeben, wo sie herkommt – nach Irland. »Dublin muss dem EU-Gipfel Lösungs­vorschläge vorlegen«, erklärte der EU-Parlaments­präsident Hans-Gert Pöttering vergangene Woche. Die Botschaft, die auch beim Treffen der Staats- und Regierungschefs dominierte, war klar: Nicht Europa hat ein Problem, sondern Irland. Die Iren müssten notfalls in wenigen Monaten erneut an die Urne, um dann zu einem positiven Ergebnis zu kommen. Um das zu erreichen, erwägen die Regierungen, Irland, wie etwa in den neunziger Jahren Dänemark, eine Light-Fassung des Vertrags anzubieten. Auf diesem Weg wurde damals der Maastrichter Vertrag von den Dänen in einer zwei­­­­ten Abstimmung angenommen.
Aufwind hat mit dem irischen »Nein« auch wie­der die alte Idee gewonnen, eine Avantgarde aus besonders integrationswilligen Ländern zu bilden. Der grüne Europa-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit denkt dabei an einen Kern aus Deutsch­land, Frankreich, Italien, Spanien, Polen »und allen, die dazugehören wollen«. Der Druck, in Europa unterschiedliche Geschwindigkeiten bei der Integration zu ermöglichen, ist gerade mit der Erweiterung auf 27 Mitgliedstaaten enorm gewachsen. Denn schon jetzt fährt vielen das Fahrrad namens EU zu schnell, anderen zu langsam – und für manchen sogar in die falsche Richtung.