Ausstellung in Berlin zeigt Werke von Alexander Rodtschenko

Ein Revolutionär aus Russland

Eine Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau widmet sich einem Avantgardisten der klassischen Moderne, Alexander Rodtschenko.

Als Alexander Rodtschenko 1943 in sein Tagebuch schrieb, Kunst solle nichts mit Politik zu tun haben, klang das weniger nach Überzeugung als nach Resignation. Rodtschenko, eine der Schlüsselfiguren der russischen Avantgarde und des Konstruktivismus, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine lange Geschichte »politischer Kunst« hinter sich, doch sein anfänglicher Idealismus für die revolutionären Ideale war infolge von Angriffen und Kritik erschöpft. Dabei hatte er immer versucht, beides zu sein: Avantgardekünstler und Marxist, politisch und modern. Er wollte teilhaben an der ästhetischen Politik des neuen Staates und gleichzeitig künstlerisch unabhängig arbeiten.
Nach der Oktoberrevolution sah die Situation in der jungen Sowjetunion für die Künstler der Avantgarde zunächst vielversprechend aus, es gab zahlreiche Möglichkeiten, künstlerisch aktiv zu sein. Als radikal links orientierter Künstler engagierte sich Rodtschenko, wie so viele andere, für den Aufbau neuer Strukturen der künstlerischen Produktion. So war er Gründungsmitglied verschiedener Institute und Abteilungen und lehrte an den berühmten Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten »Wchutemas«.
Bereits 1921 hatte Rodtschenko das Ende der Tafelmalerei proklamiert, die »reine« Kunst aufgegeben zugunsten einer visuellen Sprache im Dienst der Gesellschaft. Ein Massenpublikum musste erreicht werden, die alten Medien waren dafür schlichtweg zu langsam und elitär – es war die Zeit für neue Technologien, für Fotomontage und Fotografie, in einem expandierenden Markt von Druckerzeugnissen ließen sie sich schnell und einfach verbreiten.
Die Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau setzt an diesem spannungsvollen Wendepunkt an und zeigt nicht zuletzt, wie sich die konstruktivistische Losung »Kunst in die Produk­tion« in Rodtschenkos Werk realisierte. Gezeigt werden über 300 Arbeiten, die einer eher losen Chronologie folgen – es ist ein umfassender Überblick, wenn auch die begleitenden Texte etwas verkürzt geraten sind und einen größeren Zusammenhang vermissen lassen.
Zur Fotografie kam Rodtschenko über den Umweg der Fotomontage. Er illustrierte unter anderem Wladimir Majakowskis Gedichtband »Pro Eto« (Darüber), daneben entwarf er zahlreiche Plakate und Titelseiten für politische Illustrierte, Reklame bzw. Propaganda zur Unterstützung des sowjetischen Staates, oftmals in Zusammenarbeit mit dem befreundeten Dichter. Die Fotomontagen haben trotz ihres zusammengewürfelten Materials – Abbildungen aus Zeitungen und Zeitschriften, typografische Elemente, geometrische Formen wie Rechtecke oder Kreise, manchmal ineinander geschachtelt – immer eine gewisse Straffheit und Dichte, wirken nie zerstreut oder hingeworfen. Dafür sorgte die rechtwinklige oder auch diagonale Anordnung des Materials nach konstruktivistischen Gestaltungsprinzipien. In einigen Fotomontagen erzeugt der Einsatz sich wiederholender Elemente überraschende Effekte. »Rotarmisten« (1931) etwa zeigt eine gestaffelte Anordnung von Soldaten vor einem monochromen Hintergrund und wirkt wie ein früher Vorläufer der Pop Art – auch wenn hier nicht für ein Produkt, sondern für eine Ideologie geworben wird. Wobei Majakowski die direkte Verbindung zwischen Werbung und Propaganda einmal treffend beschrieben hat: Propaganda sei »Werbung von Ideen« und Werbung »Propaganda von Dingen«.
Der selbstverständliche Umgang mit Bildern anderer Fotografen führte Rodtschenko schließlich dazu, selbst zu fotografieren. Entsprechend der politischen Aufbruchstimmung dieser Zeit war für ihn auch mit der Fotografie eine revolutionäre Unternehmung verbunden. Er war der Ansicht, dass »nur die Kamera in der Lage ist, die Gegenwart widerzuspiegeln«, der fotografische Blick sollte revolutioniert werden, ein »neues Sehen« die Gesellschaft und den Menschen verändern. Rodtschenkos Einführung des Konstruktivismus in die Fotografie war tatsächlich eine Revolution – ein radikaler Bruch mit der Kunstfotografie der Jahrhundertwende, ein Bruch auch mit traditionellen Sehgewohnheiten. Zunächst entstanden Portraits – immer wieder stand der Künstlerfreund Majakowski vor der Kamera –, bald dokumentierte Rodtschenko die neuesten konstruktivistischen Bauwerke, Arbeiterclubs und Fabriken, Großküchen und Elektrizitätswerke, Treppen und Parks. Berühmt geworden sind hier unter anderem seine Fotografien von Feuerleitern, die perspektivisch so verzerrt sind, dass man jegliche Orientierung verliert.
Zu seinen magischsten Arbeiten gehören die Aufnahmen von Kiefern (1927), die, aus der extremen Untersicht fotografiert, wie Gestirne anmuten (ein eher rares Dokument von Natur), oder auch das Bild »Treppe« (1930), das in gekippter Kameraposition eine Frau zeigt, die eine Treppe hinaufsteigt, auf dem Arm ein Kind. Dabei bilden die Schatten der Stufen eine Fläche diagonaler Streifen, die Figur befindet sich plötzlich in einer abstrakten Landschaft.
Rodtschenkos diagonale Kompositionen und perspektivische Verkürzungen, sein Prinzip, von erhöhten oder niedrigen Standpunkten aus zu fotografieren, wurden in Russland bald als »Rodt­schenkos Blickwinkel« bekannt. Dass irgendwann der Formalismus-Vorwurf folgen würde, war abzusehen. Regelrecht fetischisierend wirken die Aufnahmen des Automobilwerks AMO, eine Fotoreportage, die 1929 in dem Magazin Dajosch (Du gibst) erschien. Schrauben und Gewindeteile, Zahnräder und Kotflügel sind hier in extremen Detailausschnitten festgehalten, was eine ästhetische Überhöhung der Maschine ergibt, die, aus jeglichem Kontext gerissen, keiner­lei Verbindung zur menschlichen Arbeit mehr aufweist.
Schon bald geriet Rodtschenko unter starken Druck, seine Kunst galt plötzlich als »gefährlich« und »bürgerlich-formalistisch«. Der sozialistische Realismus wurde zum offiziellen Stil erklärt, es folgten Sanktionen und Ausschlüsse. Ein neues Tätigkeitsfeld fand der Künstler daraufhin als Pressefotograf und Fotojournalist. Gemeinsam mit seiner Frau, der Künstlerin Warwara Stepanowa, mit der er häufig zusammenarbeitete, beteiligte er sich an mehreren Ausgaben der Zeitschrift SSSR na strojke (UdSSR im Aufbruch). Wohl um den kritischen Einwänden gegen seinen »Formalismus« zu begegnen, reiste er 1933 für eine Spezialausgabe nach Karelien, um den Bau des Weißmeer-Kanals zu dokumentieren, der in knapp zwei Jahren größtenteils von Strafgefangenen errichtet wurde, darunter fanden sich zum großen Teil politische Häftlinge. Die Bilder sollten die Formbarkeit der Natur und des Menschen zeigen – heute sind sie ein wichtiges Dokument des stalinistischen Gulag-Systems. In der Zeit der großen Schauprozesse fotografierte Rodtschenko Theateraufführungen sowie die eher realitätsferne Welt des Zirkus. Er benutzte ein Weichzeichnerobjektiv, das vormals grafische Vokabular machte diffusen Traumbildern Platz. Diese Bilder erzählen von Rückzug und dem Wunsch, sich nicht mehr äußern zu müssen.

Alexander Rodtschenko: Martin-Gropius-Bau, Berlin, 12. Juni bis 18. August