Die Debatte um Faruk Sen

Abstruser Vergleich

Seine revisionistische Aussage hat der Leiter des Zentrums für Türkeistudien zurückgenommen. Die Aufregung darum hält Faruk Sen dennoch für übertrieben. Der Zentralrat stellt sich hinter ihn.

Es ist das Ende einer schillernden Karriere. Über zwei Jahrzehnte lang galt Faruk Sen als eine Institution in Integrationsfragen in der Bundesrepublik. Nun steht die Karriere des Direk­tors des Essener Zentrums für Türkeistudien (ZfT) vor dem Aus. In die Kritik gebracht hat ihn ein von ihm verfasster Artikel in einer türkischen Zeitung – und er versteht nicht, warum. »Ich beziehe deutlich Stellung gegen Antisemitismus in der Türkei und bekomme jetzt Prügel in Deutschland, das kann doch nicht richtig sein«, empört sich Sen. Doch so einfach ist der Fall nicht.
Corpus delicti ist ein Beitrag in der liberalen türkischen Wirtschaftszeitung Referans vom 19. Mai. Darin stellt Sen einen abwegigen Vergleich an: Die Türken seien »die neuen Juden Europas«. Obwohl seit 47 Jahren in Mittel- und West­europa beheimatet, »sehen sie sich einer Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt, der schon die Juden, wenn auch auf einer anderen Skala und in unterschiedlicher Erscheinung, ausgesetzt waren«. Seit Bekanntwerden des Artikels in Deutschland Mitte Juni ist die Empörung groß. Nicht nur der ZfT-Vorstandsvorsitzende und ehemalige Bundesstaatssekretär Fritz Schaumann (FDP) bescheinigte dem 60jährigen Professor ein »eklatant verzerrtes Geschichtsbewusstsein«.
Einen Tag nach dem Sieg der deutschen über die türkische Nationalmannschaft bei der Fußballeuropameisterschaft beschloss der Zentrums­vorstand auf einer Sondersitzung, Sens Abberufung zu beantragen. Sen habe »dem deutsch-türkischen Verhältnis, der Integrationspolitik und vor allem dem Stiftungszweck schwer geschadet«, begründeten die Mitglieder ihre einstimmige Entscheidung. Nicht erst mit seinen jüngsten Äußerungen habe er insbesondere in türkischen Medien einen verzerrten Eindruck über das Zusammenleben von Deutschen und Türken vermittelt. Die endgültige Entscheidung über Sens Amtsenthebung trifft das Kuratorium der übergeordneten ZfT-Stiftung unter Vorsitz des nordrhein-westfälischen Integrationsministers Armin Laschet (CDU). Seine Kritik an Sen führte der Minister in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung aus. Natürlich wisse das Kuratorium, »dass Faruk Sen weder Antisemit noch ein Relativierer des Holocaust ist«. Dennoch sei sein Vergleich »inakzeptabel« und bedeute auch eine »Verkennung der deutschen Integrationspolitik«. Zweifel an der Person Faruk Sens kamen dem Minister bereits, als jener nach dem Brand in Ludwigshafen in türkischen Medien von einem »Signal der deutschen Gesellschaft an die Türken, dass sie so langsam nach Hause gehen sollen«, sprach.
Die außerordentliche Sitzung des Gremiums ist für den 18. Juli angesetzt. Bis dahin ist der 60jährige Wissenschaftler mit sofortiger Wirkung beurlaubt. Die vorläufige Leitung des Instituts mit seinen rund 20 Mitarbeitern übernahm der bisherige Geschäftsführer Andreas Goldberg. Die Suspendierung kam für Sen völlig unerwartet. »Damit habe ich absolut nicht gerechnet«, sagte er der Jungle World. Wie falsch er seine Situation eingeschätzt hatte, zeigt sich schon alleine daran, dass er nicht persönlich an der Vor­stands­sondersitzung teilnahm, sondern nur eine schrift­liche Stellungnahme schickte. Er hatte seinen Aufenthalt in der Türkei nicht unterbrechen wollen, wo er an einer Wirtschaftskonferenz teilgenommen hatte.
Auch wenn er die Sanktionen gegen ihn nicht nachvollziehen kann, bedauert er gleichwohl inzwischen ausdrücklich seinen abstrusen Vergleich. Seine Absicht sei es gewesen, »insbesondere die Auslandstürken, die in einer mitunter schwierigen Situation in Europa leben, für eine drohende Ausgrenzung der Juden in der Türkei zu sensibilisieren«, sagt er. Keinesfalls habe er den Holocaust relativieren wollen. Es sei ihm vielmehr »vollkommen klar, dass nicht nur dass Schicksal der Juden in der Nazizeit und das der Türken unvergleichbar sind, sondern die gesamte 2000jährige Geschichte der Judenverfolgung eine einmalige Qualität hat, die historische Vergleiche überhaupt verbietet«.
Konkreter Hintergrund des Artikels waren anti­semitische Angriffe in zahlreichen türkischen Medien auf den jüdischen Unternehmer Isak Alaton, dem Sen seine Solidarität bekunden wollte. Außerdem ergriff er in dem inkriminierten Text Partei für armenisch- und griechischstämmige Türken, die Druck und Ungerechtigkeiten ausgesetzt seien.
Noch vor der für ihn so unerfreulichen Sitzung des ZfT-Vorstands hatte sich Sen von Istanbul aus in Telefongesprächen mit der Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, und dem früheren Präsidenten des Europäischen Jüdischen Kongresses, Michel Friedman, für seine Äußerung entschuldigt. »Er hat eingeräumt, einen großen Fehler gemacht zu haben«, sagte Knobloch der Jungle World. »Ich höre solche Vergleiche leider immer wieder und kann sie absolut nicht akzeptieren.« Auch Friedman bezeichnete die Äußerungen des promovierten Betriebswirts als »Ausdruck eines völlig falschen Geschichts- und Gegenwartsbildes«. Das habe er auch Sen mit sehr deutlichen Worten mitgeteilt. »Natürlich werden Türken diskriminiert, auch in Deutschland«, sagte Friedman der Jungle World. Das rechtfertige aber nicht einen solch unhaltbaren Vergleich. Für eine Abberufung Sens sprachen sich jedoch weder Knob­loch noch Friedman aus.
Geradezu bestürzt über den drohenden Rausschmiss zeigte sich der Generalsekretär des Zentralrats, Stephan Kramer. Sen sei »seit Jahrzehnten ein Freund der jüdischen Gemeinschaft nicht nur in Deutschland«, schrieb Kramer in einem Brief an den ZfT-Kuratoriumsvorsitzenden Laschet. Die derzeitige Diskussion um die Entlassung Sens verfolge er »mit Befremden und Unverständnis«. Auch der Frankfurter Publizist Micha Brumlik, der Münchner Historiker Michael Wolffsohn und Julius ­Schoeps, emeritierter Leiter des Moses-Mendelssohn-Zentrums in Potsdam, wiesen zwar Sens unhistorischen Vergleich als hanebüchen und völlig deplatziert zurück, bezeichneten es jedoch als unangemessen, ihn dafür zu entlassen. Die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) kritisierte ebenso die geplante Abberufung. Viel nützen wird Sen diese Unterstützung allerdings nicht mehr. Seine endgültige Abberufung dürfte nur noch eine Formsache sein.
Seit der Gründung 1985 steht der in Ankara geborene Sen, der seit 36 Jahren in der BRD lebt, an der Spitze des Zentrums für Türkeistudien. Die in Deutschland einmalige Einrichtung forscht und informiert über Zuwanderung, Integration und Migration. Das von einer selbstständigen Stiftung getragene Institut finanziert sich über Forschungsaufträge und Zuschüsse vor allem des Landes Nordrhein-Westfalen. Für seine Verdienste um die deutsch-türkischen Beziehungen erhielt der »akademische Obertürke« (SZ) mit deutschem Pass 2003 das Bundesverdienstkreuz. Aber der Umtriebige, den der grüne Europa­abgeordnete Cem Özdemir einmal spöttisch als »Professor für 1 001 Projekte« titulierte, hat sich mit den Jahren auch viele Feinde gemacht – und viele Freunde verloren. Das rächt sich jetzt.
Den einen ist Sen ein Dorn im Auge, weil er immer wieder wortreich die Diskriminierung türkischstämmiger Menschen in der Bundesrepublik thematisiert hat. Andere stören sich an seinem Geltungsdrang und dem bisweilen selbstherrlichen patriarchalen Gehabe des »Fürsten Faruk«. Manche beklagen auch eine fehlende Wissenschaftlichkeit seines Instituts. Den muslimischen Verbänden ist er als Stimme der säkularen Türken, den kurdischen Verbänden als Kemalist verhasst. Kritik gibt es auch an seiner halbherzigen Verurteilung des Genozids an den Armeniern, für Sen »eine Schande für die türkische Geschichte« zwar, aber kein Völkermord. Und seine Parteifreunde, die lange ihre schützende Hand über ihn gehalten hatten, nehmen es ihm übel, dass er als SPD-Mitglied bei der Oberbürgermeisterwahl 2004 in Gelsenkirchen einen Wahlaufruf zugunsten des CDU-Kandidaten unterschrieb. Diese Gemengelage erklärt, warum sich so manch unangenehm gehässiger Ton in die gegenwärtige Berichterstattung um Sen mischt.
Geradezu versessen hatten seine zahlreichen Gegner nach einem Anlass gesucht, um Sen loszuwerden. Ende vorigen Jahres versuchten sie es mit – mittlerweile entkräfteten – Vorwürfen, er habe Fördergelder für Saufgelage verschwendet. Nun nutzen sie die Steilvorlage, die ihnen Sen mit seinem Artikel geliefert hat. Die Gelegenheit ist einfach zu günstig. Doch noch will er nicht aufgeben: »Meine Intention ist nach wie vor, dass ich bald wieder auf meinen Posten zurückkehre.« Das dürfte Sens Wunschtraum bleiben. Kuratoriumschef Laschet formuliert es diplomatisch: Er hoffe, dass es gelingt, »dass wir seine großen Verdienste anerkennen und trotzdem zu einem Neuanfang kommen«.