Der Mensch als Rechengröße

Zählen und gezählt werden

Auch der vermeintlich individuelle Warenboykott im Supermarkt zählt nur als Massenphänomen, bei dem Individuen und ihre Motive keine Rolle spielen. Der Mensch ist eine Rechengröße, relevant nur in seiner Anzahl.

In dem Roman »Homo faber« lässt Max Frisch seinen Protagonisten, den Maschinenbauingenieur Walter Faber, an der Wahrscheinlichkeit scheitern, weil sie das Unwahrscheinliche nicht in Rechnung stellt. Umgekehrt scheitern alle Leute, die sich nicht mehr auf die Straße trauen, weil sie ständig von den unwahrscheinlichsten Verbrechen hören, die da draußen passieren. Sie rechnen diese derart hoch, dass ihre Chance, ungeschoren davonzukommen, täglich sinkt. Der Homo faber (der schaffende Mensch) lehnt sich entspannt im Flugzeug zurück: Die Wahrscheinlichkeit eines Absturzes ist bei 40 000 Flügen täglich und höchstens einem Absturz in der Woche gering. Anders die Menschen mit Flugangst, die von grauenhaften Abstürzen nur allzu genau wissen. Zwischen der Statistik und der Lebenserfahrung klafft ein Abgrund. Der bayrische Filmemacher Herbert Achternbusch meinte: »Da wo früher Pasing und Weilheim waren – ist nun Welt. Die Welt hat uns vernichtet, das kann man sagen.«

Die Welt lässt nur eine Gesellschaft zu, in der der Warenverkehr den nexus rerum, den Zusammenhang der Dinge, bildet – ein rein abstrakter Zusammenhang. So wie Margaret Thatcher die Welt sah: »Ich kenne keine Gesellschaft, nur Individuen.« Je atomisierter die Individuen, desto weniger zählt die Singularität. Eine Welt als Ansammlung des Homo statisticus. Dieser tritt nicht wirklich in Erscheinung, aber man kann mit ihm rechnen, manchmal muss man angeblich sogar mit ihm rechnen. Die Medien überschütten uns geradezu mit Zahlen über ihn. Wenn gerade keine vorliegen, tut es auch ein »zunehmend« oder »immer mehr«, um einem Phänomen das nötige Gewicht, also Wichtigkeit, zu geben. Wenn ich z.B. am Müggelsee jemanden sehe, der sich ein Hakenkreuz auf den Hintern tätowiert hat, dann interessiert das kein Schwein, aber wenn ich in einer Zeitung behaupte, immer mehr Ostberliner lassen sich Hakenkreuze auf ihre Hintern tätowieren, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die internationale Presse an den FKK-Stränden dort aufkreuzt.
Am schlimmsten treiben es diesbezüglich aber nicht die Journalisten, sondern die Mediziner, wenn sie z.B. nach einer pränatalen Untersuchung der Mutter zu Bedenken geben: »Die Chance, dass Ihr Kind später depressiv wird, ist Fifty-Fifty!« Damit wird der »Weltschmerz« geradezu injiziert. Kommt noch hinzu, dass dieses (gentechnische) Denken als Neodarwinismus nicht nur »zunehmend« zur Leitwissenschaft, sondern »immer mehr« auch herrschende Ideologie wird. »Über die Statistik hat die Wahrscheinlichkeitsrechnung inzwischen Eingang in alle quantita­tiv operierenden Wissenschaften gefunden«, heißt es in einem Lehrbuch. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung verdanken wir der Leidenschaft der Griechen und Römer für das Glücksspiel, die zur Entwicklung von Rechenmodellen führte, die man dann auch für das Versicherungs- und Regierungsgeschäft, die Physik, die Hygiene, die Gentechnik und die Finanzwissenschaft frucht­bar machte.
Neuerdings wird versucht, aus der Atomisierungsnot eine politische Tugend zu machen, indem die Individuen als Endverbraucher auf dem globalen Markt zur kollektiven Tat zurückfinden. Man spricht hierbei auch von einer »Politik im Supermarkt«, wenn der kritische Konsument beispielsweise Coca Cola boykottiert und stattdessen massenhaft Pepsi Cola kauft. Ab einer bestimmten Kaufkraft zeigt dies Wirkung. Selbst eine neue Gewerkschaft von mexikanischen Erntehelfern in Florida wandte sich, um ihre Forderung »Ein Cent mehr für jeden Eimer Tomaten!« durchzusetzen, nicht mehr gegen bzw. an das ausbeuterische Agrarunternehmen, sondern an den kritischen Konsumenten, konkret: an die Kunden der Fastfoodkette »Taco Bell«. Und deren Boykott hatte schließlich Erfolg. Diese Art von statistisch signifikantem Konsumenten­terror werde erstmals 1995 beim »weltweiten« Boykott von Shell-Tankstellen spürbar als Protest gegen die Absicht des Ölkonzerns, seinen ausrangierten Öltank »Brent Spar« in der Nordsee zu versenken.

Der Soziologe Ulrich Beck spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen medial sich inszenierenden Konsumentenmacht: »Warum der einzelne Konsument ein bestimmtes Produkt nicht kauft, ist nicht so wichtig. Was zählt, sind gerade massenhafte Mit-Nichtkäufer.« Was zählt, ist also ihre Anzahl – mit der zumindest der boykottierte Konzern rechnen muss. So wie er sich umgekehrt auch die positiven Verkaufszahlen aufs Geschäftsquartal hochrechnet.
In einem demnächst erscheinenden Buch über individuell hergestellte Produkte – als »Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion« – wird dieses aus den USA kommende Phänomen von den Autoren als eine neue »Bewegung« beschrieben, als ein Trend, der (deswegen?) todsicher demnächst auch über uns kommen wird, indem »immer mehr« Frauen, aber auch Männer, »Handmade«-Gegenstände über Ebay verkaufen. Die Ironie oder Tragik besteht darin, dass es sich hierbei um eine Rückwendung zum Individuellen handelt, die in dem Bericht der zwei »Trendforscher« als eine Massenbewegung dargestellt wird, deren Bedeutung nicht aus der Tätigkeit selbst erwächst, sondern aus ihrer zunehmenden Häufigkeit.
Eine Erwerbsidee wird hier wie eine Mutation behandelt. Auch diese ist nur von Bedeutung, insofern sie sich durchsetzt: statistisch relevant in der Population wird, in der Art. »Unterhalb der Schafsart kann man nur noch die Schafe zählen«, meinte Foucault. Der Wissenschafts-, Biologie-, Gentechnik-Historiker Hans-Jörg Rheinberger hat zu diesem Statistikstreich neulich eine erhellende Anekdote beigetragen: Über zehn Jah­re war er in einem Genlabor beschäftigt, in dem mit Bakterien gearbeitet wurde. In dieser ganzen Zeit hat er sich die Lebewesen nicht ein einziges Mal etwas genauer durch das Mikroskop angesehen. Der Witz daran ist, dass ein derartiger Blick ihm wahrscheinlich weniger etwas erhellt hätte als dieses Eingeständnis nach so vielen Jahren.