Plädoyer für einen linksradikalen Veganismus

Go vegan!

Ein Plädoyer für einen linksradikalen Veganismus.

Wissen Sie, was Sexen ist oder was ein Sexer macht? Ich hätte auf eine abgefahrene, ost-indonesische Sexpraktik getippt oder auf eine brandneue Handyspielerei, weil im Französischen das Tippen von SMS »texten« genannt wird. Vielleicht auch auf eine aufregende Kombination von beidem. »Sexen«, das klingt irgendwie sexy – ist es aber leider nicht. Als Sexen bezeichnet man die in der Eierproduktion übliche Trennung von neu­geschlüpften Küken nach ihrem Geschlecht. Ein Sexer genannter Arbeiter oder eine Arbeiterin untersucht dabei auf einem Fließband antrans­por­tierte Jungtiere aus dem Brutkasten nach deren Geschlechtsmerkmalen und sortiert die männ­lichen und weiblichen Küken auf zwei un­terschied­liche Fließbänder. Die weiblichen Küken werden als zukünftige Legehennen in die jeweiligen Eierfabriken verbracht. Etwa 70 Prozent von ihnen fristen die restlichen zwölf bis 15 Monate ihres Le­bens in der Legebatterie eines fensterlosen Stalls und werden anschließend am Fließband ge­schlachtet.
Die aussortierten männlichen Küken hingegen sind aus Sicht der Betriebe nicht profitabel, weil sie keine Eier legen und für eine Verwendung als Masthähnchen nicht schnell genug wachsen. Das Fließband schafft sie daher in einen Container. Dort werden sie vergast, zerhäckselt und schließlich zu Tiermehl verarbeitet. In jedem Eier-System, egal ob in Käfig-, Freiland- oder Bodenhaltung, funktioniert das so.

Das Sexen ist nur ein Beispiel für die technokratische Gewalt gegen Lebewesen mit dem Ziel der Profitmaximierung. In solchen Praktiken spiegelt sich aber nicht nur das katastrophale Mensch-Tier-Verhältnis, sondern es schim­mert auch die alles bestimmende Meta-Struktur der kapitalistischen Gesellschaft, das Wertprinzip, durch.
Max Horkheimer benutzte das Bild eines Wolkenkratzers als Metapher für die Gesellschaft. In »Dämmerung. Notizen in Deutschland« beschrieb er den Wolkenkratzer mit einer prächtigen Kathe­drale als Dach und einem Schlachthof als Keller. Aus den oberen Stockwerken hat das Establishment eine »schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel«. Darunter wohnen komfortabel die politischen Handlanger und die Militärs. In den unteren Etagen finden sich schließlich die einfachen Arbeiter und noch tiefer die Arbeitslosen. Dann »beginnt erst das eigentliche Fundament des Elends, auf dem sich dieser Bau erhebt, denn wir haben bisher nur von den hochkapitalistischen Ländern gesprochen, und ihr ganzes Leben ist ja getragen von dem furchtbaren Ausbeutungs­apparat, der in den halb- und ganzkolonialen Territorien, also in dem weitaus größten Teil der Erde funktioniert. (…) Unterhalb der Räume, in denen millionenweise die Kulis der Erde krepieren, wäre dann das unbeschreibliche, unausdenk­liche Leiden der Tiere, die Tierhölle in der mensch­lichen Gesellschaft darzustellen, der Schweiß, das Blut, die Verzweiflung der Tiere.«
Auch wenn das Wolkenkratzerbild nur ansatzweise dem monopolistischen, nicht aber dem gegenwärtigen Kapitalismus gerecht werden kann, so bleiben die Herrschafts- und Ausbeutungs­ketten zugunsten der oberen Stockwerke. Bemerkenswert ist, dass Horkheimer Tiere und Menschen als Teil derselben Struktur gedacht hat. Tatsächlich werden Tiere in die Macht- und Ausbeutungsstrukturen der Gesellschaft eingemeindet. So merkwürdig es klingen mag, Tiere sind zum Teil der menschlichen Gesellschaft geworden, auch wenn sich ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Leben natürlich völlig anderes gestaltet als die von Menschen. Ihnen ist jede Veränderung ihrer Situa­tion, jeder Aufstieg in der Hierarchie des Wolkenkratzers unmöglich. Es ist ein Euphemismus, ihre Stellung mit der von Sklaven zu vergleichen. Treffender ist die Charakterisierung als biologische Maschinen. Während der Arbeiter und die Arbeiterin zum bloßen Anhängsel der Maschine degradiert wird, werden Tiere selbst zur Maschine.
Dem apersonellen Herrschaftsverhältnis Kapitalismus ist zueigen, dass die Erzeugung von stofflichem Reichtum nicht primär der Befriedigung der Bedürfnisse des Menschen dient, sondern vielmehr Mittel zum Zweck der Wertschaffung ist. Dabei ist das eigentliche Produkt weitgehend gleichgültig. Es ist egal, ob Handgranaten, Kondome, Ideen oder Schnitzel produziert werden. Wichtig ist nur, dass am Ende mehr Kapital herauskommt, als am Anfang da war. Weitgehend gleichgültig sind auch die Schäden die am Menschen, der Natur und am Tier durch die Produktion angerichtet werden. Auch die offensichtliche Leidensfähigkeit der zu Biomaschinen degradierten Tiere wird als lästiges Betriebsgeräusch ignoriert.

Anders als wir Menschen haben Tiere nicht die Fähigkeit, die Gewalt, die über sie hereinbricht, zu rationalisieren. Sie finden keinen Trost und keine Ablenkung in einem religiösen oder philosophischen Denken. Ihnen bleiben nur dumpfes Unverständnis, Schmerzen und die nackte Angst vor der gewalt- und qualvollen Beendigung der eigenen Existenz. »Für den Entzug des Trostes tauscht das Tier nicht Milderung der Angst ein, für das fehlende Bewusstsein von Glück nicht die Abwesenheit von Trauer und Schmerz.« (Adorno / Horkheimer, »Dialektik der Aufklärung«) Schon in der Einteilung als Nutztiere, Haustiere, Versuchstiere, Zootiere oder Pelztiere schlägt sich das Verwertungsdenken nieder. Sie werden als etwas begriffen, das für den Menschen dienlich und nutzbar ist, nicht aber als Lebewesen mit eigenen Interessen – deren Existenz wie die des Menschen Selbstzweck ist. Der Wolkenkratzer-Kritiker Horkheimer formulierte dazu etwas umständlich: »Die Menschen sind einander und der Natur so radikal entfremdet, dass sie nur noch wissen, wozu sie sich brauchen und was sie sich antun.« (Adorno / Horkheimer, »Dialektik der Auf­klärung«)
Das Verwertungsdenken, das den Umgang der Menschen untereinander und mit den Tieren bestimmt, wird als transhistorisch und damit unveränderbar wahrgenommen. Eine Kritik daran erscheint geradezu naturwidrig. Auch Ivo Bozic kritisiert in seinem Artikel (Jungle World 37/08) nicht das repressive Mensch-Tier-Verhältnis. Ihm geht es nur um die Kritik an den Kritikern: »Wer heute jung ist und Tiere mag, gerät viel leichter (…) in eine Szene, die sich Tierrechtler oder Tierbefreier nennt. Bei Veganismus und Tierrechten geht es nicht um Tierschutz, sondern um Ideologie. Eine gefährliche Ideologie.« Das ganze funktioniert nach dem Schema: Pappkameraden aufbauen, Pappkameraden abschießen und dann Applaus ernten. Dem Kollegen purzeln daher auch so kuriose Polemiken durch den Text: »Auch der konsequenteste Veganer tötet jeden Tag Hunderte Tiere. Alleine auf seinem Weg zum Bio-Markt zerquetscht er sie achtlos unter seiner Sohle.«
Vegan zu leben bedeutet, sich nicht an der Gewalt zu beteiligen, die Tieren angetan wird, nicht den Auftrag zu geben, Tiere zu töten oder anderweitig von ihren Qualen zu profitieren. Das Argument der Veganer besteht in der größtmöglichen Minderung und schlichten Vermeidung von vermeidbarem Leiden.
Fast richtig liegt Ivo Bozic, wenn er schreibt: »Veganer kümmern sich in der Regel (…) um Tiere mit großen Augen, die einen traurig oder süß angucken können. Um Affen, Hunde, Katzen, Rin­der, Lämmer, Kücken und kuschelige Pelz­tiere.« Hätte er dies anstatt den Veganern den in seinem Text so gelobten grzimekschen Tierschützern vorgeworfen, dann wäre ihm sogar zustimmen. Die von ihm diffamierten Veganer konsumieren aus Prinzip keine Tierprodukte, keine Fische, Schnecken, Insekten und auch nicht den Honig der wenig possierlichen Bienen. Hingegen fungieren Tierschutz­repräsentanten als willige Stich­wortgeber für die Industrie und helfen fleißig mit, wenn es darum geht, gößere Käfige oder »art­gerechtes Schlachten« auszuhandeln – anstatt das Ganze zu beenden.
Die Splatterbilder aus der Massentierhaltung rufen bei jeder und jedem einen Funken Rest­empathie und wütende Empörung hervor. Selbst bei Ivo Bozic sind solche Regungen noch vorhanden. Doch wie ein Staatsanwalt stellt er beim Gedanken an die Massentierhaltung lapidar fest: »Tatsächlich erfüllen viele dieser Fabriken den Tatbestand der Tierquälerei.« Der Tatbestand der Tierquälerei ist durch das Tierschutzgesetz definiert. Die pure Existenz des Gesetzes ist ein bemerkenswertes Zugeständnis ans Mitgefühl und gegen die Ökonomie. Tierrechtlerinnen und Tierrechtler wollen dieses Zugeständnis radikalisieren und analog zu den allgemeinen Menschenrech­ten Leib- und Lebensrechte für Tiere durchsetzen.

Die Aufnahme von Tieren in die Gruppe der Rechtssubjekte wirft einige ethische Fragen auf und provoziert einen Teil der antispeziesistischen Tierrechts- und Veganerbewegung zu falschen Antworten. Sie unternehmen den idiotischen Versuch, die Grenze zwischen Menschen und Tieren aufzuheben. Auf einer klaren Grenzziehung zwischen Menschen und Tieren ist aber allein schon der Übersicht halber zu bestehen. Diese Grenze wird durch die unübersehbare Exzentrik der Spezies Mensch gerechtfertigt. Nicht gerechtfertigt wird dadurch die Gewalt, die im Namen dieser Exzentrik verübt wird. Die tierrechts­aktivistische Dummheit, wie sie unablässig von Teilen der veganen Bewegung oder von Tierrecht­lern demonstriert wird, ändert nichts an der Richtigkeit ihres Kernanliegens.
Einem reflektierten, linksradikalen – also politischen – Veganismus kann es nur um die gleichzeitige Befreiung von Mensch und Tier aus der Verwertungslogik gehen. Im Hinblick auf das Anfangs erwähnte Beispiel des Sexen bedeutet dies: Kein Tier soll mehr gesexed und verarbeitet werden, und kein Mensch soll mehr so einen elendig, stupiden Fließband-Sexer-Job machen müssen. Die sozialrevolutionäre Emanzipation des Menschen und die Befreiung der Tiere sind nicht dasselbe und dürfen nicht verwechselt werden. Das eine bedingt leider nicht das andere. Beides sind logische Folgerungen aus demselben Grund­gedanken und dem Aufbegehren gegen dieselbe gesellschaftliche Struktur. Ihr gemeinsamer axiomatischer Ausgangspunkt ist die Idee der Ab­schaffung von Fremdbestimmung, Ausbeutung und jedwedem unnötigen Leiden.
Töten ist generell nur in besonderen Situationen akzeptabel, also sollen auch keine Tiere getötet werden, wenn dazu keine Notwendigkeit besteht.