Interview mit Sigmar Gude über Gentrifizierung im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg

»Noch immer wird man als Krawattenträger in Kreuzberg 36 komisch angeschaut«

Reihe über Gentrifizierung in der Hauptstadt. Interview mit dem Stadtsoziologen Sigmar Gude, dessen jüngste Studie im Auftrag des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg über die Sozialstruktur im Bereich zwischen U-Bahnhof Prinzenstraße und Schlesischem Tor demnächst veröffentlicht wird

Sie haben gerade eine neue stadtplanerische Untersuchung über Kreuzberg 36 abgeschlos­sen. Welche neuen Erkenntnisse konnten Sie dabei gewinnen?

Kreuzberg verfügt über eine sehr viel größere Konstanz in der Bevölkerungsstruktur, als allgemein angenommen. Dies ist unsere zentrale Erkenntnis aus mehreren Untersuchungen seit 1985. Es findet weder eine Verslumung statt, noch kommt es zu solch enormen Aufwertungs­tendenzen wie am Prenzlauer Berg. Selbst der Anteil der Migranten mit etwa 50 Prozent der Bevölkerung hat sich seit der Wende nicht wesentlich verändert. Natürlich gibt es heute mehr »Deutsche«, aber dies ist vor allem der Einbürgerung geschuldet. Auch der Anteil der deutsch­stämmigen Mittelschicht hat sich nicht dramatisch verändert. Inzwischen drängen sogar wieder mehr Studenten nach Kreuzberg, die sich nach der Wende eher den Szenevierteln in Ostberlin zuwandten.

Im Augenblick sprechen viele, selbst konservative bürgerliche Zeitungen, von massiven Aufwertungsprozessen in Kreuzberg.

Richtig ist, dass die Mieten recht stark steigen. Während sie in Kreuzberg 36 noch zu Beginn der neunziger Jahre oft unter dem Mietpreisspiegel lagen, liegen sie nun oft darüber. Insbesondere bei Neuvermietungen liegt der Durchschnittpreis nun bei sechs Euro netto-kalt pro Quadratmeter. Diese Mietsteigerungen bedrohen inzwischen nicht nur die Armen, sondern eben auch den Mittelstand. Auch dieser muss heute rund ein Drittel seines Einkommens für die Warm-Miete ausgeben. Aber die Mieten steigen überall, nicht nur in Kreuzberg, und ins­be­sondere im unteren Marktsegment. Heutzutage streiten sich Menschen mit mittlerem und ge­ringem Einkommen um dieselbe Wohnung. Aber im Kern geht es um Existenzängste, die Miete nicht mehr bezahlen zu können, und diese Ängste koppeln sich mit der allgemeinen ökonomischen Unsicherheit.

Aber in Prenzlauer Berg hat doch real eine Gentrifizierung und Vertreibung stattgefunden?

Dort stimmt dies, dazu später mehr, aber wir reden hier erst mal über Kreuzberg 36. Da geht es nicht um Vertreibung, weil es keine anderen Gebiete zum Ausweichen mehr gibt. Es gibt Indi­katoren für eine Aufwertung, wie zum Beispiel, dass mehr kinderlose Haushalte mit über­durch­schnittlichem Einkommen nach Kreuzberg 36 kommen. Dem steht die Abwanderung von gutsituierten Haushalten mit Kindern ins Grüne gegenüber. Dies passiert aber überall, dies ist kein spezielles Kreuzberger Phänomen. Und zurück bleiben eher die armen Haushalte mit Kindern. Es findet eine Polarisierung zwischen gutsituierten Haushalten ohne Kinder und armen Haushalten mit Kindern statt. Dazu kommt das Schulproblem, denn viele bildungsorientierte Eltern würden sogar gerne in Kreuzberg bleiben, aber in den Schulen fehlt es an Personal und Sprachprogrammen für die Kinder aus eher bildungsfernen Schichten. Weil Schule inzwischen einen ganz anderen gesellschaftlichen Stellenwert hat, finden sie die von ihnen gewünschte Qualität nicht vor Ort. Die vielen Privatschul-Initiativen sind der Versuch, bleiben zu können.

Aber Sie haben in Kreuzberg 36 auch Aufwertungs-Tendenzen entdeckt?

Ja, kleinräumig, besonders im Kiez um die Reichenberger Straße lassen sich solche Tendenzen beobachten. Im Reichenberger Kiez hatte sich die ursprüngliche Kreuzberger Bevölkerung in den siebziger Jahren am längsten gehal­ten, hier sind die Migranten und das alternative Milieu erst später eingewandert. Aber dort gab es schon immer edles Wohnen am Paul-Lincke-Ufer, und an diese erste Reihe dockt sich nun eine zweite Reihe in den Nebenstraßen an. Nicht um­sonst gibt es hier die »Car-Lofts«. Dieses Gebiet eignet sich auch von der Bausubstanz her am ehesten für gehobenes Wohnen, anders als am Kottbusser Tor oder in der Wrangelstraße.

Im Wrangel-Kiez geht nun insbesondere die Angst vor der nahegelegenen Mediaspree um, zu Recht?

Ja und nein. Ja, weil es auch dort eine leichte Tendenz des Zuzugs von kinderlosen ein­kom­mens­starken Haushalten gibt, trotzdem ist es nicht vergleichbar mit den Prozessen am Prenz­lauer Berg. Die Menschen halten ihre Miet­er­höh­ungen in den Händen, und da ist Gentri­fi­zie­rung natürlich die erste Erklärung. Und in so einer Situation wird Mediaspree als zusätz­liche Bedrohung empfunden. Wegen der Vertragsfreiheit der Vermieter kursieren diese Ängste beson­ders bei den Gewerbemietern. Aber nach meiner Erfahrung wirkt sich so etwas wie Mediaspree nicht in unmittelbarer Nachbarschaft aus. So führte der Potsdamer Platz nicht zu einer Aufwertung des Viertels rund um die Lützow­straße. Der Daimler-Manager mit dem hohen Ein­kom­men sucht eher eine gute Verkehrsanbindung für sein Auto, um in den grünen Randlagen wohnen zu können. Dies wird auch bei Mediaspree passieren. Selbst den gut bezahlten Kreativen, der nicht ins Grüne will, zieht es eher ans Paul-Lincke-Ufer oder in den Prenzlauer Berg als in den Wrangelkiez.

Warum?

Weil es dort viel zu viele Widerstände gibt. Dies fängt an bei der Qualität der Wohnungen bis hin zur eher widerständigen Bevöl­ke­rungs­struk­­tur. Das »Bionade-Biedermeier« kann hier keine »vollständig befreiten« deutschstämmigen Zonen schaffen wie in Mitte oder im Prenzlauer Berg. Deshalb kommen nur Leute nach Kreuzberg, die mit dieser Mischung leben können. Als Besitzer eines hochwertigen Autos würde ich in der Wrangelstraße nicht ruhig schlafen können. Vielleicht stoßen die »Car-Lofts« in der Nähe des Paul-Lincke-Ufers, wo man sein Auto neben sein Bett stellen kann, ja auch bewusst in diese Marktlücke. Und noch immer wird man als Krawattenträger in Kreuzberg 36 komisch angeschaut. Auch bräuchte eine solche Umstruk­turierung eine ganz andere Nachfrage, wie zum Beispiel in London oder Paris, die ich nicht sehen kann. Dafür fehlen in Berlin Hundert­tausende von Arbeitsplätzen.

Wie verhält sich eigentlich die migrantische Bevölkerung?

Die verhalten sich gar nicht, weil sie die Schwächs­ten sind, sondern versuchen durch­zukommen. Ursprünglich hatte ihnen die ­be­hutsame Stadter­neuerung viele Vorteile gebracht, aus katastrophal ausgestatteten und überbelegten Wohnungen wurde eine Wohnung mit Bad, was gerade bei türkischen Fa­milien einen großen Wert darstellt. Nun steigen die Mieten kontinuierlich, gleichzeitig sinken gerade ihre Realeinkommen. Knapp die Hälf­te ist arbeitslos. Die Kinder sind aus dem Haus, und es gibt keinen Nachzug von Onkeln und Tan­ten aus der Türkei mehr. Deshalb kommen insbesondere ältere türkische Haus­halte nicht mehr mit der Miete klar und brauchen staatliche Hilfen. Ausziehen bringt nichts, denn gerade neue Wohnungen sind ja teuer. Sie sind in ihrer Situa­tion festgenagelt. Nur die junge türkische Mittel­schicht zieht weg, denen ist es in Kreuzberg »zu eng« und »zu türkisch«.

Wie sieht es in anderen Teilen der Stadt aus?

Am Prenzlauer Berg und in Mitte hat eine umfassende Gentrifizierung stattgefunden. Von den Menschen, die 1993 rund um den Kollwitzplatz wohnten, leben heute noch 18 Prozent dort. Selbst das mittelständische Berliner Bür­ger­tum beklagt sich inzwischen über ihre Vertreibung aus den Kernzonen von Mitte, weil es die Mieten nicht mehr bezahlen kann. Doch die Nachfrage nach diesen hochpreisigen Quartieren ist begrenzt. In Kreuzberg 36 wohnen rund 33 Prozent der Bevölkerung schon länger als 20 Jahre im Stadtteil. Dabei gibt es in den Altbaugebieten einer Großstadt einen natürlichen Bevölkerungsaustausch, der liegt bei etwa zehn bis zwölf Prozent pro Jahr. Dies ist kein An­zeichen für Vertreibung, sondern die Leute kom­men und gehen.

Welche Faktoren stehen einer Gentrifizierung entgegen?

Nicht jedes Gebiet eignet sich, die Nachfrage ist begrenzt, und Leute die so etwas suchen, stören sich an den ärmeren Migranten. Wenn man die nicht los wird, ziehen sie nicht hin. Auch braucht man, um den Charakter eines Viertels insgesamt zu verändern, immense Investitionen. Zum Beispiel um aus dem gnadenlos übernutzten Görlitzer Park eine Flaniermeile für Bürger zu machen.

Wie sehen Sie die Rolle der »Szene« als »Aufwerter«?

Nach der Gentrifizierungstheorie braucht es diese »Raumpioniere« mit ihren Kneipen, Bouti­quen und sonstigem kulturellen Angebot, um ein Gebiet aufzuwerten. Dieser Prozess funktionierte bilderbuchhaft am Kollwitzplatz. In Kreuz­berg 36 gibt es diese Boutiquen auch, aber sie dominieren das Gebiet nicht. Dies ist ein Mangel der Gentrifizierungstheorie – dass sie nicht erklären kann, warum diese Prozesse manchmal auf einer bestimmten Ebene stagnieren. Dies war und ist in Kreuzberg 36 so. Selbst wenn die GeWoBe im Wedding leere Ladenlokale mit Künstlern besetzt, führt das nicht automatisch zu einer Aufwertung. Dies wird auch in Nord-Neukölln nicht gelingen. Denn gerade der Zuzug der eher einkommensschwachen Studenten führt zu einer Stabilisierung des Stadtteils, weil sie für eine positive Mischung sorgen. Diese Gegenentwicklungen werden von den Gentrifizierungstheoretikern immer unterschätzt. Eine Großstadt ist wie ein Tanker, der 20 Seemeilen braucht, um die Richtung zu ändern.

Wie sehen Sie Kreuzberg 36 im Jahr 2020?

Ich sehe nicht so viel Veränderung, es wird sich keine Gentrifizierung durchsetzen. Es wird weiter viele Arme und Migranten geben, diese Konstanz ist seit Mitte der achtziger Jahre da. Mit Wellenbewegungen mal in die eine oder andere Richtung wird das in Kreuzberg 36 so bleiben.

Interview: Christoph Villinger