Die deutsche Annexion der Tschechoslowakei vor 70 Jahren und die Vertriebenen-Debatte

Mitleid mit uns selbst

Warum die Vertriebenen und diejenigen, die sich heutzutage für solche halten, ­obwohl sie nie vertrieben worden sind, bis heute den Unterschied zwischen Ursachen und Folgen nicht begreifen. Samuel Salzborn stellt anlässlich des 70. Jahrestages der deutschen Annexion der Tschechoslowakei Überlegungen zu den deutsch-tschechischen Beziehungen an.

Wer beim »Leitwort« der Sudetendeutschen Landsmannschaft für das Jahr 2008 auf einen selbstkritischen Einschlag oder gar eine Form von reflexivem Umgang mit der eigenen Vergangenheit gehofft hatte, sah sich, wie so oft, enttäuscht: Der Vertriebenenverband ignorierte die geschichtspolitische Verant­wortung, die ihm – aufgrund der massiven propagandistischen und terroristischen Aktivitäten der Sudetendeutschen in den zwanziger und dreißiger Jahren bei der Zerstörung der letzten demokratischen Insel in Mitteleuropa – anlässlich des 70. Jahrestages der Zerschlagung der Tschechoslowakei im Jahr 1938 durch das Münchner Abkommen faktisch zukommt. Statt mit einem Bekenntnis zur erinnerungspolitischen Verantwortung und einer Verurteilung der sudetendeutschen Politik in der Zwischenkriegszeit wartete die Sudetendeutsche Landsmannschaft mit dem Slogan »Für Heimat und Menschenrecht« auf. Mit diesem wurde abermals nur die eigene Perspektive betont und die eigenen Ansichten wurden derart überhöht dargestellt, dass sogar die politische Forderung nach einem »Heimatrecht« zum geltenden Recht verklärt wurde, wie im Leitartikel der das Motto erklärenden Ausgabe der Sudetendeutschen Zeitung (1) – obgleich das von den Vertriebenenverbänden geforderte »Recht auf die Heimat« sogar in deutlichem Widerspruch zu geltendem Recht in der Europäischen Union, explizit der Niederlassungsfreiheit, steht.
Zugegeben: Wohl kaum ein kritischer Beobachter der Geschichte und Politik der Sudetendeutschen Landsmannschaft würde ernsthaft annehmen, dass diese einen konstruktiven Beitrag zu den deutsch-tschechischen Beziehungen leisten könnte. Denn viel zu deutlich ist die völkische Orientierung des Verbandes, viel zu klar der Unwille, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten. (2) »Fordern statt forschen« könnte ebenso ein Motto des Verbandes sein wie »Projektion statt Verantwortung«. Doch angesichts dessen, dass wohl kaum jemand von dem Vertriebenenverband einen positiven Impuls für die konstruktive Weiterentwicklung der deutsch-tschechischen Beziehungen erwartet, scheint es doch mehr als verwunderlich, dass es bisher alle Bundesregierungen versäumt haben, sich klar und unmissverständlich von der Politik der Vertriebenenverbände zu distanzieren – was nicht nur wichtig für eine selbstkritische Aufarbeitung der deutschen Nachkriegsgeschichte wäre, sondern auch die Möglichkeit für einen gleichberechtigten deutsch-tschechischen Dialog eröffnen würde. Einen Dialog, bei dem nicht eine Seite – die Tschechische Repu­blik – immer wieder mit der Frage konfrontiert würde, ob ihre Souveränität nicht durch die Am­bivalenz der deutschen Regierung gegen­über den Vertriebenenverbänden doch indirekt in Fra­ge gestellt wird.
Denn die deutsch-tschechischen Beziehungen werden seit Jahren belastet von den Forderungen der Vertriebenenverbände, insbesondere denen der Sudetendeutschen Landsmannschaft.
Die Vertriebenenverbände haben in den letzten Jahrzehnten, aber auch und vor allem in jüngster Vergangenheit anlässlich der Debatten über ein »Zentrum gegen Vertreibungen«, die so genannten Beneš-Dekrete oder den Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union deutlich gemacht, dass ihre Sicht auf die Geschichte nicht vereinbar mit historischen Tatsachen und somit einem demokratischen, durch­aus kontrovers geführten Dialog zwischen der Bundesrepublik Deutsch­land und der Tsche­chischen Republik über die gemeinsame Vergangenheit abträglich ist. Deshalb werden hier die Vertriebenenverbände als geschichtspolitischer Störfaktor in den Mittelpunkt der Analyse gerückt, da ihre öffentlichen Artikulationen dem Verhältnis zwischen Deutschland und Tsche­chien schaden: Denn die deutsch-tschechischen Beziehungen sind hinsichtlich der gemeinsamen Vergangenheit politisch und juristisch mit einem tragfähigen Fundament versehen und die Debatten über die Geschichte Gegenstand wissenschaftlicher Aufarbeitung. Gerade deshalb sind sie auch nicht geeignet zur Instrumentalisierung zu gegenwärtigen politischen Zwecken, etwa zur Durchsetzung eines völ­kischen »Rechts auf die Heimat« oder eines ethnisierenden »Volks­gruppenrechts«.
Im Blickpunkt der Analyse steht insofern die geteilte Erinnerung als Herausforderung für die Zukunft der deutsch-tschechischen Beziehun­gen. Es existieren zwei große Narrative der deutsch-tschech(oslowak)ischen Geschichte, die sich historisch ausschließen: die sudetendeutsche und die tschech(oslowak)ische Erzählung, deren Folge Kommunikationsschwierigkeiten sind, da die sudetendeutsche Darstellung der ge­meinsamen Geschichte auf tschechischer Seite zumeist den Eindruck auslöst, etwas völlig Unbekanntes berichtet zu bekommen (und umgekehrt), da es von den eigenen Erzählungen nahezu vollständig abweicht. Die Feststellung der Existenz einer solchen geteilten Erinnerung soll­te aber nicht mit postmoderner Beliebigkeit verwechselt oder gar in diese aufgelöst werden. Zentral ist politisch und öffentlich nicht in erster Linie, was erinnert wird (die hohe Relevanz der Erinnerung für das Individuum sollte nicht über die bewussten und vor allem auch unbewussten Modellierungen von Geschichtsbildern hinwegtäuschen, die für Individuen wie Kollektive sinnstiftend generiert werden, aber der historischen Faktizität widersprechen), sondern was war, wobei es inzwischen fast zum Allgemeingut wissenschaftlicher Forschung geworden ist, dass die sudetendeutsche Sicht auf die gemeinsame Vergangenheit nur sehr wenig mit der historischen Realität korrespondiert.
Da die Sudetendeutsche Landsmannschaft in der innerdeutschen Diskussion aber oftmals wie ein gleichberechtigter Akteur erscheint (die immer wieder zu vernehmende Forderung der Landsmannschaft, direkt an Gesprächen mit der tschechischen Regierung teilnehmen zu wollen, ist Bestandteil einer solchen gestörten Wahr­nehmung, da sie in den Medien nicht als völlig absurd dargestellt wird), werden ihre Politikkon­zepte analysiert und das Handeln der Vertriebenenverbände wird in wesentlichen erinnerungs­politischen Debatten dargestellt. Auch zur Sprache kommt die außenpolitisch überaus bedeutsame Konstruktion einer »Vererbbarkeit« des Vertriebenenstatus, die theoretische wie praktische Formierung einer »sudetendeutschen Volksgruppe«, die Entstehung und Entwicklung der außenpolitischen Konzepte der Vertriebenenverbände, die erinnerungspolitischen Schwer­punkte der Vertriebenenpolitik der letzten Jahre sowie die Versuche der Vertriebenenverbände, in die nationale Souveränität der Tschechischen Republik einzugreifen, etwa im Rahmen der Debatten über die tschechoslowakische Dekretalgesetzgebung im Kontext des tschechischen EU-Beitritts.
Der zeitgeschichtliche und politische Hintergrund der hier vorgestellten Analyse ist der 70. Jahrestag des Münchner Abkommens in diesem Jahr – als Jahrestag des institutionellen Beginns der deutschen Annexion der Tschechoslowakei 1938. Die – angesichts der bei der Sudetendeutschen Landsmannschaft bestehenden Unwilligkeit zur (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit – eigentlich dringend gebotene öffentliche Ignoranz gegenüber den Forderungen der Vertriebenenverbände mit dem Ziel eines gleichberechtigten deutsch-tschechischen Dialogs über die gemeinsame Vergangenheit und vor allem die Zukunft wäre anlässlich dieses Jahrestages real­politisch von deutscher Seite in einem symbolischen Akt durchaus aufzugreifen, etwa durch eine eindeutige politische Distanzierung von einem (gegen EU-Recht verstoßenden) »Recht auf die Heimat«, die endgültige Absage an alle Vermögensforderungen der Vertriebenenverbände oder den künftigen Verzicht auf die Teilnahme von Regierungspolitiker(inne)n an revisionistischen Vertriebenenveranstaltungen wie dem »Tag der Heimat« oder dem »Sudetendeutschen Tag«.
Dass ein derartiges Handeln bisher von der deutschen Politik nicht in hinreichendem Maße in Erwägung gezogen wurde, hat etwas mit den Ambivalenzen der geteilten Erinnerung zu tun, bei der neben den beiden großen Nar­rativen auch nach wie vor in Deutschland kein politischer Konsens über die Ablehnung der Forderungen der Vertriebenen besteht, also die deutsch-tschech(oslowak)ische Geschichte auch innenpolitisch in Deutschland nach wie vor ein stark umkämpftes erinnerungspolitisches Feld darstellt. Und damit zeigt sich, dass der Umgang mit Geschichte politisch ist, denn nichts ist derart politisiert wie Geschichte, sowohl hinsichtlich ihres tatsächlich erinnerten Gehalts, wie auch in Bezug auf ihre sinnstiftende Funktion durch die Formung der Vergangenheit in der Gegenwart.
Es ist eine Trivialität, darauf hinzuweisen, dass kein moderner Staat ohne eine eigene geschichtsphilosophische Interpretation zu existieren in der Lage ist. Kein Nationalstaat, ganz gleich, ob völkisch oder republikanisch konstituiert, kommt ohne Vergangenheitsbilder, ohne nationalpolitische Erinnerung aus. Dies wurde von der neueren Nationenforschung eindrucksvoll herausgearbeitet. (3) Johannes Fried hat in diesem Zusammenhang zu Recht be­tont, dass Vergangenheit dabei in der Gegenwart stets neu geschaffen werde und sich unbewusst aus unterschiedlichen, diachronen Elementen erinnerten Geschehens konstituiere. Geprägt durch die Erfordernisse der Gegenwart, so Fried, werden auf diese Weise »stimmige Ver­gangenheitsbilder« geformt, die aufgrund ihres erzählten bzw. erinnerten Gehaltes erheblich vom tatsächlichen Geschehen abweichen können. (4)
Auch wenn für den formalen Vorgang der geschichtspolitischen Sinnstiftung die politische Verfasstheit eines staatlichen Systems unerheb­lich ist, gilt dies im umgekehrten Sinn in keiner Weise. Denn Prozesse der Mythologisierung und Heroisierung können gleichermaßen demokratische Systeme in ihrer Existenz historisch stützen, wie sie dazu dienen können, völkische Mythologien wie etwa die der Sudetendeutschen Landsmannschaft sinnstiftend für den nationalen Alltag zu manifestieren und in praktische Handlungsanleitungen zu transformieren. Was in diesen Prozessen letztlich zur Geschichte erklärt wird, ist in aller Regel nicht von den historischen Fakten abhängig, sondern von ihrer Interpretation durch Politik, Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit. Und wer dabei »die Zukunft gewinnen« will, muss, wie Michael Stürmer betont hat, die Erinnerung füllen, die Begriffe prägen und die Vergangenheit deuten. (5)
Der Kampf um das Geschichtsbild wird in der Gegenwart um die Zukunft geführt. Das Verhält­nis von reflexivem Erinnern und identitärer Sinnstiftung markiert das geschichtspolitische Feld, wobei die wesentliche Frage darin besteht, ob Geschichte adäquat interpretiert oder lediglich verwertet werden soll. Während die interpretative Variante einer kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit zuneigt, zielt die an der Verwertung orientierte auf die Instrumentalisierung der Vergangenheit und stellt in ihrer Verwertungslogik darauf ab, was von Adorno in anderem Zusammenhang treffend als die am Tausch­prinzip orientierte Spießbürgersorge beschrieben wurde, sich daran zu orientieren, was für das eigene Tun zu bekommen sei. (6)
Gegenstand der von den Vertriebenenverbänden im allgemeinen und von der Sudetendeutschen Landsmannschaft im besonderen initiierten und mitgetragenen Debatten ist immer eine Auseinandersetzung mit den Folgen von Flucht und Vertreibung der deutschen Minderheiten aus Osteuropa infolge des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs. Problematisch an dem Verhalten der Landsmannschaften in diesen Debatten ist dabei nicht, den Gegenstand Flucht und Vertreibung als solchen zu thematisieren und sich um eine adäquate Einordnung und Interpretation zu bemühen. Zu kritisieren ist vielmehr die Art und Weise, in der diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geschieht. Hier ist der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer zuzustimmen, wenn sie sagt, dass eine politische Organisierung entlang des Themas »Vertreibung« zu verstehen sei als das Interesse an der Wachhaltung des Erfahrenen – allerdings »nicht im Sinne des Mitleids, sondern im Sinne einer offenen Rechnung«. (7) Denn es geht in dem maß­geblich von den Vertriebenenverbänden initiierten neuen deutschen Opferdiskurs gerade nicht um die Auseinandersetzung mit dem individuellen Schicksal und Leid der betroffenen Menschen, sondern um den Versuch einer Inter­pretation von Flucht und Vertreibung als kollektiv zu sanktionierendes Unrecht. Dabei steht nicht die Aufklärung über die Vergangenheit im Zentrum, sondern das Bestreben nach Schaf­fung und Formung einer kollektiven Opferidentität:
»Die Deutung der Vergangenheit wird dabei nicht nur zum Streitfall, sondern sie kann auch, national wie international, zum Ziel politischer Einflussnahme werden – sei es, um bestimmte Inhalte kollektiver Identität zu beeinflussen, sei es, um politische Gegner mit historischen Argumenten zu bekämpfen, sei es, um in den internationalen Interessenkonflikten Ansprüche historisch zu rechtfertigen.« (8)
Durch die Kollektivierung der individuellen Geschichte(n) soll der historische Kontext revidiert werden. Einerseits werden so die Ursachen von Flucht und Umsiedlung negiert, andererseits wird zugleich die Legitimität der Folgen in Frage gestellt. Denn die Delegitimation der antifaschistischen Neuordnung Europas nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus durch die Alliierten wird erst durch die Zerlegung der Geschichte in scheinbar unzusammenhängende Zufälle möglich; erst wenn Flucht, Vertreibung und Umsiedlung der Deutschen nicht mehr im Kontext des Nationalsozialismus betrachtet werden, besteht die Möglichkeit der moralischen Entlastung und der Forderung nach der kollektiven Sanktionierung der Vertreibung als Unrecht.
Auf diese Weise findet zugleich auch eine Entpolitisierung der Geschichte statt, denn diese wird nicht mehr in ihren kausalen Zusammenhängen und Kontexten dargestellt und interpretiert, sondern lediglich empirisch-segregiert erfasst. Der diesem Prozess innewohnende Hang zur Moralisierung, der sich am deutlichsten daran zeigt, dass von vielen Vertriebenen nur äußerst selten sachlich über Flucht und Um­siedlung der Deutschen gesprochen werden kann, ohne dabei in Termini des Größenwahns zu verfallen, gehört aber notwendigerweise auch zur bewussten politischen Strategie. Denn diese im Sinne einer enthistorisierten Politik entpolitisierte Argumentation erhofft sich gerade durch ihren Appell an das Gefühl und an die Moral Zustimmung.
Es handelt sich dabei um einen Prozess, den Sabine Moller als Entkonkretisierung beschrieben hat (9); eine auf die Entkontextualisierung folgende Moralisierung, bei der alles mit allem vergleichbar wird, weil die Fakten bis zur Sinnleere entstellt sind. Die Komplexität der Wirklichkeit wird durch emotionale Regression auf omnipräsent scheinende Fragmente reduziert. So greift jede Analogie, da ihre Adressaten sich keines erkenntnis- und bewertungstheoretischen Kontextes der Aussage mehr bewusst sind, sondern lediglich nach den ontologischen Kriterien von »Gut« und »Böse« scheiden, die als analytische Kategorien per se unbrauchbar sind. (10) Ursache eines solchen Reflexes ist nicht zuletzt die marginale Transparenz der Befassung mit dem Nationalsozialismus, der einem Artefakt gleich behandelt wird, ohne sich seiner Realität in historischer und politischer Dimension bewusst zu sein. Denn hätte es wirklich eine Aufarbeitung der Vergangenheit im Sinne Adornos gegeben, bei der man »das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewusstsein«, (11) wäre die Befassung mit dem Thema Flucht und Vertreibung in der Gegenwart eine gänzlich andere.
Der Charme des Opferstatus hingegen ist so verlockend, dass schon fast des Vaterlandsverrats und der Nestbeschmutzung geziehen wird, wer es wagt, auf die Inkorrektheit der Klassifizierung von Flucht und Vertreibung als Unrecht hinzuweisen. Nicht nur, dass die Umsiedlung der Deutschen in Konsequenz auf den Nationalsozialismus erfolgte. Sie wurde in dem bis heute gültigen Potsdamer Abkommen (Artikel XIII) völkerrechtlich verbindlich festgelegt. Dass mit einer Anerkennung von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung als Unrecht auch materielle Konsequenzen verbunden sein würden, ist aufgrund des Rechtscharakters des Begriffs evident. Wie diese Konsequenzen im einzelnen aus­sehen könnten, darauf gab der über Monate anhaltende Kampf gegen die so genannten Beneš-Dekrete einen Vorgeschmack – von denen nur einige wenige überhaupt die Behandlung der deutschen Minderheit zum Gegenstand hatten, während sie hauptsächlich die Staatlichkeit und Souveränität der Tschechoslowakei und in deren Folge die der heutigen Tschechischen Republik garantier(t)en. Unabhängig von der normativen Bedeutung dieser Diskussion in Bezug auf den EU-Beitritt der Tschechischen Re­publik verdeutlichte ein Großteil der entsprechenden politischen Erklärungen den besonders bei konservativen Kräften bestehenden Unwillen, die geschichtliche Realität anzuerkennen und sich mit den historischen Reaktionen auf die nationalsozialistische »Volkstums«- und Ver­nichtungspolitik abzufinden. Und das hieße anzuerkennen, dass trotz allen individuellen Leids und aller individueller Ungerechtigkeit die Umsiedlung der Deutschen die notwendige Konsequenz einer NS-Politik war, in der eben jene deutschen Minderheiten (bzw. wie es damals hieß: »Volksdeutschen«) soziale und politische Konflikte geschürt hatten, die eine wesent­liche Voraussetzung für die Zerschlagung der osteuropäischen Nationalstaaten darstellten.
Diese Politik bildete die Grundlage der NS-Außenpolitik, zumindest so lange, wie diese ihre Interessen nicht auf kriegerischem Weg verfolgt hat. Die Umsiedlung der Deutschen sollte im seinerzeitigen Verständnis das künftige Konfliktpotenzial in Osteuropa verringern. Denn die deutsche »Volkstumspolitik« war ein zentraler Aspekt der Vorbereitung und Verwirklichung der deutschen Eroberungs- und Vernichtungspolitik. Durch die Moralisierung und Frag­mentierung der Geschichte wird zugleich auch die historische »Volkstumspolitik« in ihrer tatsächlichen Relevanz marginalisiert und moralisch entlastet, was die Möglichkeit der Exekution völkischer Konzepte in der Gegenwart sichert. (12)
Zentral ist dabei, dass die geteilte deutsch-tschech(oslowak)ische Erinnerung zugleich auch auf eine »zerklüftete Erinnerungslandschaft« (Eva Hahn/Hans Henning Hahn) (13) in Deutsch­land verweist, was auch der ausschlaggebende Grund dafür sein dürfte, dass bundesdeutsche Regierungen sich bisher so schwer getan haben mit eindeutigen Absagen an die Politik der Vertriebenenverbände. Denn obgleich die bundesdeutsche Politik seit der osteuropäischen Transformation von 1989/90 faktisch darauf zielt, den außenpolitischen Handlungsspielraum der Vertriebenenverbände zu minimieren (etwa durch die Grenz- und Nachbarschaftsverträge mit den osteuropäischen Nachbarn), gilt dies mit­nichten für das erinnerungspolitische Feld, das gekennzeichnet ist von einem Lavieren und einer Politik der konsequenten Inkonsequenz: Jeder Kritik an den Vertriebenenverbänden, so sie überhaupt geäußert wird, folgen Relativierungen und Zugeständnisse an die Verbände, de­ren erinnerungspolitische Hoheit über den Komplex »Flucht und Vertreibung« nicht generell in Frage gestellt wird, obgleich dies aufgrund von sozial- und geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen dringend geboten wäre.
Ein symbolisch überaus bedeutsames Beispiel für die Verknüpfung einer außen- und erinnerungspolitischen Eindeutigkeit der bundesdeutschen Politik wäre eine eindeutige, offizielle Absage an ein von den Vertriebenenverbänden gefordertes »Recht auf die Heimat«, dessen völkerrechtliche Anerkennung die Souveränität der osteuropäischen Staaten, insbesondere der Tschechischen Republik und der Republik Polen, fundamental in Frage stellen würde. Denn auch wenn ein »Recht auf die Heimat« im europäischen Rechtskontext nicht nur ein antiliberaler Fremdkörper wäre, sondern auch gegen fundamentale Normen wie die Niederlassungsfreiheit verstoßen würde, wäre eine von einer deutschen Regierung formulierte politische Absage an eine solche Forderung der Vertriebenenverbände ein überhaus wirkungsvolles erinnerungspolitisches Signal gegenüber den osteuropäischen Nachbarn, das zugleich außenpolitische Wirkung hätte. Denn erst die Verknüpfung einer materiell (außenpolitisch) und ideell (erinnerungspolitisch) unmissverständlichen Ablehnung der Forderungen der Vertriebenenverbände seitens der Bundesrepublik würde gegenüber den osteuropäischen Nachbarn deut­lich machen, dass die Perspektive der wechselseitigen Beziehungen in einer Zukunft liegt, die nicht einseitig mit der Vergangenheit belastet werden soll – weder durch materielle, noch durch ideelle Forderungen.
Den sozialpsychologischen Hintergrund der bezüglich der Forderungen der Vertriebenenverbände bestehenden innerdeutschen Ambivalenzen bildet eine neurotische Involvierung weiter Teile der bundesdeutschen Gesellschaft in den Themenkomplex »Flucht und Vertreibung«. Der Mythos der »Selbstviktimisierung« (Katrin Hammerstein) (14) existiert bereits seit der Gründung der Bundesrepublik und wurde bis heute – nachdem Deutschland seine volle staatliche Souveränität erlangt hat und somit staatsrechtlich betrachtet erwachsen geworden ist – nicht als infantiles Relikt abgelegt, sondern ausgiebig gepflegt. Mit Sigmund Freud lässt sich in diesem Kontext von dem überindividuellen Bemühen um erinnerungspolitische »Schiefheilung« sprechen, (15) dem Versuch der Kompensation eigener Schuld, die nicht hinreichend reflektiert oder aufgearbeitet wurde, durch die Kultivierung eines projektiven Mythos kollektiver Unschuld. Im Lauf der Zeit wird die Last der verdrängten und inzwischen intergenerativ tradierten Schuld dabei offenbar immer stärker, was zugleich auch die Kompensationsbemühungen, Verdrängung und Verleug­nung, zunehmen lässt – bis hin zu der von den Vertriebenen gewünschten Monumentalisierung des Mythos kollektiver Unschuld durch ein deutsches »Zentrum gegen Vertreibungen«.
Das zentrale politische wie psychologische Pro­blem in diesem Prozess projektiver Abwehr ist nach wie vor die ausbleibende kritische Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit: Denn die nicht selten seltsam anmutenden Bußrituale in der deutschen Öffentlichkeit haben – durch das Auflösen der konkreten Taten in abstrakte Gewaltphänomene, in die Phantasie von situativen Handlungszwängen oder die Egalisierung von Opfern und Tätern in einem allgemeinen und diffusen Ohnmachtsgefühl – oft mehr von einer Entlastung der Täterschaft der eigenen Eltern und Großeltern, als dass sie Ausdruck des Versuchs wären, die nationalsozialistische Barbarei in den jeweiligen Familiengeschichten auf- und durchzuarbeiten, sie zu reflektieren und somit dem Zwang zur Wiederholung des ri­tuellen Gedenkens ohne reale Erinnerung entkommen zu können:
»Statt sich hinter der Abwehr zu verschanzen und immer weitere Beweise zu sammeln, um sich vor den Zumutungen der Selbsthinterfragung zu schützen, sollten die Deutschen die Herausforderung annehmen und die Normalität der Verbrechen als Produkt einer spezifischen politischen Kultur und Mentalitätstradition begreifen. Eine solche Auseinandersetzung erweist sich als umso dringender, als die aktuelle Situation in Deutschland mit ihren besonders intensiven Selbstverständnisdebatten genügend Anlass bietet, die eigene ›Normalität‹ anzuzweifeln.« (16)
Als zentrale erinnerungspolitische Erkenntnis muss hierbei gelten, was Elisabeth Brainin, Vera Ligeti und Samy Teicher über die Massenvernich­tung der europäischen Juden aus psychoanalytischer Perspektive gesagt haben: »Man kann diese Realität nur als solche wahrnehmen, verarbeiten kann man sie nicht.« (17) Die Wiederkehr des Verdrängten ermöglicht nur dann einen Ausweg in Richtung kritischer Aufarbeitung der Vergangenheit, wenn die Generation der Kinder und Enkel der deutschen Täterinnen und Täter die Erkenntnis zulässt, dass das NS-Regime (auch und besonders in den so genannten Sudetengebieten) eine große Zustimmung in der deutschen Bevölkerung hatte – also bei den eigenen Eltern und / oder Großeltern, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen an der Massenvernichtung der europäischen Juden aktiven und passiven Anteil hatte (sei es durch aktives Handeln bei Enteignungen, Plünderungen, Denunziationen, Erschießungen, Deportationen usw., sei es durch Beschweigen und Unterlassen von Widerstand, sei es durch die Verbreitung von antisemitischen und rassistischen Ressentiments, sei es durch das Verschweigen der Verbrechen oder das Profitieren aus Zwangsarbeit und »Arisierung«) und dass die »Volkstums«- und Vernichtungspolitik deshalb in einer derart barbarischen Weise in die Tat umgesetzt werden konnte, weil es einen sehr weitreichenden Konsens zwischen der NS-Führung und der deutschen Bevölkerung gab. Insofern würde es gleichermaßen um ein Auf- und Durcharbeiten im kollektiven Gedächtnis der Nation, aber andererseits auch im individuellen Sinn der eigenen Familiengeschichte gehen:
»Man darf vielleicht sagen, dass eigentlich nur der vom neurotischen Schuldgefühl frei ist und fähig, den ganzen Komplex zu überwinden, der sich selbst als schuldig erfährt, auch an dem, woran er im handgreiflichen Sinne nicht schuldig ist.« (18)
So lange allerdings, wie die Schuld und die Ver­antwortung für die nationalsozialistische »Volkstums«- und Vernichtungspolitik projiziert werden und innenpolitisch in Deutschland nicht alle Versuche der Täter-Opfer-Inversion kategorisch zurückgewiesen werden, bleibt eine kritische Aufarbeitung der Vergangenheit stets auch aufgrund der halbierten Empathie des neuen deutschen Opferdiskurses unmöglich, da die Trauer um die Opfer des Nationalsozialismus abgewehrt wird zugunsten des Mitleids mit sich selbst. (19) Eine Voraussetzung für eine konstruktive Gestaltung der deutsch-tschechischen Beziehungen in der Zukunft wäre, dass die Bundesrepublik sich ihrer erinnerungs­politischen Verantwortung stellt und Abstand nimmt von der bisherigen Politik der konsequen­ten Inkonsequenz.

Anmerkungen
1) Vgl. Rudolf Grulich: Für Heimat und Menschenrecht, in: »Sudetendeutsche Zeitung« v. 18. Januar 2008.
2) Vgl. Erich Später: Kein Frieden mit Tschechien. Die Sudetendeutschen und ihre Landsmannschaft, Hamburg 2005; Tobias Weger: »Volkstumskampf« ohne Ende? Sudetendeutsche Organisationen 1945–1955, Frankfurt a.M. 2008.
3) Hier ist insbesondere auf die Arbeiten von Benedict Anderson (Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London 1983), Ernest Gellner (Nations and Nationalism, Ithaca 1983) und Eric J. Hobsbawm (Nations and Nationalism since 1780. Programme, myth, reality, Cambridge 1990) hinzuweisen.
4) Vgl. Johannes Fried: Erinnerung und Vergessen. Die Gegenwart stiftet die Einheit der Vergangenheit, in: »Historische Zeitschrift«, H. 3/2001, S. 561ff.
5) Vgl. Michael Stürmer: Geschichte in geschichtslosem Land, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung« v. 25. April 1986.
6) Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band 7, Frankfurt a.M. 1997, S. 373.
7) Antje Vollmer: Tiefe Resignation. Interview in: »Süddeutsche Zeitung« v. 9. Februar 2002.
8) Peter Steinbach, Geschichte und Politik – nicht nur ein wissenschaftliches Verhältnis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung »Das Parlament«, 6. Juli 2001, S. 7.
9) Vgl. Sabine Moller: Die Entkonkretisierung der NS-Herrschaft in der Ära Kohl, Hannover 1998.
10) Vgl. Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt a.M. 2007.
11) Vgl. Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Gesammelte Schriften, Band 10.2, Frankfurt a.M. 1997, S. 555.
12) Vgl. hierzu ausführlich: Samuel Salzborn: Heimatrecht und Volkstumskampf. Außenpolitische Konzepte der Vertriebenenverbände und ihre praktische Umsetzung. Mit einem Vorwort von Wolfgang Kreutzberger, Hannover 2001, S. 144 ff.
13) Eva Hahn/Hans Henning Hahn: Eine zerklüftete Erinnerungslandschaft wird planiert. Die Deutschen, »ihre« Vertreibung und die so genannten Beneš-Dekrete, in: »Transit«. Europäische Revue, H. 23/2002, S. 103ff.
14) Katrin Hammerstein: Deutsche Geschichtsbilder vom Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung »Das Parlament«, 15. Januar 2007, S. 27.
15) Vgl. Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. XIII, Frankfurt a.M. 1999, S. 159.
16) Ingrid Peisker: Vergangenheit, die nicht vergeht. Eine psychoanalytische Zeitdiagnose zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Gießen 2005, S. 452.
17) Elisabeth Brainin/Vera Ligeti/Samy Teicher 1993: Vom Gedanken zur Tat. Zur Psychoanalyse des Antisemitismus, Frankfurt a.M. 1993, S. 52.
18) Theodor W. Adorno: Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum »Gruppenexperiment«, in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 9.2, Frankfurt a.M. 1997, S. 320.
19) Die Grundtendenzen dieses Phänomens wurden bereits von Alexander und Margarete Mitscherlich (Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1977) beschrieben.

Redaktionell gekürzter und bearbeiteter Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors aus: Samuel Salzborn: Geteilte Erinnerung. Die deutsch-tschechischen Beziehungen und die sudetendeutsche Vergangenheit.
Mit einem Nachwort von Jan Køen. Peter-Lang-Verlag, Frankfurt am Main 2008. 135 Seiten, 27,50 Euro.

Das Buch erscheint anlässlich des 70. Jahrestages des Münchner Abkommens.