Serie über Serien: »The Wire«

Moral ist tot

Serie über Serien. Annika Beckmann und Gesa Albrecht erkennen in »The Wire« die neue Dimension der Krimiserien

Dafür, dass »The Wire«, grob gesagt, eine Krimiserie ist, fallen zunächst die Unterschiede zum herkömmlichen Regelwerk des Genres auf. Der Abschluss eines Falls zieht sich hier über eine gan­ze Staffel hin und auch Cliffhanger gibt es keine. Überhaupt arbeitet die Serie kaum mit den dem Krimi eigenen Spannungsmomenten; weder mit denen des »Whodunit«, noch mit denen, die im Prozess der Beweisführung liegen können, sei er angetrieben durch den überlegenen Intellekt des Inspektors, durch sein unaufhaltsames Draufgängertum oder durch die »CSI«-mäßig kombinierte Schlagkraft von Wissenschaft, Technik und der Dynamik eines jungen wie allwissenden Teams. Auch keinerlei Actionreichtum sorgt für genrespezifische Unterhaltung. Stattdessen sitzen Detectives stundenlang mit einem Fernrohr auf einem Dach, dis­kutieren, wie am besten der Antrag auf gerichtliche Genehmigung für das Abhören eines Telefons zu begründen ist, oder planen, sich von einer Treppe zu stürzen, um frühzeitig ihre Rente zu bekommen. Sehr unheroisch und unauf­geregt geht es hier im großen und ganzen zu.
In »The Wire« werden allerdings durchaus auch ein paar genretypische Mittel verwendet. Die Serie beginnt als x-te Ausgabe des bekannten Schemas »Cop-Against-Criminal-and-Bureau­cracy«. Detective McNulty ist hier der im Privat­leben so gescheiterte und versoffene wie im Berufsleben ehrenhafte Cop, der vor seinen Vorgesetzten im Police Department von Baltimore nicht zurückschreckt, die sich allein um die Statistik scheren. Dafür sind ihnen eine Menge unehrenhafter Mittel recht. McNulty dagegen, als einer der »Unbestechlichen« des Genres, will »gute Polizeiarbeit« machen, was in seinem Fall, als Mitglied einer Sondereinheit zur Verfolgung des lokalen organisierten Drogenhandels, bedeutet: keine »street rips«, keine Verhaftung 15jähriger Dealer, sondern der Versuch, durch monatelange Beobachtungen, Abhören und mühsame Detailarbeit an die größeren Fische heranzukommen. McNulty und seine wenigen Mitstreiter sind anfangs positive Identifikationsfiguren, die Chefs die negativen.
Was mit diesem Schema des Einzelkämpfers, der gegen eine Welt voller Verbrechen und Korruption ankämpft, von Anfang an nicht harmo­niert, ist die Darstellung der Kriminellen. Sie werden nicht auf ihre Rolle als Antagonisten des guten Cops, auf ihre Rolle als das Negative, dessen Austreibung die Story ist, reduziert, son­dern sind selbst Protagonisten. Von ihrem kriminellen und manchmal auch sonstigen Alltag, ihrem Milieu, ihren Motiven und Entscheidungen wird als Selbstzweck erzählt, so dass einerseits serientypische Identifikationsprozesse auch auf dieser Seite greifen und man sich als Zuschauer mitunter in der schizophrenen Lage wiederfindet, mit Jägern wie mit Gejagten mitzufiebern. Und es wird überdeutlich gezeigt, was Aktionen, die von Seiten McNultys aus als ein gegen alle Widrigkeiten im Department erzielter Erfolg aussehen, für Auswirkungen in der Szene haben: Im besten Fall wird ein Drogenboss durch einen anderen ausgetauscht, in der Regel aber geht das mit krasser Zunahme von Gewalt einher.
Ähnliche Transformations­prozesse finden nach und nach auch innerhalb des Police Departments statt. Je konkreter man die Entscheidungsgrundlagen der Vorgesetzten kennen lernt, desto mehr werden sie, zwar nicht gerade sympathischer, aber doch als Träger von Charaktermasken erkennbar. Innerhalb des auch bei anderen Serien, z.B. bei »The Sopranos« und »Deadwood« festzustellenden Trends zur messagelosen Amoral geht »The Wire« recht weit und ist gleich­zeitig eine sehr wütende Serie. In ihr lässt sich kein sinnvoller übergeordneter Standpunkt finden, und Verbrechensbekämpfung ist nicht viel anderes als ein Beitrag zur Reproduktion des Elends, in dem es stattfindet.