Die Nachkommen jüdischer Zwangskonvertiten

Die Verdammten von Mallorca

Die Xuetes sind Nachkommen jüdischer Konvertiten auf Mallorca. Bis heute werden sie auf der Insel stigmatisiert.

eder Besucher würde bestätigen, dass Mallorca eine Erholungs-, Sonnen- und Spaßinsel ist, deren Bevölkerung kosmopolitisch ausgerichtet und tolerant gegenüber ethnischen, sprachlichen und religiösen Unterschieden ist. Nur wenige wissen allerdings, dass inmitten dieser Bevölkerung noch heute eine Gruppe von Menschen lebt, die nach wie vor stigmatisiert wird, weil es sich bei ihnen um die Nachkommen von jüdischen Konvertiten handelt, die 1691 von der Inquisition als Kryptojuden verfolgt wurden: die Xuetes.
Mario Saban, der stellvertretende Vorsitzende des spanisch-jüdischen Vereins Tarbut Sefarad, schätzt die Zahl der heutigen Xuetes auf 30 000.
Die Bezeichnung Xueta leitet sich von den katalanischen Wörtern xulla für Speck und, im übertragenen Sinn, Schwein bzw. xuetó ab, was »Jüdchen« bedeutet. Die Forscher sind sich jedoch uneinig. Zum ersten Mal taucht die Bezeichnung »Xueta« Ende des 17. Jahrhunderts auf, die Diskriminierung der Menschen, deren Nach­kommen so bezeichnet werden, begann 1391 mit einem Pogrom. Unter den Rufen »Tod oder Taufe!« ließen etwa 300 ihr Leben. Im Jahr 1435 wiederholte sich der Angriff auf den »Call«, das jüdische Viertel in Palma de Mallorca. Nun endete die Geschichte der jüdischen Gemeinde, deren Ansiedlung auf das dritte Jahrhundert zurückging, denn die Betroffenen entschlossen sich dazu, sich taufen zu lassen und somit zum Christentum überzutreten.
Als Konvertiten litten sie dann allerdings unter den so genannten Statuten des reinen Blutes, die die Inquisition in der zweiten Hälfte des 15. Jahr­hunderts durchsetzte. Diese Statuten ver­boten den Konvertiten und ihren Nachkommen, Positionen in religiösen, universitären, mi­litärischen und zivilen Einrichtungen einzunehmen, bestimmte Berufe auszuüben und sich in bestimmten Städten niederzulassen. 1677 wurde aus Diskriminierung wieder blutige Verfolgung, denn 200 Konvertiten waren in einem Obstgarten außerhalb Palmas dabei entdeckt worden, wie sie eine Feier angeblich religiösen Charakters zelebrierten. Bis 1691 wurden Konvertiten verhaftet und öffentlich verurteilt, 36 Menschen hingerichtet und drei bei lebendigem Leibe verbrannt. Ihre sambenitos wurden in einer Kirche Palmas öffentlich zur Schau gestellt.
Ein sambenito – das war ein Büßerkleid mit dem Namen des Verurteilten, der darin durch die Stadt geführt wurde. Unmittelbar vor seiner Hinrichtung wurde der Unglückliche entklei­det, der sambenito wurde zur öffentlichen Abschreckung ausgestellt. So blieben bis 1813 in der Sant-Doménec-Kirche in Palma die Büßerkleider von 15 Hingerichteten aus dem Jahr 1691 mit folgenden Namen erhalten: Aguiló, Bonnin, Cortès, Forteza, Fuster, Martí, Miró, Picó, Pinya, Pomar, Segura, Tarongí, Valentí, Valleriola und Valls. Diese 15 Familiennamen wurden für verdammt erklärt, ihre Träger werden bis auf den heutigen Tag diskriminiert und als »Xuetes« gebrandmarkt.
Erst Ende des 18. Jahrhunderts erhielten die Xuetes in Palma das Recht, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen. Ihre Kinder durften erst seit 1873 die öffentlichen Schulen besuchen. Als der Xueta Josep Tarongí gegen Ende des 19. Jahr­hunderts die Priesterweihe erhalten wollte, musste er Mallorca dazu verlassen. Als er zurück­kehrte, verbot man ihm, in der Sant-Doménec-Kirche die Messe zu lesen. Nachdem er dies in einer anderen Kirche, der San Miguel-Kirche, getan hatte, verbrannte die Kirchengemeinde die durch den »Juden« »verunreinigte« Kanzel.
Ab 1942 planten die spanischen Falangisten und Nazideutschland gemeinsam die Ausrottung der Xuetes. Mario Saban zufolge bestand der Plan, auf der Balearen-Insel Cabrera ein Vernichtungslager einzurichten. Man begann mit einer offiziellen Untersuchung der Mallorquiner jüdischer Herkunft, um angebliche Verbindungen zu internationalen jüdischen Organisationen zu ermitteln. Dieser Auftrag, den Bericht und die entsprechenden Listen zu erstel­len, erging an den Erzbischof Miralles Sbert, der seinerseits den Diözesanarchivbeamten Vich Salom damit beauftragte.
Wie Josep Mascaró Pasarius in seiner »Geschich­te Mallorcas« berichtet, schrieb Vich Salom diesen Bericht und behauptete, bei 35 Prozent der Mallorquiner handele es sich um Menschen mit »jüdischem Blut« bzw. um Menschen, die von der Inquisition als verkappte Juden verurteilt worden waren, unter ihnen seien einige der mächtigsten Familien Mallorcas.
Dennoch oder gerade deshalb gab es ein glück­liches Ende. Eine mögliche Erklärung liefert der von Xuetes abstammende Schriftsteller Miquel Forteza i Pinya in seinem Buch »Die Nachkommen von jüdischen Konvertiten auf Mallorca«. Ihm zufolge waren auch einige von Francos Generälen betroffen. Gleichzeitig gab und gibt es mehrere Familiennamen, die jüdischen Ursprungs sind wie Jordá, Abraham, Maimó, Salom, Vidal und Duran, deren Träger aber nicht als Juden galten. Als Xuetes gelten allein die Nachkommen der Hingerichteten.
Der Bericht, den der Diözesanarchivbeamte Vich Salom – auch er trug einen jüdischen Namen – verfasste, hat die Xuetes vor schlimmen Folgen bewahrt, zu viele waren betroffen.
In Anlehnung an die Ansichten einiger Forscher behauptet Mario Saban, dass heute ungefähr 100 000 Nachkommen von jüdischen Konvertiten auf den Baleareninseln leben.
Dennoch ist die Eheschließung mit einem Xueta noch immer ein Tabu. Bis Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts sind in den Pfarrarchiven von Palma nahezu keine Eheschließungen zwischen Christen und Xuetes verzeichnet. Die erzwungene Endogamie führte innerhalb der Gruppe der Xuetes zum Auftreten einer seltenen Erbkrankheit, dem so genannten familiären Mittelmeerfieber, die der Mediziner Buades Reinés in seiner Dissertation »Fiebre mediterránea familiar en Mallorca« nachgewiesen hat. Die Patienten leiden an Fieberschüben mit Schmerzen im Abdomen, im Thorax und in den Gelenken.
Jaume Pomar, der ein Amt in der Zivilverwaltung der Provinz in Palma hatte, behauptete zwar am 15. Mai 1983 in der Tageszeitung El País, dass diese Endogamie heutzutage nur in ländlichen Orten vorkomme, allerdings sind Ressentiments gegen Xuetes keine ländliche Besonderheit. Nach einer Umfrage der Universität der Balearen im Jahr 2001 behaupteten 30 Prozent der Mallorquiner, dass sie weder eine/n Xueta heiraten würden noch zu Freunden haben möchten.
1995 schlug das Institut für Kulturbeziehungen zwischen den Balearen und Israel vor, ein Denkmal für die Opfer der Hinrichtungen zu errichten. Daraufhin entwickelten sich heftige Auseinandersetzungen. Auch viele Xuetes lehnten das Denkmal ab. Ihre Gründe spiegeln sich in einem anonymen Brief wider, der im April dieses Jahres in der mallorquinischen Presse erschien und den die Philologin Pilar Arnau i Segarra in ihrem Essay »Das Bild des ›Xueta‹ in der zeitgenossischen mallorquinischen Literatur« zitiert. Darin heißt es: »Wir wollen keine Denkmäler. […] Wir wollen endlich in Ruhe gelassen werden […] Wenn die Kinder dieses Denkmal betrachten, werden die Eltern ihnen erklären müssen, wer die xuetes sind, und diese Kinder […] werden anfangen, einen unheilvollen Unterschied zwischen xuetes und Nicht-xuetes zu machen, unsere Kinder in der Schule zu diskriminieren, sie zu beleidigen, […] wie es bis vor sehr wenigen Jahren vorgekommen ist.«
Möglicherweise stimmt, was Pilar Arnau sagt, nämlich, dass die Vorurteile gegen Xuetes mit der Entwicklung des Tourismus zurückgegangen seien. Allerdings scheint Miquel Segura i Aguiló, Journalist und Autor des Buches »Xueta-Erinnerung«, nicht gleichermaßen überzeugt zu sein. Dem Erscheinen dieses Buches im Jahr 1994 war eine solch große Polemik vorausgegangen, dass er unter Polizeischutz gestellt werden musste.
Und erst am 5. September 2007 wurde er auf der Straße von einem Mann angesprochen, der ihm sagte, er solle endlich und ein für allemal nach Israel gehen, und der hinzufügte: »Wenn es von mir abhinge, bliebest du nicht eine Stunde auf dieser Insel lebendig!«
Der Text, den Miquel Segura über dieses Zwi­schen­fall schrieb, wurde auf die Webseite »Neguev and me« gestellt, was einen Leser am 8. Dezember 2007 zu folgendem anonymen Kommentar veranlasste: »Wenn die Xuetes so stolz darauf sind, zum ›Auserwählten Volk‹ (den Ariern des 21. Jahrhunderts) zu gehören, dann sollten sie alle von mir aus aber schon nach Israel abhauen.«
Wer in Tourismusprospekten über Mallorca blättert, wird über solche Vorkommnisse oder über die Geschichte der Xuetes nichts erfahren.

Aus dem Spanischen von Birgit Schmidt