Erfahrungen als junger Staatsanwalt in der Ludwigsburger »Zentralen Stelle«

Dienstwege ins Nichts

Vor 50 Jahren wurde die »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« in Ludwigsburg, kurz »Zentrale Stelle«, gegründet. Deren Ineffektivität war bestens organisiert. Die Ermittler wurden angefeindet – und politisierten sich. Dietrich Kuhlbrodt war in den sechziger Jahren als junger Staatsanwalt dabei. Ein Erfahrungsbericht.

1965 meldete ich mich zum Dienstantritt im ehemaligen Frauengefängnis Ludwigsburg. Das Gebäude stand leer und harrte neuer Nutzung. Ich bekam mit anderen Staatsanwälten eine Zelle, ebenerdig zur Schorndorfer Straße. Gleich der nächste Tag war der Tag, an dem die Bundeswehr mit klingendem Spiel vorbeimarschierte. Wir waren hinter Gittern. Und wir staunten. Jede Woche wieder. In der Zelle lernten wir uns kennen. Jeder war von seiner Behörde abgeschoben worden. Abgeordnet, hieß das formell. Irgendwie missliebig daheim oder doch entbehrlich. Jungstaatsanwälte machen daheim Scherereien. Sie haben noch keine Ahnung, wie’s läuft. Ich hatte es mir in Hamburg so schön ausgemalt, solch einen Betrieb von innen zu erleben, und dann irgendwie – naja, jedenfalls war denen eingefallen, mich nach wenigen Monaten los zu werden. Für ein Jahr. Es wurden dann doch fast drei. Kein Mensch hat uns vorher gefragt, ob wir mit dem Thema Naziverbrechen etwas anfangen konnten. Es wurde befohlen. Verfügt, in der Behördensprache.

In der Zelle wurden wir uns schnell einig, dass die zwölf Mann der Zentralen Stelle für Augenwischerei gegenüber dem kritischen Ausland eingesetzt waren. Es wird ja was getan. Tatsächlich war die Konstruktion der Zentralen Stelle auf Ineffektivität ausgerichtet. Ich bekam diverse Stapel Akten auf den Tisch und sollte gucken, wer welche Verbrechen begangen hatte. Vom Militärwesen hatte ich (weißer Jahrgang) keine Ahnung, von Befehlswegen auch nicht. Hunderte von Leuten. Leben die eigentlich noch? Wo? Bei welchen Archiven anfragen? Die Zeit verging. Nach ein paar Wochen war klar, dass ich in einem Jahr die Sache nicht zu Ende bringen würde. Na gut, dann wäre ich wieder weg. Und der nächste käme und begänne erneut, sich einzulesen. Übrigens wäre das Ende der Vorermittlungen nicht eine Anklage gewesen. Dazu war die Zentrale Stelle nicht befugt. Anklagen durften nur dezentral die Staatsanwaltschaften der Länder. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg, sagen wir mal, bekam dann irgendwann nach Jahren aus heiterem Himmel eine LKW-Ladung Akten geschickt, weil einer der Verdächtigten dort wohnte, und die paar Staatsanwälte dort sollten sich dann neben der üblichen Arbeit mit einem Großverfahren beschäftigen. Klappte das? Es klappte nicht.
30 Jahre später lief bei der Verfolgung von DDR-Verbrechen alles wie geschmiert. Zentral waren Staatsanwälte beim Generalstaatsanwalt in Berlin zuständig, spezialisiert, engagiert, und selbstverständlich konnten sie einen Fall selbst anklagen und die Sache vor Gericht vertreten. 1965/67 schlugen wir uns jedoch mit der organisierten Fehlkonstruktion herum. Und mit den Alten Herren. Überall saßen die. Im Bundestag, im Bundesgerichtshof, im Auswärtigen Amt. Wir Jungstaatsanwälte, Mitte dreißig, hatten die Paranoia. Oder doch nicht? Das Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums hatte bewirkt, dass nach dem Krieg die Beamten, die vor 1945 gewirkt hatten, wieder eingestellt werden mussten. Die Antinazis, die keine Reichsbeamten gewesen waren, mussten draußen bleiben. Das hieß dann: Kontinuität. Ende der sechziger Jahre hatten die Herren dann über ein Gesetz mit dem Tarnnamen »Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz« die Verjährung von Mordtaten, die Gehilfen begangen hatten, eingeführt. Und die Bundesrichter hatten befunden, dass die Haupttäter, nämlich Hitler, Himmler und so weiter, weiter verfolgt werden könnten, falls sie nicht verstorben seien. Eine Ausnahme blieb. Befehlsempfänger waren dann dran, wenn ein eigenes Hauptmotiv nachgewiesen werden konnte.
Also konzentrierten sich die Vorermittlungen in Ludwigsburg darauf, Zeugen zu finden, die aussagten: »Der Soundso hat mir gegenüber zur Tatzeit geäußert, dass Juden, wenn sie der Vergasung entgangen waren, wenigstens jetzt totgemacht werden müssten.« Solche Aussagen hätten möglicherweise die Opfer machen können, doch die waren tot. Aber bei den Kameraden von damals? Raten Sie einmal. Ergebnis war gleich Null. Dann gab es für uns doch noch etwas zu tun. Wir schlossen die Ermittlungen ab und schickten die Akten zwecks formeller Einstellungsverfügung nach Lüneburg oder sonst wohin, und siehe da, die Einstellung des Verfahrens machte kein Problem.

Probleme aber hatten wir nach wie vor mit den Alten Herren. Wir wollten es wissen. Wir versuchten es weiter. Gab es vielleicht doch noch einen Zeugen? Eine Zeugin, die was mit den Mörderkameraden zu tun gehabt hatte? Wir mussten Dienst­wege einschlagen, die ins Ausland führten. Ein Rechtshilfeersuchen nach Norwegen. Das ging über den Generalstaatsanwalt Stuttgart, den Innenminister des Landes und zum Auswärtigen Amt in Bonn. Wer dort saß, den kannten wir nach kurzer Zeit. Deshalb nach einigen Wochen, Monaten nachgefragt: Gibt es eine Antwort aus Norwegen? Antwort: Ja, Ersuchen ist erledigt. Wieder den Dienstweg rauf. Welche Antwort? Wochen vergingen. Dann: Hier ist die Kopie des Schreibens. Und noch mal nachgefragt: Wo ist denn die Anlage mit dem Ermittlungsergebnis? Wochen. Monate. Dann: Ach ja, wenn Sie die Anlage denn haben wollen, hier ist sie.
Und dann der Gau in der Zentralen Stelle selbst. In der Akte gegen eine Mord-Einheit tauchte Oberstaatsanwalt Schüle auf, unser Dienststellenleiter. 1965 hatte ich mich bei dem Alten Herrn noch zum Dienstantritt gemeldet. Dann war er wegbefördert. Generalstaatsanwalt in Stuttgart sollte er werden. Wie sich herausstellte, hatte die Stelle Politikern in Bonn, die nachfragten, wann sie gedenke, ihre Arbeit beendet zu haben, was von ein, zwei Jahren gemeldet. Wenn es denn so gekommen wäre, würden wir heute nicht des fünfzigsten, sondern des zehnten Jahres der Verfolgung von Naziverbrechen gedenken.
Aber es kam anders. Die Blockaden um uns herum ermunterten uns zum Widerstand. Rückblickend gesagt: Wir politisierten uns. Ende der sechziger Jahre. Einige von uns nahmen auf dem Podium Platz, um dem Gemeinderat zu erläutern, welchen Sinn unsere Arbeit machte. Der Oberbürgermeister von Ludwigsburg hatte vor der ARD-Kamera gesagt, dass die Zentrale Stelle ein Schandfleck für die Stadt des blühenden Barocks sei. Und er hatte in der »Panaroma«-Sendung weiter begründet, warum er die Stelle besucht habe, nämlich um das Gebäude zu inspizieren, wie es genutzt werden könne, wenn wir wieder weg wären. Er hätte aber auch was Interessantes gefunden. Im Flur eine Karte mit den Wegen von Erschießungseinheiten im Osten. »Da war auch meine Einheit eingezeichnet«, sagte er und grinste in die Kamera.

Wir waren in der Stadt verhasst. Gemobbte Staatsanwälte. Da weinte keiner. Auch keiner von uns. Wir staunten. Auch als eines Tages die Militärkapelle ganz besonders klang. Ein SS-General, der Führer der Leibstandarte Adolf Hitler, Sepp Dietrich, wurde zu Grabe getragen. Vornweg ein schwarzes Samtkissen mit den Nazi-Orden. Ein Beerdigungszug. Ein Demonstrationszug. Alte Herren marschierten auf der Schondorfer Straße. Wir standen hinter den Zellengittern und guckten. Dann wurden Rufe laut. Fäuste erhoben sich. »Wir kriegen euch noch«, bekamen wir zu hören. Ein Geistlicher sprach am Grab warme Worte. Uns war endgültig klar, wir mussten was tun.
Ein neuer Geist zog in die Stelle ein. Die Motivation, die Vergangenheit aufzuarbeiten, bekam einen neuen Schub, einen politischen. Unsere Verfahren zielten nicht nur darauf, einen Mörder vor Gericht zu bekommen. Sie sollten unabhängig davon dokumentieren, was geschehen war. Das war eine Arbeit, die auch eine nicht-juristische Stelle hätte machen können. Aber damals nicht gemacht hat. Weil es ja der Alte-Herren-Politik nur darum gegangen war zu verkünden: Aufarbeitung der Vergangenheit? Das machen unsere Staatsanwälte. Das brauchen wir selber nicht. Aufarbeitung in der Schule? Nicht nötig. Damit müssen wir junge Leute nicht behelligen.
Fortan saßen die Aktenbearbeiter nicht mehr nur an ihren Tischen und warteten darauf, dass irgendwer irgendwas anzeigte, und wenn’s die Polizei war. Das wäre das übliche Verfahren. Unüblich war es Ende der sechziger Jahre, dass wir darangingen, die Wege der Mord-Einheiten zu verfolgen und zu dokumentieren, egal ob ein Täter noch bestraft werden konnte oder nicht. Aber wenn, umso besser.
Heute gibt es die Zentrale Stelle zur Verfolgung von Naziverbrechen noch. In Ludwigsburg. Als Dependance des Bundesarchivs. Als Museum.