Vernacular Photography und unbekannte Gipfelstürmer

La Montanara für das Objektiv

Die Leidenschaft der unbekannten Gipfelstürmer D. und G. galt der Bergwelt und der Fotografie.

Er sieht mit seiner runden Brille aus wie ein Studienrat, sie könnte ei­ne patente Kinderärztin sein. Mal schauen sie entschlossen in die Kamera, mal schweift der Blick versonnen ins Weite. Immer halten die beiden auf eine vertraute Weise Körperkontakt, entweder legt unser mutmaßlicher Studienrat seinen Arm um die Angetraute, oder die beiden halten einander an den Händen. Wenn man eine Einschätzung wagen darf: Das muss dann wohl Liebe sein. Zur Natur, zu den Bergen, zueinander.
Über einen Zeitraum von ungefähr 30 Jahren fuhren die Eheleute D. und G. mit eiserner Disziplin immer wieder in die Alpen. Rein in die Woll­socken und Wanderschuhe, und dann rauf auf die Berge. Oben fotografierte das Pärchen sich dann regelmäßig vor wechselnder Bergkulisse mittels Selbstauslöser.
Entdeckt hat die Urlaubsfotos die auf das Genre »Vernacular Photography« – anonyme Pri­vatbilder, die aus Nachlässen stammen und auf Flohmärkten und in Secondhandläden verkauft werden – spezialisierte Niederländerin Andrea Stultiens. Eine befreundete Fotografin hatte ihr einen riesigen Schwung Amateuraufnahmen überlassen, darunter fanden sich ein paar echte Perlen wie die Aufnahmen der unbekannten Eheleute D. und G. Aus deren fotografischem Nachlass filterte sie diejenigen Urlaubsbilder heraus, die die immer gleiche Standardsituation »Paar in den Alpen« zeigen, und arrangierte sie für die Serie »Komm, mein Mädchen, in die Berge«.
Das Alpenepos ist Teil der Reihe »Travels and Escapes«, das die Fluchten aus der täglichen Rou­tine und die Rolle der Fotografie darin erforscht und derzeit im Rahmen des Monats der Fotografie in Berlin zu sehen ist.
»Ich weiß nicht, wie der Alltag von D. und G. aus­gesehen hat. Ich sehe nur, wie sie ihm entfliehen. Mit Hilfe der Zeit, der Berge und der Kamera«, schreibt Andrea Stultiens im Vorwort des im Stil eines privaten Albums gestalteten Bildbandes.
Auch wenn die Selbstinszenierung der Urlauber hart an der Ikonografie des Heimatfilms vorbeischrammt, bewahrt der spröde Charakter des authentischen Zeitdokuments die Bilder dann doch ganz entschieden davor, bloßer Kitsch zu sein. Es ist vor allem die ungeheure Beständigkeit, die an den Doppelporträts, auf denen man das Paar allmählich altern sieht, zugleich fasziniert und erschreckt. Diese Ehe zweier in Liebe zur Natur entflammter Menschen ragt wie ein Zentralmassiv hinein ins Zeitalter von Digicams und Speeddating.

Andrea Stultiens: Komm, mein Mädchen, in die Berge. Verlag für bildschöne Bücher, Berlin 2008, 18 Euro

Die Serie »Komm, mein Mädchen« und weitere Arbeiten aus der Reihe »Travels and Escapes« werden im Rahmen des Monats der Fotografie in Berlin, in der Brunnenstraße 152 ausgestellt. Bis 30. November