Die Werke von Walt Disney und die europäische Kunst

Elefanten im Drogenrausch

Vielleicht hatte Salvador Dalí Recht, als er Walt Disney zum größten amerikanischen Surrealisten kürte. Eine Ausstellung in München schildert die postmodernen Aneignungsstrategien des Trickfilmkönigs und zeigt, dass die Wurzeln des »Dschungelbuchs« in der europäischen Kunst liegen.

Einige Monate vor seinem Tod erklärte Walt Disney: »Ich habe immer denselben Albtraum: Ich träume, dass einer meiner Filme in einem Filmkunstkino landet.« Für einen Menschen, der tagtäglich und ganz real von der Verzauberung der Massen träumte und daran arbeitete, eine wahre Horrorvision. In seinem populärkulturellen Anspruch und seiner Faszination für Kino und Comicstrips war Disney durch und durch amerikanisch. Gleichzeitig aber schöpfte er seine Ideen aus der europäischen Kultur, der Literatur und Kunst, wie derzeit eine Münchener Ausstellung zeigt.
Disney erscheint hier als ein cleverer Dieb, der sich im Fundus europäischer Kunst bediente und alles in den signifikanten »Disney-Look« einspeiste. Die Ausstellung gleicht deshalb fast einer kriminalistischen Unternehmung: Disneys vielfältige Einflüsse werden ausgebreitet und vorgeführt wie die Beweisstücke eines spektakulären Großraubs durch einen virtuosen Pop Artist. Denn auf der Ebene des Films bediente er sich künstlerischer Strategien, die sich in der Bildenden Kunst erst viel später etablieren sollten, angefangen von Aneignungspraktiken über das Zitat bis hin zu der Vermischung von Hoch- und Populärkultur – Verfahren also, die im weitesten Sinn als postmodern gelten. Dazu passt auch, dass sich Disney nie als autonomer Schöpfer oder Autor begriff, sondern es vielmehr verstand, kreative Talente – darunter Ub Iwerks, Ferdinánd Horváth, Gustaf Tenggren und viele andere – um sich zu scharen, deren künstlerisches Potenzial er für seine Filmprojekte optimal zu nutzen wusste. Er selbst beschrieb sich als eine »kleine Biene, die den Blütenstaub von einem Teil des Studios zum anderen bringt und so alle inspiriert«.
Die Ausstellung präsentiert einen Overkill an Zitaten und Referenzen und wirkt in ihrer Gesamtheit wie eine bizarre Collage. Dabei kommt es zu ungewöhnlichen Begegnungen von amerikanischer Popkultur und der Hochkultur des »alten Europa«. Eine Mickey Mouse aus Baumwolle, Samt und Filz wird in einer Vitrine präsentiert wie eine wertvolle Skulptur, Storyboard-Zeichnungen zu Disney-Filmen hängen neben Bildern von Caspar David Friedrich, Gustave Doré oder Honoré Daumier. Und Ausschnitte aus Disneyfilmen finden sich neben Beispielen des expressionistischen Films. Dem geradezu wissen­schaftlich akribischen Anspruch kommt allerdings das leicht überspannte Ausstellungsdisplay in die Quere: Es ist alles andere als neutral und hat stellenweise fast Jeff-Koons-Qualitäten. So wird ein Teil des Ausstellungsmaterials in goldglitzernden Vitrinen präsentiert, die dem Schneewittchensarg aus dem bekannten Disney-Film nachempfunden sind. An den Wänden finden sich Scherenschnitte signifikanter Motive aus verschiedenen Filmen, und das heruntergedimmte Licht, das natürlich dem Schutz der Arbeiten dient, erzeugt eine geradezu märchenhafte Atmosphäre.
Von 17 Disney-Filmen beruhen 14 auf europäischen Quellen. Seine umfangreiche, sich ständig erweiternde Arbeitsbibliothek war für ihn und seine Mitarbeiter wie eine Art Schule – darin fanden sich Werke bedeutender Illustratoren, beispielsweise von Ludwig Richter oder Heinrich Kley, der für die satirische Wochenzeitschrift Simplicissimus gearbeitet hatte. Sogar Mickey Mouse, diese uramerikanischste Erfindung, die 1928 im Film »Steamboat Willie« ihren ersten offiziellen Auftritt feierte, ist im Grunde ein Abkömmling der anthropomorphisierten Tiere, die sich in europäischen Märchen und Fabeln tummelten, etwa die sprechenden Tiere des französischen Künstlers Ernest Griset oder auch die Illustrationen Gustave Dorés für die Fabeln La Fontaines. In seinen makaber-komischen und fantastischen Bildern verlieh Doré auch Bäumen und Pflanzen ein dramatisches, manchmal sogar beängstigendes Aussehen, ebenso finden sich bei Arthur Rackham vermenschlichte Bäume – ein Element, das auch bei Disney eine wichtige Rolle spielt, wenn etwa das völlig verängstigte Schneewittchen durch den Wald flieht und sich von einer ihr feindlich gesinnten Natur umgeben glaubt.
Bei »Pinocchio« und »Fantasia« (beide 1940) sind vor allem deutliche Anleihen aus dem expressionistischen Film zu finden. Übergroße Schatten werden wiederholt als Gruseleffekte eingesetzt – ein Motiv, das aus Filmen wie Robert Wieners »Das Cabinet des Doktor Caligari« (1920) oder auch Murnaus »Nosferatu« (1922) bekannt ist, Vorlagen, die in der Ausstellung den »Disney-Remakes« direkt gegenübergestellt werden. Die Figuren aus den Disney-Filmen sind dagegen häufig Fusionen aus europäischen und amerikanischen Einflüssen. In Schneewittchen treffen sich etwa die populäre Hollywood-Kreation Shirley Temple und die romantische Märchenfigur aus Europa, die böse Königin setzt sich aus Lady Macbeth und dem Bösen Wolf zusammen, wobei ihr maskenhaftes Gesicht deutlich von Joan Crawford inspiriert ist.
Das Wechselverhältnis mit den Bildwelten Disneys lässt bei einigen Originalen ihr populäres und fast schon postmodernes Potenzial hervortreten wie bei Henri Rousseaus stilisierten Dschungelgemälden, die ebenso unverstaubt wirken wie die Naturdarstellungen im »Dschungelbuch« (1967). Dass König Ludwig II. und sein legendäres Schloss Neuschwanstein, das in Disneys Dornröschenschloss noch einmal auflebt, irgendwie Pop ist, stellt man immer wieder gerne fest. Ein eigens für das Schloss kreierter, leider nie installierter keramischer Kachelofen des Münchner Haffnermeisters Joseph Xaver Mittermayr ist in jedem Fall das exzentrischste Objekt in der Ausstellung. Aus der Ferne sieht es wie ein zu groß geratenes Spielzeug aus. Es ließe sich ohne weiteres auch in einen Pixar-Zeichentrickfilm einfügen – davon abgesehen würde das Ding in jeder zeitgenössischen Galerie womöglich radikaler aussehen als das meiste, was man dort im Allgemeinen sonst zu sehen bekommt.
Beinahe wäre es zu einer ganz offiziellen Synthese zwischen Disney und der Bildenden Kunst gekommen. »Destino« war 1946 als gemeinsames Filmwerk mit Salvador Dalí geplant, und die Los Angeles ­Times bemerkte leicht hämisch: »Der Meister der Mickey Mouse und der ›weichen Uhr‹ tun sich zusammen.« Dalí hatte gegenüber André Breton bereits Jahre zuvor erwähnt, er halte Disney für den »größten amerikanischen Surrealisten«. Neben der gemeinsamen Vorliebe für das Phantastische und Populäre hatten beide möglicherweise auch politisch einiges gemein. Disney war nach den ersten Streiks der Studios zum überzeugten Antikommunisten geworden, und Dalí hatte sich schon ein paar Jahre zuvor vom Kommunismus distanziert, später sollte er sich vom Faschismus faszinieren lassen. Das Filmprojekt »Destino« kam jedoch nicht zustande, die Gründe dafür sind bis heute nicht eindeutig klar. Aus den Entwürfen entstand erst 2003 unter der Initiative von Disneys Neffen ein fertiger Film. »Destino« ist eine Collage über eine Tänzerin, die sich mehrmals verwandelt, mal nimmt sie die Gestalt einer Glocke, mal die einer Blume an. Der Film ist im schlechtesten Sinne »arty« geworden. Dagegen sind Disneys grellbunte Elefanten in »Dumbo« (1941), die wie im Drogenrausch über die Leinwand tanzen, ihrer Zeit weit voraus.