Das 43. Jazzfest in Berlin

Ein Königreich für den Deodorant-Blues

Das 43. Jazzfest in Berlin kam fast ohne Motto aus.

Noch nie zuvor dürfte in Deutschland das Wort »Jazz« bei Jugend­lichen so beliebt gewesen sein wie in diesem Jahr. Der Grund hierfür: die allerorts ausverkaufte Tour der Berliner Punkrockband Die Ärzte mit ihrem Motto »Jazzfäst« zu ihrem Album »Jazz ist anders«. Auf den Tour-T-Shirts stand der Kalauer »Ich wurde gejazzt«.
Zwischen dem 6. und 9. November fand nun in Berlin das 43. Jazzfest statt. Da Kalau nun mal nicht weit von Berlin entfernt ist, konnte man sich auch hier ein kleines Wortspiel nicht verkneifen: Auf der Hauptbühne der Berliner Festspiele wurde Barack Obamas Wahlparole »Yes, we can« zu »Jazz we can« umgeändert. Zu gerne hätte man im Publikum mit einem »Ich wurde gejazzt«-T-Shirt gesessen.
Dieses Jahr wurde das Berliner Jazzfest zum ersten Mal vom schwedischen Jazz- und Funkposaunisten Nils Landgren kuratiert. Zum diesjährigen Festival-Motto hatte Landgren mehrfach zu verstehen gegeben, dass es einfach kein Motto gibt. Damit tut sich ein Jazzfest-Publikum natürlich schwer. So versuchte man bei der Ansage der Konzerte wenigstens gewisse Zusammenhänge aufzuzeigen, z.B. anhand der Geschichte der Gruppe The Headhunters.
Der diesjährige Star des Festivals, der Pianist und Synthesizer-Jazzer Herbie Hancock, hat im Jahr 1973 das wegweisende Afro-Jazz-Funk-­Fu­sion-Album »Head Hunters« aufgenommen. Im Line-Up der Band befand sich der Saxophonist Benny Maupin und der Percussionist Bill Summers. 1975 nahmen die beiden ohne Herbie Hancock – dafür mit dem damals auch für Hancock spielenden Schlagzeuger Mike Clark – das Album »Survival of the fittest« auf. So entstand die Band The Headhunters, die fortan ei­ge­ne Wege ging (u.a. mit dem großartigen Black-Rock-Gniedel-Gitaristen Blackbird Mc­Knight). Bill Summers führt die Headhunters bis heute weiter und spielte am Festivalsamstag im Rahmen des Jazzfests zusammen mit Mike Clark ein Konzert im ausverkauften Berliner Club Quasimodo. Die Herren Clark und Summers waren in ihrer fünfköpfigen Band gut aufgelegt und spielten viel Material aus der gemeinsamen Zeit mit Hancock. Als Mike Clark das Publikum aufforderte, am Ende der Show die neue Live-CD der Headhunters zu kaufen, war nicht mehr viel von der »Jazz we can«-Festival-Stimmung zu spüren. Clark witzelte: »Nein, kaufen Sie unsere CDs bitte doch nicht. Wir haben Hunderte von Dollars mit Herbie verdient. Was können Sie dafür, wenn unsere Kinder nächste Woche neue Schuhe oder Bücher brauchen?« Man fühl­te sich regelrecht gejazzt.
Es steht aber außer Frage, dass Mike Clark und Bill Summers eine hervorragend eingespielte Rhythmusgruppe sind. Leider haben die Headhunters gerade keinen herausragenden Komponisten in ihrer jungen Band. Schaut man sich dagegen an, wie Herbie Hancock am Flügel und Keyboard-Raumschiff seine Band führte, wird klar: Vertrackte Rhythmen sind aufregend, aber das, was sie zusammenhält, ist Hancocks universelle musikalische Sprache. Selbst wenn Han­cock mit gesampelten Chorstimmen, Harfen- oder Sitar-Sounds spielte, mochte man ihm wei­ter folgen, obwohl seine Soundwahl im Jahr 2008 wirklich nur mit einer Klangschale voll Ironie zu ertragen ist. Benny Maupin, der Headhunters-Saxophonist, spielte auf dem Jazzfest zwei Tage vor Hancock mit eigener Band ein Konzert. So viel zum Nicht-Motto namens The Headhunters.
Vor Hancock spielte übrigens der Pop-Jazz-Saxophonist schlechthin: David Sanborn.
Wer Lust auf weißen, amerikanischen Gewinnerjazz hatte und schon immer von einer eigenen Yacht träumte, der war hier richtig. Ein Königreich für den Deodorant-Blues.
Ungefähr das Gegenteil der Banquet-Klänge mit Staatsempfangs-Kompatibilität eines David Sanborn und Band war der Auftritt des Free-Jazz- und Dixie-Saxophonisten Roswell Rudd, der mit dem legendären Bassisten Larry Grimes auftrat. Der Schlagzeuger Berry Altschul drosch auf sein schepperndes Becken ein, und insgesamt drei Posaunen bewegten sich immer wieder aus traditionellen Themen mit einer unerhörten Atonalität heraus in den Freejazz hinein. Leider wurde der Bass von Larry Grimes vom sub-bassenden Tuba-Spieler übertönt, so dass Grimes hin und wieder seine Violine zur Hilfe nahm und sie so malträtierte, wie es sonst nur von Eltern zum Geigenspiel genötigte Kinder hinbekommen.
Im direkten Anschluss trat Bobo Stenson in der Königsdisziplin des Jazz auf – dem Piano-Trio. Sein verspielter Schlagzeuger Jon Fält fand außerordentliches Vergnügen daran, seine Splash- und Crashbecken durch die Gegend zu werfen oder auch schon mal mit den Stöcken auf dem Gitter der Monitorbox herumzukratzen. Dieser verträumte Ausflugsjazz in der Tradi­tion von Keith Jarrett wurde vom Publikum im Saal der Berliner Festspiele mit viel mehr Begeisterung aufgenommen als der Free-Dixie von Rudd. Im Publikum saßen schließlich keine Punks. Punks hätten sich vielleicht bei der Darbietung von Free-Noise und Jazzpunk des ehemaligen Alboth!-Schlagzeugers Michael Wertmüller und Band – mit dem japanischen Noisemusiker Keiji Haino – wohlgefühlt. Aber Akzeptanz bei der Kombination von Free Jazz und Noise zu erreichen, ist und bleibt schwierig: dem eingesessenen Jazzfan zu frei und zu laut, anderen Musikliebhabern schlichtweg zu viel Jazz.
Der Höhepunkt des Jazzfests war, neben den höchst interessanten Hintergrundberichten über die Headhunters, das Konzert des schwedischen Duos Wildbirds and Peacedrums. Diese Formation setzt sich aus dem Ehepaar Mariam Wallentin (Gesang) und Andreas Werlin (Schlagzeug) zusammen. Wie gut, dass es auf dem Jazz­fest kein Motto gab. Wildbirds and Peace­drums hätten nämlich in überhaupt kein Jazzfestmotto hineingepasst, denn dieses Duo spielt überhaupt keinen Jazz. Stattdessen vereinen sie filigranes, polterndes Beat- und Swingschlagzeug mit einem Gesang, der mühelos zwischen Folk, Blues und Gospel oszilliert.
In dem vom jungen Publikum liebgewon­nenen Genre des Männlein-Weiblein-Duospiels – wie etwa den Blood Red Shoes oder White Stripes – durfte man dieses Paar als die feingeistigste Variante dieser neuen Bewegung bestaunen.
Ein heimliches Motto für das Jazzfest 2008 war dann doch noch die Ehrung des großen R & B-Musikers Ray Charles. Schließlich hat die WDR-Big-Band, angeführt vom langjährigen ­James-Brown-Band-Mitstreiter Maceo Parker am Altsaxophon, ein Tributkonzert für ihn gespielt. Zudem sind David Sanborns aktuelle Stücke stilistisch an Ray Charles angelehnt und verneigen sich vor ihm.
Am Montag stehen die jazzbegeisterten Lehrer vor ihrer Schulklasse und sind noch ganz beschwingt vom Feste. Die Schüler hingegen hören auf dem Weg zur Schule »Die Ärzte« auf dem MP 3-Player. Wer von ihnen irgendwann mal zu einem Jazzfest geht, darüber entscheidet in Deutschland wohl vor allem die Bildung. In Amerika war Jazz einst die Sprache der Straße. In Deutschland ist Jazz eben wirklich anders.