Wolfsburg im Jahre 2057

Die Stadt, das Auto und der Untergang

Wie redet man nach dem Jahr 2057 über Wolfsburg, wenn VW pleite gemacht hat?

Die Stadt Wolfsburg lag am Rande einer sumpfigen Niederung. Der Drömling bot durch seine randständige Lage seltenen Vogelarten eine Heimat. Quer durch dieses Feuchtgebiet, direkt bis an die Grenze der eingemeindeten Dörfer, zogen sich vor langer Zeit die Grenzanlagen der alten DDR-Republik. Da die Entwässerungsanlagen im Ostteil marode waren und das Wasser unkontrolliert die Wiesen der niedersächsischen Bauern im Westteil erreichte, gab es gelegentlich Streit mit der BRD. Zu den wenigen Menschen im Westen, die der fortschreitenden Versumpfung etwas Positives abgewinnen konnten, zählten die Ornithologen, die Vogelfreunde. Denn auf diese Weise siedelten sich immer mehr seltene Wiesen- und Sumpfvögel an, die andernorts längst verschwunden waren: Der Kranich, der große Brachvogel und die seltene Rohrdommel.
Doch die Ornithologen waren nicht etwa glücklich. Sie lebten im Schatten der viel populäreren Koleopterologen, einer Unterabteilung der Entomologen, wie Insektenfreunde auch genannt werden. Der Grund ihrer Missgunst war ein kleines Kerbtier, das seine Brutstätten in einem riesig großen, kilometerlangen Gebäude anlegte, welches sich mit vier gewaltigen Schornsteinen aus festem, rotem Backstein trutzig über die ganze Stadt Wolfsburg erhob. Dieses kleine Tier wurde »der Käfer« genannt und konnte keiner bekannten Art zugeordnet werden, da es in unendlich vielen Varianten existierte. Eigentlich waren sein Geschlechtsdimorphismus und seine unendliche Diversität der Grund, weshalb sich die Zahl der »Käferfreunde« auf der ganzen Welt ständig vermehrte. Der berühmteste in Deutschland war ein uralter Mann namens Ernst Jünger. Er schrieb ein Buch mit dem Titel »In Stahlgewittern«, das heute – im Gegensatz zu seiner riesigen Insektensammlung – niemand mehr kennt.
Für Evolutionstheoretiker bot der Käfer ein phantastisches Forschungsfeld. Jeder Wissenschaftler entwickelte über dessen Metamorphosen seine ganz eigene, spezielle Theorie. Es gab Bücher aus sehr persönlicher Perspektive wie »Mein erster Käfer«, aber auch speziellere wie »Über die Entstehung der Käfermodelle VW-1200 bis VW-1750« und trockene wie »Vermeidbare Rostschäden am VW-Kolbenzylinder«. Die Liebe zu dem Insekt nahm teils bizarre, hysterische Züge an. Jeder Mensch, der in Wolfsburg wohnte und lebte, stellte beispielsweise ein frisches, also ungelesenes Exemplar von Franz Kafkas »Die Verwandlung« ins Buchregal. Neben Hund oder Katze hielt man sich zusätzlich einen Käfer. Für Menschen von außerhalb war es regelrecht gefährlich, in die Stadt zu kommen und einen Opel, Ford oder Honda mit sich zu führen. Böse Blicke trafen dann die Verräter, die verschämt aus der Stadt flüchteten.
Übrigens fand die Entdeckung des Käfers nicht in Deutschland, sondern in den USA statt. Experten der New York Times schrieben am 3. Juli 1938 erstmals von einem »beetle«, den sie auf Brachland nahe Braunschweig entdeckt hätten. Sie zeichneten dabei die Vision von »Tausenden und Abertausenden glänzender kleiner Käfer, die bald die deutschen Autobahnen bevölkern werden«. Offiziell hieß das Insekt am Geburtsort noch »KdF-Wagen« und bis 1945 sein Biotop offiziell: »Stadt des KdF-Wagen bei Fallersleben«. Die Benennung ging auf staatliche Bestrebungen zurück, großen Bevölkerungsschichten die Anschaffung eines erschwinglichen Käfers, eines so genannten Volkswagens, zu ermöglichen. Diesem gelang es als »Volkswagen« sogar – im Gegensatz zum »Volksempfänger« –, seine intimen Verbindungen mit dem damaligen deutschen Horror-Regime erfolgreich abzuschütteln. Er konnte sich dank vieler Käferfreunde in aller Welt ein modernes, positives Image zulegen.
Doch es sollte ihm nichts nützen. Sein allmähliches Aussterben begann in der Mitte der achtziger Jahre und erfolgte in Etappen. Dadurch, dass sehr viel Emission durch die Verdauungstätigkeit von Millionen Käfern freigesetzt wurde, schmolz die ganze Eiskappe von Grönland. Daraufhin stieg der Meeresspiegel gewaltig. Zuerst kümmerten sich die Koleopterologen gar nicht darum. Sie feierten fröhliche Sexparties in Brasilien und erhöhten ihre Einkünfte bis ins Unermessliche. Doch irgendwann gingen ihnen nicht nur die Ideen, sondern auch das Geld aus. Durch die gewaltigen Blähungen unzähliger Käferscharen war der Meeresspiegel bereits um einen ganzen Meter gestiegen. Schließlich, im Jahr 2057, versank auch die Stadt Wolfsburg im Meer. Zum Glück hatten vereinzelte Käferfreunde die Zeichen der Zeit erkannt und sich am Gemeinen Furchschwimmer, einem Wasserkäfer aus der Familie der Dytiscidae, ein gutes Beispiel genommen. Diese ernähren sich ausschließlich von Sonne und Luft. Und furzen deshalb nie.
Heute ragen nur noch vier kleine, knapp fünf Meter hohe Türme aus dem großen, unendlichen Meer und erinnern an die längst versunkene Stadt Wolfsburg. Sie gilt als unser modernes Atlantis und wird besonders gern von esoterischen Anhängern des Auto-Kultes besucht. Deren Ideologie basiert auf größtmöglicher Individualität. Manchmal kann man die Jünger beobachten, wie sie ihre solar- und luftgefüllten Schwimmkäfer und Wasserläufer bedächtig an den roten Turmenden befestigen, um aufregende Tauchexkursionen zu unternehmen. Die vier je 120 Meter langen roten, unzerstörten Unterseesäulen gelten heute als 13. Weltwunder. Manche Menschen deuten sie als Symbole eines alten phallischen Kultes. Ich persönlich glaube das eher nicht. Der Käfer, der einst aus diesem Schoße kroch, ist zwar männlich, wirkt mit seinen Rundungen aber eher feminin – falls überhaupt eine Zuordnung möglich ist. Und außerdem soll er, genau wie manche Spinnenarten, unsichtbare, einklappbare Geschlechtsteile gehabt haben. Neben wenigen mündlichen Beschreibungen blieben vom Käfer nur ein paar Rost- und Ölflecken erhalten. Manche Menschen trauern darüber sehr. Aber mir ist das vollkommen egal, da ich nie einen Führerschein gehabt habe.

Von Wolfgang Müller, Künstler, Autor und Musiker, geboren in Wolfsburg, erscheint bei fangbomb.com ein Hörspiel mit rekonstruierten Gesängen ausgestorbener Vogelarten.