Laptops und Indigenas

Im Labyrinth der Identitäten

Auf dem »pan-amazonischen Tag« des WSF warben Organisationen und Vertreter der »Völker Amazoniens« für eine Stärkung der indigenen Identität. Mit indigenen Personal­ausweisen sind die Probleme aber nicht erledigt.

»Das hier ist nicht das richtige Amazonien. Amazonien ist dort, wo es Regenwald, Schlangen und Jaguare gibt«, erklärte ein schwedischer Besucher des Weltsozialforums einem brasilianischen Fernsehreporter vor laufender Kamera. Wie viele angereiste Teilnehmer hatte auch er nicht erwartet, dass er in einer Millionenmetropole landen und auf dem Forum indigene Delegierte mit Laptop und Handy treffen würde. Das brasilianische Ama­zonasgebiet besteht aber nicht nur aus Dschungelcamp und vormodernen Indigenen. Im Gegenteil, derzeit leben etwa 70 Prozent der Bevölkerung Amazoniens in Städten.
Diese soziale Realität spiegelte sich auch in den Workshops des Weltsozialforums, in denen neben der Erhaltung des Regenwaldes auch die gewerkschaftlichen Bewegungen für Arbeitsrechte und urbane Kampagnen gegen Buspreiserhöhungen thematisiert wurden.

Allerdings spielten kulturell und ethnisch begründete Forderungen vieler teilnehmender Gruppen keine geringe Rolle. Neben den üblichen Verdächtigen – kurdische, baskische, korsische oder palästinensische »Befreiungsbewegungen«, denen sogar eine eigene Bühne für die »Kollektivrechte der Völker und Nationen ohne Staat« gewidmet wurde – waren viele regionale Gruppen vertreten, die keine separatistischen Ambitionen hegen. Hierzu gehörten neben den Indigenen auch die Ribeirinhos (am Flussufer lebende Nachfahren von Indigenen und Einwanderern) und die Quilombolas (Nachfahren von aus der Sklaverei geflohenen Schwarzen), deren Vertreter zusammen rund 5 000 Forumsteilnehmer ausmachten.
Auf dem »pan-amazonischen Tag«, der vom lokalen Organisationskomitee zum Auftakt des Forums ausgerufen wurde, hatten die Vertreter dieser Gruppen unter der Sammelbezeichnung »Völker Amazoniens« (povos da Amazônia) ihren großen Auftritt. Auf diversen Bühnen wandten sie sich gegen Sojaplantagen und Rinderwirtschaft, die Ausweitung von Monokulturen für Bio­treib­stoffe, Mineralienabbau, Biopiraterie und die Pläne der Regierung, im Amazonasgebiet 70 neue Staudämme für die Stromproduktion zu errichten. Indigene, Ribeirinhos und Quilombolas kritisierten die damit einhergehende Zerstörung ihrer Wohngebiete, die daraus resultierende Flucht vom Land in die Stadt und die Diskriminierung und Verarmung in den Städten. Sie forderten die konsequente Realisierung und den Schutz der ihnen gesetzlich zugestandenen kollektiven Landrechte und verurteilten die staatliche Kriminalisierung ihrer Bewegungen sowie die zahlreichen gegen ihre Anführer gerichteten Mordanschläge.

Die Erkenntnis dieser Gruppen, dass es wirksamer sein kann, grundlegende Rechte kollektiv einzufordern, ist das Ergebnis einer noch relativ jungen Entwicklung. José Carlos, Koordinator der Quilombola-Bewegung im Bundesstaat Pará, wies darauf hin, dass die Quilombolas auch nach Abschaffung der Sklaverei 1888 über Generationen hinweg in kleinen Gemeinden lebten, ohne sich »Quilombola« zu nennen. »Erst die städtische Bewegung der Schwarzen aus den achtziger Jahren diente uns als Initialzündung für die Selbstbezeichnung und Identifikation als ›Quilombola‹.« Konkret bedeutet dies, die eigene lokale Geschichte zu erforschen, sich politisch zu organisieren und Forderungen nach Grundrechten und differenzierten kulturellen Rechten auf der Grundlage des Quilombola-Landrechtsgesetzes aus dem Jahre 1989 zu stellen.
Auch Amarildo dos Santos Mascarenhas von CIMI, dem indigenen Missionsrat, der sich für die Rechte ländlicher Indigener einsetzt, verspricht sich sehr viel von der Organisierung und dem Prozess der politischen Bewusstwerdung (conscientização) unter den Indigenas. Dabei warnt er davor, sich auf die Regierung und die paternalistische Politik der nationalen Indigena-stiftung Funai zu verlassen. Wichtiger sei eine lokale und internationale Vernetzung, in der Allianzen mit Nichtregierungsorganisationen und anderen solidarischen Gruppen entstünden.

Etwa ein Drittel der eine halbe Million zählenden indigenen Bevölkerung Brasiliens lebt derzeit in Städten. Erst seit kurzem findet auch hier eine Selbstorganisierung statt. Vor drei Jahren gründete sich in Boa Vista im nördlichsten Bundesstaat Roraima die Organisation städtischer Indigener Odic. Deren Vize-Präsidentin Marineide Peres da Costa erklärte Jungle World, dass Workshops veranstaltet würden, in denen die indigene Identität zu Stärkung des Selbstbewusstseins propagiert werde. Ziel sei es, dadurch eine Organisierung zu erreichen, mit deren Hilfe den schlechten Lebensbedingungen begegnet werden könnte.
Fehlende Infrastruktur, hohe Arbeitslosigkeit, materielle Armut, zunehmende Gewalt und die Ausbreitung des HI-Virus gehören zum Alltag städtischer Indigener. Erschwerend kommt hinzu, dass ihnen die von der Funai erlassenen Sonderrechte auf Gesundheitsversorgung und eine spezifisch ausgerichtete Schulbildung, die in den ausgewiesenen ländlichen indigenen Schutzgebieten gelten, nicht zugestanden werden. Um Kranken­stationen besuchen oder Kindergeld bekommen zu können, ist ein indigener Personalausweis nötig, der wiederum nur mit Erlaubnis lokaler indigener Autoritäten (Tuxáua) ausgeteilt wird. Die jedoch praktizierten nicht selten eine ganz eigene Identitätspolitik, erzählt Peres da Costa: »Bei unseren Erhebungen in den Armenvierteln traf ich auf eine allein erziehende Mutter, die mit einem Mindestlohn von 465 Reais (etwa 150 Euro) sieben Kinder ernährt und noch Miete für ihre aus Holzplanken zusammengeschusterte Hütte zahlt. Mit einem indigenen Personalausweis hätte sie Recht auf ein Kindergeld in Höhe von 1 000 Reais. Doch der Tuxáua in ihrem Heimatdorf verweigerte ihr diese indigene Identität. Er war der Meinung, dass sie durch ihre Abwanderung in die Stadt keine india mehr sei.«
Städtische Indigene sehen sich folglich einer doppelten Diskriminierung ausgesetzt. Von der nicht-indigenen Stadtbevölkerung als faul und schmutzig beschimpft und zumeist des Diebstahls bezichtigt, erfahren sie auch von ihren Herkunftsgemeinden Zurückweisung und Ablehnung. So bleibt die Forderung nach einer Stärkung der indigenen Identität für die in der Stadt Lebenden eine widersprüchliche Angelegenheit.

Zum großen Widerspruch des ganzen Spektakels gehörte auch der Auftritt des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio da Silva. Während Indigene, Ribeirinhos und Quilombolas auf dem Gelände des Weltsozialforums in jeweils eigenen Veranstaltungszelten ihre Forderungen stellten, trat Lula in einer eigenen Halle auf. Durch die Einladung der vier linken lateinamerikanischen Staatspräsidenten und die Absage seiner Teilnahme am Weltwirtschaftsgipfel in Davos machte Lula seine eigenen identitätspolitischen Absichten deutlich: die lateinamerikanische Solidarität gegen den globalen Norden zu richten. Kein Wort verlor er allerdings über seine von Doppelmoral gekennzeichnete Amazonien-Politik, in der die povos da Amazônia immer weniger berücksichtigt werden. Deren Interessen werden gegen Großgrundbesitzer, Unternehmer sowie die städtische Arbeiter- und Mittelklasse ausgespielt, wenn es um die Realisierung der geplanten 500 amazonischen Megaprojekte in den Bereichen Ölwirtschaft, Wasserkraft und Straßenbau geht, die die Region wirtschaftlich erschließen und national integrieren soll – alles für den Aufstieg des Schwellenlands Brasiliens in die Liga der führenden Industrienationen.