Das Weltsozialforum in Belém

Rascheln im Regenwald

Fünf Tage lang fand in Belém, im Amazo­nas­gebiet Brasiliens, das Weltsozialforum statt. Neben viel Folklore und globalisierungskritischen Standards waren die Weltfinanzkrise und die alternative »Solidarische Ökonomie« die dominierenden Themen. Die Bewohner Beléms hingegen vermissten Solidarität.

»Mutter Erde weint, und wer kann es ihr verdenken, wenn sie zusehen muss, wie sich die Menschenkinder selbst auslöschen. Aber ihre Tränen sind getrocknet, als sie gesehen hat, wer sich hier im Amazonas versammelt.« So kommentiert ein Mitglied einer bolivianischen Indigena-Organisation den tropischen Regenguss kurz vor Beginn der Eröffnungsdemonstration des diesjährigen Weltsozialforums (WSF) in der brasilianischen Amazonas-Großstadt Belém do Para. Als die Menge nach stundenlangem Samba-Step zur Abschlusskundgebung auf die Plaza de Operários, den Platz der Arbeiter, kommt, sind die Demo-Outfits längst wieder getrocknet, vom uniformen Gewerkschafts-T-Shirt, dem importierten Afrolook brasilianischer Jugendlicher, über zu groß geratene Kaftane, lässige Badehosen, Batik-Wickelröcke bis hin zu Turbanen spiritistisch angehauch­ter Altermondialisten. Wenn der globale Anspruch des WSF in Belém überwiegend von Besucherinnen und Besuchern aus Brasilien, Europa und den USA vertreten wird, dann muss zumindest der One-World-Look sitzen.
Die Suche nach authentischen Schnappschüssen scheint deshalb umso wichtiger. Eine sichtlich genervte Frau aus Kenia wird noch bis zum Dixi-Klo von Hobbyfotografen verfolgt. Auch ­einigen der über 3 000 Angehörigen indigener Gemeinden aus Nord- und Südamerika, vor allem der ethnischen Gruppen aus der Amazonas-Region, wird das Posieren irgendwann zu viel. Andere kassieren abgeklärt ein paar Reais für Aufnahmen mit Federkronen und Körperbemalungen.

Indigenes Amazonien
Dennoch sind die Amazonas-Bewohnerinnen und -Bewohner, die oft tagelang mit Bussen und Booten unterwegs waren, um am Forum teilzunehmen, weit mehr als exotisches Beiwerk. Einerseits hat der internationale Rat des WSF die Lebensweise der indigenen Gruppen aus den Amazonas-Anrainerstaaten und deren Forderungen und Vorschläge zur Nutzung des Regenwaldes explizit zum Thema Dutzender Veranstaltungen gemacht. Gleichzeitig wissen Indigene wie Gedáo von der Gruppe der Arapyú sehr gut ohne institutionelle Fürsprecher auszukommen und ihre Anliegen den bestimmenden Diskursen wie »Nachhaltigkeit« und »solidarische Ökonomie« entsprechend zu formulieren. »Wir brauchen Unterstützung dabei, neue Märkte für unser Kunsthandwerk zu erschließen, und nicht länger eine Politik, die in der Region Wasserkraftwerke bauen will und den monokulturellen Anbau von Soja für die Agrarexporte fördert.« Dann gibt Gedáo dem verblüfften Vertreter einer kanadischen Entwicklungsorganisation seine E-Mail-Adresse und verschwindet zu einer Veranstaltung zum Thema »Indigene Frauennetzwerke in Latein­amerika«.
Das gegenseitige Kennenlernen und das Ausloten der Möglichkeiten gemeinsamen Handelns sind ja bereits seit dem ersten WSF in Porto Alegre, das im Jahr 2001 stattfand, ein erklärtes Ziel des Großereignisses. Auch auf dem Campusgelände zweier Universitäten in Belém schwingt wieder einiges von diesem pluralen Gründergeist mit, der sich von Rezepten für organische Pizza bis hin zu Gebrauchsanweisungen für die Regulierung der internationalen Finanzmärkte zieht. Für den »Offenen Raum« des WSF wurden diesmal fast 2 500 Veranstaltungen eingetragen.
Zu einem bestimmenden Thema hat sich neben der Amazonas-Region erwartungsgemäß die Weltfinanzkrise entwickelt. »Sicher ist das ein wichtiger Ansatzpunkt für eine globale Analyse der herrschenden Wirtschaftsordnung«, meldet sich bei einer Veranstaltung zu »Ernährungssicherheit« im Ökumenischen Zelt jemand aus dem Publikum zu Wort. »Aber das darf kein isoliertes Thema sein, sondern die Krise muss ständig in Verbindung mit anderen lokalen Krisen gesetzt werden, so wie der sich wieder verschlechternden Versorgungslage in Afrika beispielsweise. Der Hunger ist wieder auf dem Vormarsch, aber kaum jemand bekommt das hier mit.«
Alles mitzubekommen, was auf dem WSF so läuft, ist wegen des lückenhaften Programms eben­falls eine echte Herausforderung. Wer es irgendwann aufgibt, hat zumindest die Möglichkeit, in der Aldéia da Paz, dem Friedensdorf, das seine Zelte und Bauwagen in einem kleinen Wäldchen auf dem Gelände der Landwirtschaftlichen Universität (UFRA) aufgestellt hat, ein wenig zu verschnaufen. »Auf dem anderen Gelände sind die Menschen, die über eine andere Welt reden, hier sind die Menschen, die eine andere Welt leben«, erzählt eine Bewohnerin der Jungle World. Zeit spiele hier keine Rolle, erklärt uns ein Mann, der gerade auf dem Weg zum »ewigen Feuer« ist, um noch ein bisschen zu meditieren. Für andere Aktivitäten auf dem Forum interessiert er sich nicht.

Fünf Präsidenten
Großer Andrang herrscht hingegen erwartungsgemäß beim Auftritt der fünf Präsidenten aus Brasilien, Ecuador, Bolivien, Paraguay und Venezuela. Die größten Sympathien des Publikums liegen ganz deutlich bei dem bolivianischen Präsidenten Evo Morales, wohl auch aus Solidarität mit den indigenen sozialen Bewegungen in Bolivien und aus Unterstützung für dessen angesichts des heftigen Widerstands der bolivianischen Oli­garchie schwierige Regierungsarbeit. Hugo Chávez hingegen enttäuscht als Interpret von »Comandante Che Guevara«. Immerhin überrascht er mit seiner Aussage, jetzt Feminist geworden zu sein – eine »Voraussetzung«, wie er sagt, »auf dem Weg zu einem neuen Geschlechterverhältnis auf dem Weg in den Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Nur kurzzeitig herrscht Unruhe im Saal, als die brasilianische Gruppe Critica Radical aus Fortaleza ihr Spruchband ausrollt (»Lula, Obama, Chávez – den Kapitalismus zu verwalten, ist Barbarei!«) und unter Beschimpfungen aus dem Kongresszentrum getrieben wird.
Die Gruppe auf dem WSF habe jedoch sehr viel Interesse erfahren, insbesondere an ihrer Veranstaltung »Antifetischistisches Manifest«, erzählt Rosa, Mitbegründerin der Initiative. Mit Workshops, Diskussionsrunden und Filmvorführungen zu den Arbeiten von Robert Kurz, Moishe Postone und Guy Debord versucht Critica Radical jetzt bereits auf dem vierten WSF, dem »reformistischen Teil der sozialen Bewegungen« etwas entgegenzusetzen, sagt Rosa. »Wir halten es eben für wichtig, über den Fetischcharakter der menschlichen Beziehungen zu diskutieren und auch die Widersprüche des WSF deutlich zu machen. Denn bei der hoffnungsvollen Suche nach staatlichen Rettern bleibt emanzipatorisches politisches Handeln auf der Strecke.«
Widersprüchlich ist in diesem Sinne auch das Verhältnis der Landlosenbewegung MST zur brasilianischen Regierung. Eigentlich ist der MST, der gegenüber der agrarwissenschaftlichen Fakultät in einer Schule kampiert, ziemlich unzufrieden mit der Regierung, da das Institut für Agrarreform, Incra, den Landlosen 2008 kaum Land zugesprochen hat und die staatlichen Investitionen in technische Unterstützung und Häuser für die Landlosen sehr dürftig ausgefallen sind. »Die Landreform in Brasilien ist dieses Jahr vollkommen erlahmt. Die Regierung hatte uns versprochen, mindestens 100 000 Familien Land zu geben, nach Angaben der Regierung sind aber 2008 nur 20 000 Familien angesiedelt worden«, erklärt Egide Brunett, internationaler Koordinator des MST, der Jungle World. Dennoch setzt die Bewegung weiterhin auf Verhandlungen und führt einen intensiven Dialog mit Regierungsmitgliedern und -institutionen. Allerdings ist die Frage nach dem Verhältnis zur Regierung auch innerhalb des MST umstritten.
Während einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie Organisationen des Forums die starke Präsenz von staatlichen und der Regierung nahe stehenden Organen und das Auftreten der Präsidenten aus den fünf lateinamerikanischen Staaten kritisieren, ist Brunett darüber erfreut: »Die Präsidenten haben schon immer teilgenommen, seit dem ersten Sozialforum, früher als Aktivisten. Lula war noch nicht einmal Präsident, als er am Forum 2001 in Porto Alegre teilnahm. Ich bin froh, dass progressive Präsidenten zu diesem Forum gekommen sind.«

Solidarische Ökonomie
Kein radikaler Bruch, sondern eine Umkehrung des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit durch die Organisation der Produktionsverhältnisse auf der Basis von Solidarität, Kollektivität und partizipativer Demokratie – das ist das erklärte Ziel der Verfechter einer »solidarischen Ökonomie« in Brasilien. Dieses Thema taucht auf dem WSF ständig in den Diskussionen auf, insbesondere dann, wenn es um Alternativen zum Kapitalismus geht. Allein 143 Veranstaltungen werden zum Thema Solidarische Ökonomie angeboten. Dabei geht es vor allem um die Vernetzung von Initiativen der Solidarischen Ökonomie, NGO und Organisationen, die diese unterstützen, aber auch von Forschungsgruppen, die die solidarischen Produktions-, Verkaufs- und Kreditkooperativen, -vereine und -unternehmen untersuchen.
Auffällig an der Struktur der Solidarischen Ökonomie ist die Kluft zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs und der Realität vieler Initiativen. Dies wird insbesondere auf einer einem Akademikerzirkel gleichenden Veranstaltung der brasilianischen Universität Unisinos auf dem Forum deutlich. Ziel der Veranstaltung ist die Vernetzung der Forscher. »Unsere Forschungskooperation mit der Universität Coimbra ist einmalig, wir sind hier, um über diese Erfahrung zu sprechen«, erklären die schick gekleideten und etwas hochnäsig wirkenden Hochschulprofessoren und deren Assistenten den Teilnehmern.
Sie scheinen meilenweit weg zu sein von der Realität vieler Kooperativen und Vereine der Solidarischen Ökonomie. Die meisten von diesen leben knapp über der Armutsgrenze, allein 37 Prozent der solidarischen Initiativen sind informelle Gruppen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Initiativen und kollektiven Unternehmen, die wirtschaftlich etwas besser dastehen, haben häufig eine 48-Stunden-Woche und sind weder sozial- noch krankenversichert. Insofern ist fraglich, inwiefern die selbständige kollektive Form der Arbeitsorganisation der Solidarischen Ökonomie sich außerhalb prekärer Arbeitsverhältnisse und Ausbeutung entwickeln kann und ein »neues Paradigma« darstellt, wie Maria vom Fórum Brasileiro de Economia Solidária (FBES) auf einem der Abschlussplena zum Thema Finanzkrise erklärt.
Graça Pires vom »Forum der Frauen« im Bundes­staat Pará berichtet auf einer Veranstaltung der Frauenbewegungen in Lateinamerika: »Ich arbeite selbständig und bin Teil der Solidarischen Ökonomie. Ich mache Schmuck, verkaufe Parfum, stelle Snacks her und verkaufe sie an Geschäfte usw. So versuche ich, mich über Wasser zu halten, denn ich habe eine Tochter, die ich ernähren muss.« Politisch engagiert sich Graça inzwischen nicht mehr in der Solidarischen Ökonomie, weil sie findet, dass auf den Foren und auch innerhalb der Initiativen Männer zu sehr dominieren – und das, obwohl 70 Prozent der in der Solidarischen Ökonomie Arbeitenden Frauen sind: »Ich war früher aktiv in der Bewegung, aber es ist nicht gutgegangen, denn ich bin Feministin. Ich habe das Recht zu putzen, aber ich will auch das Recht haben, politisch mitzubestimmen. Ich habe mich von der Solidarischen Ökonomie distanziert, weil ich festgestellt habe, dass die Frauen dort nicht mitbestimmen, sich nicht durchsetzen, obwohl sie in der Mehrzahl sind.«

Militärisch gesichert
Während auf dem umzäunten und von der Militärpolizei gesicherten WSF-Gelände die Produkte solidarischer Ökonomie gehandelt werden, haben entlang der Zufahrtsstraßen die Anwohnerinnen und Anwohner des armen Viertels Terra Firme ihre Stände aufgebaut, verkaufen Wasser, Bananen, Hähnchenherzenschaschlik und Souvenirs. Ursprünglich war vom Rat des Sozialforums vorgesehen, sie wesentlich stärker in das Großereignis zu integrieren, ein Teil der WSF-Mittel sollte in Projekte fließen, die den Bedürfnissen der ortsansässigen Bevölkerung zugute kommen. Da sich die Organisatoren bei der Verwaltung des Geldes überfordert fühlten, übertrugen sie die Aufgabe an den Stadtrat von Belém.
Doch anstatt soziale Einrichtungen und Arbeit zu fördern, investierte die Stadt in den Abriss von Häusern und in die Erweiterung von Straßen in Terra Firme – und in die Verstärkung der Polizeipräsenz während des Forums. Dabei hatte die brasilianische Regierung bereits 10 000 Militärs in die Amazonas-Metropole entsandt, um die »Sicherheitslage zu verbessern«. Mehr als doppelt so viele übrigens, wie das World Economic Forum in Davos absicherten.
»Aus dem Stadtzentrum wurden bereits vor dem Beginn des Forums die Bettler vertrieben. Die Polizei macht Gesichtskontrollen, und wenn klar ist, dass du dich längere Zeit auf der Straße aufhältst, wirst du verjagt«, erzählt uns ein Bewohner Beléms. In einem anderen Stadtteil töten am zweiten Tag des WSF vier maskierte Männer in Polizeiuniformen drei Jugendliche, »wegen ihrer Verwicklung in den Drogenhandel«, wie es von offizieller Seite heißt. Im Januar wurden bereits acht Jugendliche von der Polizei ermordet. »In mehreren Vierteln kommt es immer wieder vor, dass Menschen von der Polizei entführt werden, um ein Lösegeld von den Angehörigen zu erpressen«, erzählt uns die Mutter von Rafael Viana, der im November vergangenen Jahres von drei städtischen Polizeibeamten zu Tode gefoltert wurde, da die Familie nicht zahlen konnte. Die Wut der Bewohner Beléms, vor allem der Leute aus den ärmeren Vierteln, entlädt sich am Samstag, als sie auf dem WSF-Gelände eine Demonstration veranstalten, um gegen die polizeiliche Repression, die endemische Gewalt im Viertel und ihren Quasi-Ausschluss vom Forum zu protestieren.

Projekte
Den öffentlichen Raum des Forums nutzen aber auch Gewerkschaften, um Werbung für Infrastrukturprojekte wie den Bau des 40 000 Hektar umfassenden Wasserkraftwerks Belo Monte im Süden des Bundesstaats Pará zu machen. Der fast 2 000 Kilometer lange Rio Xingu soll dafür angestaut werden. Belo Monte oder »Belo Mons­tro«, wie das Projekt von seinen Gegnern genannt wird, würde ein Gebiet betreffen, auf dem 24 verschiedene indigene Gruppen leben. Sie wurden von niemandem gefragt, ob sie mit dem Projekt einverstanden seien. Die Gewerkschaften befürworten den Staudamm, den sie als notwendig für das Florieren der nationalen Wirtschaft ansehen. Das Wasserkraftwerk, das Teil des Plans für beschleunigtes Wirtschaftswachstum (PAC) der Regierung Lula ist, könnte zudem das gesamte ökologische Gleich­gewicht in der Region erheblich beeinträchtigen. Und Belo Monte ist nur eines von vielen Beispielen für die Aktivitäten der Regierungen und transnationalen Unternehmen, die die Lebensgrundlage indigener und anderer Bevölkerungsgruppen bedrohen.
Viele davon sind Thema beim WSF, aber es dominiert bei den Forumsdiskussionen bis zum Ende eindeutig das Thema Finanzkrise. Die Krisen­diagnostiker des Weltsozialforums fühlen sich in ihrer Kritik an unkontrollierten Finanzmärkten und Akkumulationsregimes bestätigt. Auch angesichts des Verlaufs des Weltwirtschaftsforums in Davos. Die zum Thema Weltfinanzkrise arbeiten­den Organisationen und NGO wollen in Zukunft verstärkt gemeinsam an Alternativvorschlägen zu den von den G20-Staaten entwickelten Lösungs­mechanismen arbeiten. Daran werden sich wahrscheinlich viele Agendas, Demonstrationen und Veranstaltungen der Altermondialistas in diesem Jahr orientieren.