Die Berlinale, das Kino und die Krise

Die neue Härte

Das Kino ist im Niedergang begriffen und leidet an Besucherschwund. Auch wenn die Berlinale gerade Publikumsrekorde verzeichnen konnte, sprechen die Filme die Sprache der Krise und zeigen, wie hässlich das Verlieren ist.

Leere vor der Leinwand« konstatiert dieser Tage der Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft. Und stellt für das Filmjahr 2008 fest: Kinobesuche sind rückläufig. Es scheint, man hat es mit einem sterbenden Medium zu tun. Trotz Digitalisierung des Kinosaals entwickelt der Zuschauer einen noch größeren Hang zur Digitalisierung des Zuhauses. DVDs sind schon billiger als eine Kinokarte.
Wie auch viele Verbände bereits feststellen mussten, ist das Publikum nur noch projektbezogen zu begeistern. Die Berlinale scheint so ein Projekt zu sein: Bereits zur Mitte des diesjährigen Festivals waren 270000 Karten verkauft wor­den. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr wurden während der gesamten Berlinale 240 000 Karten verkauft.

Warum der Andrang? Folgende Vermutung liegt nahe: Aus der Finanzkrise, die für jeden zu spüren ist, ist mehr Kunst zu machen als mit einer Globalisierung, die noch nicht recht bis in die letzten Winkel durchgedrungen ist. Insofern war die Berlinale hochinteressant, weil hochpolitisch. Hinzu kam, dass nun auch sehr gute Drehbücher vorhanden waren: Illegale Einwanderer und Unterernährung – Themen, mit denen bisher auf die Tränendrüsen gedrückt wurde, entwerfen ihre eigenen, glaubwürdigen Helden – wie in Philippe Liorets »Welcome«. Hier knallen die Welten aufeinander, aber sie tun es nicht unfreundlich. Neue Allianzen bilden sich, wenn der irakische Flüchtling in Calais landet, in der Wohnung des französischen Schwimmlehrers mit handfester Midlife-Crisis. Die beiden können etwas miteinander anfangen. Der einst olympiareife Trainer baut seine neue Bekanntschaft zum Schwimmstar auf. Denn die Strecke seines Lebens wartet: die Überquerung des Kanals nach Dover.

Rührseligkeit ist diesem Kino fremd, es lässt seine Protagonisten eiskalt absaufen, wenn es sein muss. Wo das nicht geht, müssen sie sich womöglich selbst ein Bein stellen. Dann gehen sie an ihrer Moral zu Grunde, wie die Hauptfigur des dänischen Films »Lille Soldat« oder jene Chef­anklägerin in Hans-Christian Schmids »Storm«, die offensichtlich ihren Beruf verfehlt hat. Heldenfiguren, die Versager sind, die die einfachsten Dinge nicht kapieren.
Dazu gehört auch der Ermittler in Tom Tykwers »The International«. Der Job ist alles, alles andere nichts. Die Kollegin lässt den wahren Skandal hochgehen und fragt: »Wann hast du dich zuletzt gewaschen, wann was gegessen und wann Sex gehabt?« Antwort auf alles: keine Ahnung.
Hat man es hier mit bescheuerten Figuren oder armseligen Regisseuren zu tun? Antwort auf beides: keine Ahnung. Aber spürbar wurde: Der Film und seine Mittel sind in der Krise. Geschwindigkeit und Weite gibt es nicht mehr, sie sind ein Fall für die Filmhistorie.

In der Retrospektive wurde folgerichtig dem Weitwinkelfilm gehuldigt. Die spektakulärste Action-Szene im Wettbewerb: eine Verfolgungsjagd zu Fuß (ohne Rennen!), ebenfalls in »The International«. Der beste Filmdialog stammt hingegen aus dem Dokumentarfilm »Food Inc.« über die US-Lebensmittelindustrie:
Bauer: »Hi, Pig.« – Schwein: »Grunz.«
Das war aber eher Zufall. Die meisten Dokumentationen waren unerbittlich, bis zur Unerträglichkeit. Meist gab es weder Erklärungen noch Auswege. Es kamen die Betroffenen zu Wort, und zwar allein. Wie Maschinengewehrfeuer, oder besser: wie Religion, knallten die Statements aus der Leinwand, unaufhörlich. Bei »Citizen Juling«, einer fast vierstündigen thailändischen Dokumentation, gerann dieses Konzept zur Unrezipierbarkeit – solche Filme kommen nahezu ohne Bilder aus. Man könnte sie auch als Text herummailen.
Das Kino ist im selben struppigen Zustand wie die Gegenwart: Aufreger, Publikumskiller, reaktionäre Filme, Provokationen, Chaos – die Berlinale bildete all dies naturgetreu ab.
Jürgen Kiontke

Im 30. Jahr ihres Bestehens bot die traditionell vielseitig ausgerichtete Panorama-Sektion wieder die interessanteren Filme und behauptete sich damit abermals als wichtiger Gegenpol zum prestigeträchtigeren Wettbewerb. Wie man einfaches, aber wirkungsmächtiges Kino mit politischem Inhalt macht, zeigt Regisseur Pavel Bardin in dem Spielfilm »Rossiya 88« (»Russland 88«).

Das Dokudrama schildert die Geschichte eines Anführers einer Moskauer Nazi-Skin-Gruppe. Das alltägliche Treiben der dumpfen Truppe wird von dem schmächtigen Mitläufer Abraham mittels Videokamera dokumentiert. Der Dreh von primitiven Propagandaclips fürs Internet, das Sieg-Heil-Gegröle, die Saufgelage, die Hetzjagden, Wehrsport und anderer Stumpfsinn stehen in hartem Kontrast zu den Aufnahmen aus dem familiären Umfeld des Anführers Blade. Dessen Schwester fängt ein Verhältnis mit einem kaukasischen Jungen an und verheimlicht dies dem Bruder, aber Dokumentarist Abraham erwischt die beiden und berichtet Blade davon. Und der will die vemeintliche Schande nicht dulden, denn Menschen aus der Kaukasus-Region passen nicht in die Nazi-Ideologie vom reinen Russland.
Die Handlung wird im kruden Doku-Style inszeniert, man erlebt das Ganze als Betrachter so, als würde ein ungeschnittenes Video eines Amateurs abgespielt. Diese grobe Form verleiht dem Dargestellten einerseits eine eindringliche Authentizität, andererseits offenbaren sich durch diese holprige Inszenierungsform einige dramaturgische Schwächen. Gerade aber diese sind wiederum doch die Stärken des Films, da das im­mer wiederkehrende Dauerfeuer stupider Abgründigkeit dermaßen enervierend wirkt, dass man dem Film jedwede Ästhetisierung absprechen kann.
Im Abspann werden die Opfer rechter Gewalt in Russland im Jahr 2008 namentlich genannt, 128 Menschen wurden von Nazis ermordet. Nach der Vorführung bei der Berlinale bedankten sich einige russische Journalisten beim Regisseur dafür, dass dieses Thema angepackt wurde. Einen Verleih hat »Rossiya 88« in Russland allerdings noch nicht gefunden, was auch da­ran liegen könnte, dass Nazi-Parolen in der Bevölkerung durchaus auf fruchtbaren Boden fallen: Die einzigen authentischen Szenen des Films zeigen, wie die Skinhead-Darsteller Moskauer Bürger auf der Straße interviewen. Für die Parole »Russland den Russen« ernten sie, quer durch alle Altersstufen, fast nur begeisterte Zustimmung.

Mit menschlichen Abgründen ganz anderer Art beschäftigt sich der britische Film »White Lightnin’« von Dominic Murphy, die aus der selbstzerstörerischen Lebensgeschichte des legendären »Dancing Outlaw« Jesco White aus West Virginia einen düster-surrealen Trip extrahiert. Der Sohn eines berühmten Tap-Tänzers wächst in bitterer Armut auf, fängt schon als Kind an, Benzin zu schnüffeln, und kommt frühzeitig mit dem Gesetz in Konflikt. Die Stationen Heim, Gefängnis, Psychiatrie sind vorgezeichnet, lediglich der ihm von seinem Vater beigebrachte Appalachian Step Dance bewahrt ihn vorerst vor dem Absturz und sichert ihm als Tänzer einen kargen Lebensunterhalt. Nach und nach treiben ihn aber seine Dämonen, als da wären Drogensucht und Depressionen, in einen wahnhaften Blutrausch. Im letzten Drittel erreicht der verstörende Bilderreigen, kongenial vom kaputten Psychobilly Hasil Adkins untermalt, eine einzigartig albtraumhafte Intensität, die man lange nicht mehr im Kino erlebt hat.

Um ein Leben in Normalität wird dagegen bei Jean-Paul Lilienfeld gerungen. Er fragte sich: Wie fühlen sich eigentlich all die älteren Frauen, die sich das Recht auf Bildung und einen liberalen westlichen Lebensstil gegen den Widerstand ihrer muslimisch geprägten Eltern erstreiten mussten, angesichts des grassierenden Machotums vieler Jungs aus Einwandererfamilien? Die Antwort versucht sein Film »La Journée de la Jupe« (Heute trage ich Rock) mit Isabelle Adjani als Lehrerin zu geben. Als sie bei einem ihrer Schüler eine Pistole entdeckt, nimmt sie ihre Klasse als Geisel.
Leider verläuft sich der Film bald auf zahlreichen Nebenpfaden. Die richtigen Fragen wie die nach einem Rezept gegen Kulturrelativismus, Ausgrenzung, Frauenverachtung zu stellen, reicht eben manchmal nicht.
Axel Grumbach/Elke Wittich