Der kurdische Nordirak zwischen Modernisierung und dem Kampf ums Überleben

Eine Zukunft ohne Schnurrbart

Im Nordirak wächst wenige Wochen vor den Wahlen der Unmut über die kurdische Regierung. Während in den Städten junge Frauen inzwischen Billard spielen gehen, leiden Menschen in abgelegenen Gebieten noch an Unterernährung. Langsam entstehen unabhängige Bürgerinitiativen, die den Alltag in den kurdischen Dörfern verbessern wollen.

Am Montag voriger Woche jährte sich der Giftgas­angriff auf die irakisch-kurdische Stadt Halabja zum 21. Mal. Sei es in Arbil, in Berlin oder in Wa­shin­gton, überall gehört es mittlerweile zum guten Ton, an diesem einen Tag im Jahr ein paar Tränen über die Opfer des damaligen Massakers der irakischen Armee zu verlieren, um dann wieder zur Tagesordnung überzugehen. Doch wie sieht dieser Alltag aus?

Das Tausend-Seelen-Dorf Göptepe liegt etwa eine Stunde Fahrt auf schlechten Straßen entfernt von Suleymaniah. Wie 63 andere Dörfer auch wurde Göptepe im Rahmen jener Anfal-Kampagne, in der Saddam Hussein in den achtziger Jahren den kurdischen Nordirak zerstörte, mit Gift­gas angegriffen und dem Erdboden gleichgemacht. 300 Men­schen starben hier, der Rest wurde verschleppt. Das Schicksal dieser Dörfer, der Menschen, die damals dort starben, sowie der Über­lebenden ist heute noch weitgehend unbekannt.
Zwar wurde Göptepe inzwischen wieder aufgebaut, der Ort liegt malerisch über einem Flusstal, es gibt eine Schule und ein kleines Gesundheitszentrum. Ein Monument neben dem Friedhof, auf dem die Opfer aus dem Jahre 1988 beigesetzt wur­den, erinnert an den Giftgasangriff. Mehr nicht. Ein kurdisches Dorf unter Hunderten anderen, an denen die derzeitige rasante Entwicklung in den Städten im kurdischen Nord­irak völlig vorbeigeht.
Offizielle Beteuerungen kurdischer Politiker, man kümmere sich um den Wiederaufbau des gan­zen Landes, entlarven sich als hohle Phrasen, sobald man die drei großen Städte der Region, Do­huk, Arbil und Suleymaniah verlässt. Entlegene Regionen des Nordirak sind häufig noch von jeder Infrastruktur abgeschnitten, hier fehlt es an Wasser- und Gesundheitsversorgung, von der Qualität und Ausstattung der Schulen, soweit sie existieren, ganz zu schweigen. Wer irgendwie kann, geht in die Stadt und versucht dort, im aufgeblähten öffentlichen Sektor unterzukommen. Der Rest bestellt kleine Felder, hat ein paar Tiere, ist von irgendwelchen staatlichen Zuschüssen ab­hängig oder arbeitslos.
In diesen Dörfern herrschen einige wenige, meist ältere Männer neben dem Mullah, der oft völlig ungebildet ist. In der Regel sind das der lokale Parteivertreter und die Stammeschefs. Mäd­chen werden in jungen Jahren verheiratet, niemand fragt sie nach ihrer Meinung. Entschieden wird das vom Stamm oder von der Familie. Die meisten Mädchen sind genitalverstümmelt. Wenn sie sich gegen das dörfliche Patriarchat irgendwie auflehnen, droht ihnen Gewalt bis hin zum so genannten Ehrenmord. Kinderspielplätze, Jugendclubs oder ähnliches sucht man hier meist ebenso vergebens wie Orte, an denen sich Frauen ungestört treffen können.

Aber anders als noch vor einigen Jahren, regt sich nun auch in einigen Dörfern, und eben nicht mehr nur in den Städten, der Unmut über die all­gemeine politische Lage, 18 Jahre nachdem die Truppen Saddam Husseins aus dem Nordirak vertrieben wurden. Längst ist nämlich eine neue Generation herangewachsen, die weder die früher so prägende Angst vor dem Saddam-Regime kennt noch willens ist, ehrfurchtsvoll den Erzählungen der Alten über Widerstand und Guerillakampf der Kurden in der Vergangenheit zu lauschen. Satellitenfernsehen, Mobiltelefone und In­ternet sind inzwischen so weit verbreitet, dass man selbst in abgelegenen Regionen die Welt ins Haus bekommt.
Auch in Göptepe. Hier etwa hat sich im vergangenen Jahr eine kleine Gruppe junger arbeitsloser Lehrer zu einer Kulturinitiative zusammenge­schlossen. Ohne jede Unterstützung seitens der Regierung oder ausländischer Organisationen ha­ben sie inzwischen eine Dorfbibliothek eröffnet, nachdem sie ihre Bücher und die von Freunden und Bekannten gesammelt hatten. Eine Familie, die in die benachbarte Kleinstadt Barzian umgezogen ist, stellte ihr altes Haus zur Verfügung. Und so ist nun eine der ersten unabhängigen länd­lichen Büchereien im Nordirak entstanden. »Wir haben gebettelt und gefleht, dass man etwas für unser Dorf tut«, erklärt Hirmen, einer der Lehrer, »aber nichts ist geschehen. Nur am 16. März, wenn der Bombardierung von Halabja gedacht wird, hören und lesen wir, dass es die Verpflichtung und Aufgabe der kurdischen Regierung sei, den Opfern der Giftgas­angriffe zu helfen. Also haben wir unser Schicksal selbst in die Hand genommen.« Und die Gruppe hat noch Großes vor. Da es weder einen Spielplatz noch einen Kindergarten gibt und auch keinen Treffpunkt für Jugend­liche, soll all dies in Zukunft hier entstehen.
Die Initiative hat sich bereits ausgezahlt: Nachdem die unabhängige Zeitung Awena über die Gruppe und ihre Aktivitäten berichtet und die Un­tätigkeit der Regierung scharf kritisiert hatte, hat nun das Büro des Gouverneurs von Suleymaniah Geld für den Neubau eines Bibliotheksgebäudes zur Verfügung gestellt.
Die jungen Lehrer haben eine wichtige Lektion begriffen. »Wer autoritätsfixiert auf Wohltaten der Regierung wartet oder hofft, geht in der Regel leer aus, bestenfalls wird er mit Versprechungen abgespeist«, erklärt Omar Mohammad von der kurdischen Organisation Chak, die sich mit geringen Mitteln um die Überlebenden der Anfal-Kampagne kümmert. Zwar breitet sich im Nordirak der Unmut über die Regionalregierung und die zwei herrschenden Parteien KDP und Puk aus, nur bleibt es meist beim Lamentieren ohne konkrete Folgen. So ist es inzwischen fast unmöglich, jemanden zu treffen, der an den Herrschenden auch nur ein gutes Haar lässt. Überall hört und liest man von der Unfähigkeit von Ministern und Parlamentariern sowie von weit verbreiteter Korruption, Vetternwirtschaft und Missmanagement. Immerhin ist es hier möglich, im Gegensatz zu anderen Ländern in der Region, öffentliche Kritik zu üben. Korruption, Nepotismus und mangelnde Transparenz gibt es in vielen nahöstlichen Ländern, nur kann man sie in Syrien oder dem Iran nicht derart offen kri­tisieren, ohne Repressalien fürchten zu müssen. Dass radikale Kritik in den kurdischen Gebieten jedoch kaum formuliert wird, liegt allerdings daran, dass selbst die schärfsten Kritiker des politischen Systems die kurdischen Parteien und die Regierung als »kleineres Übel« betrachten. Ver­wunderlich ist das kaum, denn die Alternative dazu wären die Islamisten. Ähnlich wie in den pa­lästinensischen Gebieten, wo die Hamas unter anderem mit ihrem Antikorruptionswahlkampf große Erfolge verbuchen konnte, versuchen die seit 2003 geschwächten Islamisten in Kurdistan, sich als »Saubermänner« zu profilieren. Zwar gelingt ihnen das bislang nicht besonders gut, aber ihnen traut niemand so wirklich, denn die Zeit in den neunziger Jahren, als Teile des kurdischen Nordirak von islamischen Parteien kontrolliert wurden, ist bei vielen Leuten noch gut in Erinnerung. Mit Unverständnis, ja Grausen verfolgen gerade die jüngeren Menschen aus der kurdischen Mittelschicht die Entwicklung etwa im Gaza-Streifen oder in Pakistan, wo der radikale Islam auf dem Vormarsch ist.
Jenseits der großen Parteien gibt es im Nord­irak nämlich bislang kaum Alternativen. KDP und Puk, die sich die Regierungsgeschäfte untereinander aufgeteilt haben, kontrollieren noch immer Wirtschaft, Politik, Medien und das öffentliche Leben. Sie wiederum kontrolliert niemand.

Hirmen und seine Kollegen müssen nur aus dem Fenster ihrer kleinen Bibliothek schauen, um ein extremes Beispiel für die Lage vor Augen zu haben. Ex-Landwirtschaftsminister und hochrangiges Puk-Mitglied Shalau Ali Askeri stammt aus dieser Region. Auch wenn diverse Skandale inzwischen dazu geführt haben, dass er seine Äm­ter verlor, schwimmt der Mann, wie so viele seiner Parteigenossen, in Geld. In Göptepe hat er sich etwas außerhalb des Ortes ein palastartiges Anwesen als eine Art Wochenendresidenz bauen lassen. Und er ist nur einer von vielen, die ihren fragwürdig erworbenen Reichtum offen zur Schau stellen, ohne sich groß darum zu kümmern, wie sich das auf die Menschen auswirkt. Teilweise fahren die neureichen Parteifunktionäre ungeniert Wagen im Wert von 80 000 bis 100 000 US-Dollar, genügend Geld, um etwa in Göptepe einen ganzen Kindergarten zu bauen und einzurichten.
»Über sechs Jahre hatten sie nun Zeit, den Aufbau des Landes voranzubringen«, meint auch Omar Mohammad. »Und was ist geschehen, etwa in Orten wie Göptepe? Nichts! Nichts und noch mal nichts!« Neuesten Berichten zufolge soll es in Dörfern in der abgelegenen Region Germian, die an das sunnitische Dreieck grenzt, sogar wieder Fälle von Unterernährung geben. Und die gesundheitliche Lage in solchen Gebieten ist weiterhin katastrophal. In vielen Dörfern gibt es nicht einmal getrennte Brunnen für Vieh und Men­schen. Konnte man früher solche Missstände mit der prekären Lage in den Kurdengebieten erklären, so taugt heute keine Entschuldigung mehr. Die verheerende Lage auf dem Land ist nicht mehr auf Geldmangel oder politische Unsicherheit zurückzuführen, sondern einzig und allein auf das grassierende Missmanagement.
»Wir befinden uns in einer Übergangsphase«, fasst die Rechtsanwältin Amira Ali Khurmali zusammen, »das Alte funktioniert nicht mehr, das Neue hat sich noch nicht herausgebildet.« Denn dass Kritik und eine gewisse gesellschaftliche Dy­namik heute überhaupt möglich sind, hätten die Menschen gerade jenen Parteien zu verdanken, die sie nun so heftig angreifen, lautet ihre Analyse. »Schließlich war Kurdistan in den vergangenen Jahren ein Hort der Ruhe und Sicherheit im Irak, auch weil hier Sicherheitsdienste und Polizei effektiv funktionieren. Wäre es nach al-Qaida gegangen, wären auch im Norden täglich Marktplätze, Schulen und Regierungsgebäude in die Luft geflogen.« Khurmalis Einschätzung, die kurdische Gesellschaft befinde sich am Scheideweg, teilen viele Menschen. Wenn der Schritt hin zu »wirklicher Demokratie« nicht gemacht wird, so lautet eine verbreitete Meinung, drohen politische Stagnation und mit ihr bestenfalls autokratische Verhältnisse. »Die Uhr kann man aber jetzt nicht mehr zurückdrehen«, meint die Anwältin, »zu viele haben den Geschmack der Freiheit gekostet und wollen sich nicht mehr gängeln lassen.« Und einige Entwicklungen geben ihr Recht. Die im Nahen Osten traditionell verankerte Unterwürfigkeit gegenüber Autoritäten schwindet hier. Im­mer häufiger finden beispielsweise spontane Demonstrationen statt, ob gegen Polygamie oder schlechte Wasser- und Elektrizitätsversorgung.

Während die Bevölkerung in anderen Teilen des Irak mit reinem Überleben beschäftigt war, modernisierten sich die Städte im Norden in rasantem Tempo. Neue Wohnblöcke, vierspurige Beton­ungetüme von Brücken, Supermärkte und Shopping Malls schossen förmlich aus dem Boden. In Suleymaniah wird gerade das höchste Hoch­haus des Irak gebaut, in Arbil ein monströses Einkaufszentrum, das angeblich das größte in Nahen Osten werden soll.
Vergnügungslokale, wie sie früher undenkbar waren, sind in Suleymaniah mittlerweile gut besucht, seien es neue Bars, Billardspielstätten oder das inzwischen extrem beliebte Bowlingcen­ter, wo zunehmend auch junge Frauen hingehen, selbst abends. Zwar sind diese Frauen noch ein kleiner An­teil der Bevölkerung, aber ihr Auftreten macht Schule: Immer weniger Frauen tragen ein Kopftuch, die Mode wird gewagter, und gerade junge Männer rasieren sich zuhauf die Schnurr­bärte ab, früher noch obligatorisches Sta­tussymbol. Selbst eine Rap-Szene hat sich hier inzwischen entwickelt, über die in den lokalen Medien ausführlich berichtet wird.
Solche Entwicklungen strahlen selbst in die Provinz aus. Zwar ist in Göptepe ein langhaariger Saftverkäufer, der eine Baseballmütze trägt und ein T-Shirt, das eine blonde Schönheit auf einem Motorrad ziert, noch unvorstellbar, aber auch Mohammed von der Kulturgruppe in Göptepe erklärt nicht ohne Stolz, sich Anfang des Jahres von seinem Schnurrbart verabschiedet zu haben: »Das ist etwas für die Alten. Nun muss die Jugend beginnen, ein eigenes, neues und zeitgemäßes Selbst­bewusstsein zu entwickeln.«
Im Nordirak leben, wie in allen Ländern des Na­hen Ostens, überwiegend Menschen, die jünger sind als 25 Jahre und denen die bestehende Gesell­schaftsordnung kaum Perspektiven bietet. Die kurdischen Gebiete sind völlig abhängig vom Ölexport, alle anderen Wirtschaftsbereiche liegen brach. Hauptarbeitgeber sind die Regierung und die Parteien, die sich jeweils ein Heer von Angestellten halten, von denen die meisten überflüssig sind. Dass dieses System keine Zukunft hat, ist den meisten Menschen inzwischen klar. Alleine 70 Prozent des kurdischen Haushalts müssen auf­gewendet werden, um Gehälter zu zahlen. Und nun droht die Wirtschaftskrise auch den Irak und damit auch die kurdischen Gebiete mit voller Wucht zu treffen. Im vergangenen Jahr hatte niemand damit gerechnet, dass der Ölpreis auf gerade mal 40 US-Dollar fallen würde. Amerikanische Wirtschaftsexperten sagen deshalb dem Irak einen drohenden Staatsbankrott voraus, sollte das eingenommene Geld weiter so verschleudert werden. Massenentlassungen oder Gehaltskürzun­gen aber würden den allgemeinen Unmut über die kurdische Regierung weiter schüren. Und davor haben die Parteien inzwischen Angst.

Schließlich wird hier am 19. Mai ein neues Regio­nalparlament gewählt, und zumindest die Puk befindet sich in einer internen Krise bislang ungekannten Ausmaßes. Ihr Mitbegründer Narschewan Mustafa gründete im vergangenen Jahr, nachdem er heftige Kritik an der Partei geäußert hatte, eine eigene Zeitung sowie einen Think Thank und gab bekannt, sich fortan einem radikalen Reformprogramm verschreiben zu wollen. In den vergangenen Wochen traten zudem einige hochrangige Mitglieder des Zentralkomitees der Puk zurück, während Mustafa nun droht, zu den Wahlen mit einer eigenen offenen Liste anzutreten. Ein derartiger Schritt würde das im Nordirak herrschende Proporzsystem zwischen den beiden großen Parteien schwer durcheinanderbringen. Ob er seine Ankündigung wahr machen oder sich doch noch mit dem Führer der Puk und Präsidenten des Irak, Jalal Talabani, einigen wird, ist eine offene Frage. Viele Leute hoffen auf eine solche Liste, die – so wurde jedenfalls angekündigt – vor allem jungen Menschen eine Chance geben könnte und ein grundlegendes Reformprogramm vertreten würde. Die einen, wie etwa Omar Mohammad, glauben, dass dies eine tragfähige Alternative böte für alle, die an der Wahlurne ihrem Protest Ausdruck verleihen wollen, ohne dabei die Islamisten wählen zu müssen. Andere sehen das kritischer. Abdullah Sabir, Lehrer aus der Kleinstadt Kifri, kommentiert eher lakonisch: »Die einen sind so korrupt wie die anderen, alles nur alter Wein in neuen Schläuchen.« Auch er stimmt der Einschätzung der Lehrer in Göptepe zu, die altersmäßig seine Schüler sein könnten: »Wenn wir es nicht selbst in die Hand nehmen, wird sich nie etwas ändern. Warten auf Veränderungen von oben ist Zeitverschwendung, das hat die Vergangenheit gezeigt.«