Mehmet Murat Somer im Gespräch über Hassmorde an Homosexuellen in der Türkei

»Viele Hassmorde an Männern sind verdeckte Ehrenmorde«

Mehmet Murat Somer schreibt Schwulenkrimis in Istanbul und gilt als türkische Miss Marple. Seine Hop-Çiki-Yaya-Bücher spiegeln die gesellschaftlichen Konflikte in der Türkei

Sie haben ein eigenes Genre der türki­schen Literatur kreiert. Was genau ist ein Hop-Çiki-Yaya-Krimi?

Hop-­Çiki-­Yaya ist ein Begriff, der sich auf den Jargon der fünfziger und sechziger Jahre bezieht und so viel wie »tuntig« bedeutet. Damals war es an den Unis der Türkei en vogue, Cheerleader-Gruppen nach US-Vorbild zu gründen, und diese Cheerlea­der hopsten herum und jubelten rhythmisch »Hop-­Çiki-Yaya«. Wenn in jener Zeit jemand homosexuell erschien, sagten die Leute, »der ist etwas ›Hop-Çiki-Yaya‹«.

Die »Propheten-Morde«, Ihr aktuelles Buch aus der Serie, ist gerade auf Deutsch erschienen. Ihr Held tritt nachts als Transvestit auf und arbeitet als Nachtclub-Manager, tagsüber ist er ein IT-Fachmann und Aikido-Meister. Hat dieses Doppelleben etwas mit Ihrer Biogra­fie zu tun? Sie haben als Ingenieur und Un­ter­neh­mensberater gearbeitet, bevor Sie Schrift­steller wurden.

Wie viele Türken meiner Generation musste ich mich schon früh festlegen und entscheiden, wo meine Neigungen liegen. Nicht sexuell, sondern hinsichtlich meiner Interessenschwerpunkte in der Schule. Schon auf dem Gymnasium mussten wir uns für einen mathematischen oder sprachlichen Schwerpunkt entscheiden. Nach dem Abgang vom Gymnasium folgt die Auf­nahmeprüfung zur Universität. Da ich einen mathe­matischen Schwerpunkt gewählt hatte, konn­te ich gar nicht mehr frei auswählen und wurde Ingenieur. Da ich aber auch sehr viele andere Neigungen habe und Krimis mag, bin ich eben Schriftsteller geworden.

Sie haben darauf bestanden, dass wir uns um 10 Uhr morgens treffen, was für Istanbuler Verhältnisse relativ früh ist. Das passt gar nicht zu dem Milieu, das Sie beschreiben.

Ich liebe es, früh aufzustehen, weil ich meine Zeit gut einteilen muss. Außerdem gehöre ich auch dem Milieu an, über das ich schreibe. Das ist reine Fiktion. Die Themen Gender und Transgender sind in der Türkei momentan allerdings zentrale Themen.

Das scheint aber doch nur für einen intellektuellen Teil der Gesellschaft zu gelten. Die Massenmedien verschweigen die eskalierende Gewalt an Schwulen und Transsexuellen. Der Mord an dem Transvestiten und Aktivisten Ebru vor zwei Wochen trieb zwar seine Freunde auf die Straße, in der Zeitung war aber nur zu lesen, dass Ebru Opfer einer Beziehungstat geworden sei.

Das ist leider genau die Art, wie bei uns mit den wirklich brennenden Themen umgegangen wird. Niemand will sich die Finger daran verbrennen. Wenn ich mal zurückblicke: Über Frau­enemanzipation wird in der Türkei seit der Jahrhundertwende diskutiert. Aber erst Anfang dieses Jahrtausends wurde der Passus gestrichen, wonach der Mann das Oberhaupt der Fami­lie ist. Männer entschieden selbstverständlich, ob ihre Frauen arbeiten durften oder nicht. Selbst wenn die Frauen einen Universitätsabschluss hatten. Vergewaltigung und Gewalt in der Ehe wurden erst 2004 unter Strafe gestellt. Davor argumentierten alle Parteien immer, dass die traditionelle Familie zerbräche, wenn Frauen sich gegen häusliche Gewalt wehren dürften. Heu­te gilt Homosexualität immer noch als unnatürlich und als das Ende des Fortbestandes der natürlichen Fortpflanzung. Aber das ist ja auch nicht nur in der Türkei so, sondern das ist immer noch ein weltweites Phänomen.

In den »Propheten-Morden« beschreiben Sie eine schreckliche Realität, die in der Szene seit mehreren Jahren diskutiert wird, die so genannten Hassmorde.

Ja, diese Taten nehmen zu, je sichtbarer die Homosexuellenbewegung wird. Das spricht auch gegen die weit verbreitete Ansicht, dass diese Mor­de immer Beziehungsmorde sind. In den vergangenen Jahren wurden immer mehr Homosexuelle aus allen Gesellschaftsschichten Opfer mysteriöser Morde, die bei näherem Hinsehen gar nicht so geheimnisvoll sind. Manche Männer wurden tatsächlich von eifersüchtigen oder habgierigen Liebhabern getötet. Andere wurden im Nachtleben von Homophoben in die Irre geleitet und dann kaltblütig ermordet. Das sind keine spontanen Gewalttaten, die Täter treten meist im Team auf. Das Opfer wird an einen geheimen Ort gelockt und kollektiv hingerichtet.

Früher gab es in Istanbul ganze Straßenzüge, in denen nur Transvestiten lebten und meist in der Prostitution arbeiteten. Heute macht die Polizei gerade im neuen In-Viertel Beyoglu, wo traditionell viele Transvestiten lebten, Jagd auf die Szene, um die Innenstadt zu säubern.

In den neunziger Jahren war dieses Milieu ein Teil des sich entwickelnden Nachtlebens von Beyoglu. Jeder kannte die Ülker-Straße, sie liegt im Bezirk Cihangir des Stadtteils Beyoglu. Dort war der Transvestitenstrich, die Leute dort boten sich gegenseitig Schutz und eine Infrastruk­tur. Hassmorde, Prügeleien, Polizeiterror und der Strich auf den Autobahnen, der durchaus lästig und gefährlich für alle Beteiligten ist, expandierten, nachdem ein berüchtigter Polizei­chef von Beyoglu die Ülker-Straße Ende der neunziger Jahre räumen ließ. Er hatte den Spitz­namen »Süleyman mit dem Schlauch«, weil er Transvestiten nach Razzien im Keller der Polizeistation von Beyoglu mit einem harten Gummi­schlauch peitschen ließ. Dieser Terror war so extrem, dass die fortschrittlichen Intellektuellen begannen, ihn als Teil der Menschen­rechtsproblematik in der Türkei zu sehen. Es gab Solidaritätsdemos für die Transsexuellen und Transvestiten, es wurde viel zu dem Thema publiziert. Mittlerweile ist diese Szene Teil der sich emanzipierenden Homosexuellenbewegung. Das war nicht immer so. Viele Homosexuelle diskriminieren diese Szene, weil sie sie als Hort der Prostitution sehen und auf die Leute herabschauen.

In Ihrem Roman ist der Held ein gepflegter, gebildeter, athletischer, Aikido liebender Transvestit, der tagsüber Männerkleidung trägt.

Eben eine Romanfigur.

Warum hat der Ich-Erzähler und Protagonist keinen Namen?

Das ist ein Spiel. Er soll nicht zu sehr festgelegt werden. In jedem Buch entfaltet sich eine etwas andere Seite dieses Protagonisten.

Einerseit ist Homosexualität ein gesellschaftliches Tabu, andererseits wurden ja zum Beispiel die Künstler Zeki Müren und Bülent Ersoy in der Türkei Superstars und hatten mit der Inszenierung ihrer abweichenden Sexualität großen Erfolg zu einer Zeit, als die Schwulenbewegung noch gar nicht existierte.

Das ist ein Phänomen der östlichen Gesellschaf­ten. Betrachten Sie die Tradition der chinesischen Oper, Männer als weibliche Operndiven auftreten zu lassen. Sie werden geliebt und verehrt. In unserer osmanischen Vergangenheit gab es die so genannte Divan-Literatur am osmanischen Hof in Istanbul, in der hübsche Jungen besungen wurden, wie schön sie mit ihren langen Haaren, roten Lippen und der feinen Haut aussehen. Natürlich waren das Lustknaben. So wie ja auch Sokrates in der antiken griechischen Literatur zur Erziehung der Knaben Sex mit ihnen ganz normal fand. In der Türkei, wo die Geschlechtertrennung traditionell sehr ernst genommen wurde, gab es selbst in den Dörfern immer so genannte Köçek, das sind Sänger und Gaukler in Frauenkleidern.
Bülent Ersoy ist eine wirkliche Transsexuelle. Sie ist in ihrer Jugend zwar als Mann aufgetreten und hat auch Filme gedreht. Nach ihrer Geschlechtsumwandlung aber fühlt sie sich nur noch als Frau und möchte auf ihre Vergangenheit auch nicht mehr angesprochen werden. Aber sie äußert sich zur Diskriminierung der Transgender-Szene.
Zeki Müren passte dagegen eher in diese Bühnentradition, ein offensichtlich homosexueller Mann, der sich in feminine Kleidung hüllte und ein entsprechendes Make-up trug. Er wurde aber öffentlich trotzdem nie auf seine Homosexualität angesprochen. Natürlich war er auch ein Ausnahme-Künstler, seine Stimme ist den Kennern der türkischen Sanat-müzigi (klassischer türkischer Gesang; S.K.) heilig. Niemand lässt so leicht etwas auf ihn kommen.
Trotzdem sind alle diese großen Künstler im Grunde einsam, und das liegt nicht an ihrer Berühmtheit, sondern an ihrer sexuellen Identität. Bülent Ersoy hat viele Skandale entfesselt, aber Zeki Müren lebte sehr zurückgezogen und einsam. Er starb auf der Bühne, weil er wohl absichtlich zwei Tage seine Medikamente nicht genommen hatte: der glamouröse Abgang eines einsamen Stars. Auch Huysuz Virjin, ein berühmter Kabarett-Künstler in der Türkei, lebt komplett inkognito, obwohl seine Trans­vestiten-Show von einem Massenpublikum gesehen wird. Das hat Tradition.

Wie wird sich die Szene in Beyoglu entwickeln? Es gibt unzählige Bars und Clubs, die sich nicht die Mühe machen, ihre Publikums­aus­richtung zu verschleiern.

Ja und nein. Die Kneipenszene von Beyoglu ist insgesamt Ende der Neunziger wiederauf­er­standen. Es gab eine Tradition in den zwanziger, dreißiger Jahren, die aber durch den Zweiten Weltkrieg, die Vertreibung der Minderheiten und die Migration der Anatolier nach Istanbul verschwunden war. Von den siebziger bis in die neunziger Jahre gab es eine von Männern dominierte Kneipenkultur. Und diese Männerkultur war homophob geprägt. Natürlich gab es Schwulentreffs, aber versteckt, nicht so wie heute. Es gab neben den Restaurants auch für Frauen viel weniger Ausgehmöglichkeiten als heute. In den achtziger Jahren erstarkte die feministische Frauenbewegung und hat vieles verändert. Vor allem auch deshalb, weil sie anders als in Europa eine große Akzeptanz unter den intellektuellen Männern fand. Im Laufe der Neunziger wagten die Homosexuellen ein vorsichtiges Coming-out, zumindest als politische Bewegung. In der Privatsphäre ist das Thema immer noch ein großes Tabu. Auch dieser Widerspruch schürt ein Milieu der Gewalt. Homosexuelle treten mehr in Erscheinung, es exis­tiert eine Infrastruktur, die meisten Homosexuellen ziehen es aber vor, inkognito zu bleiben. Und sie fürchten sich vor der Reaktion der Familien und des Umfeldes. Viele Hassmorde an Männern sind verdeckte Ehrenmorde. Oft weiß selbst die Polizei davon, schlampt aber in den Ermittlungen. Aktenkundig ist noch kein Ehrenmord an einem Homosexuellen. Fragen Sie aber mal beim Homosexuellenverband Lambda nach, die wissen viele Hintergründe und Beispiele solcher Fälle.

In den »Propheten-Morden« taucht am Rande auch die islamistische Szene auf und kommt nicht besonders gut weg. Gab es bei der Erstveröffentlichung Probleme?

Mein Verlag hatte erst Bedenken, das Buch zu veröffentlichen. Aber diese Szene liest meine Bücher zum Glück nicht.

In Ihren Büchern gibt es viele witzige Sexszenen, teilweise aber auch krasse Schilderungen von Sexualität. Hat das in der Türkei Reaktionen hervorgerufen?

Mir wurde eher vorgeworfen, dass meine Sex­szenen zu sauber, städtisch und mittelschichtsorientiert sind. Es ist ein weit verbreitetes Vorurteil, dass Sex in muslimisch geprägten Gesell­schaften verpönt sei. Das ist Unsinn. In der Türkei gab es in den siebziger Jahren eine blühende Pornoindustrie mit türkischen Darstellern und Darstellerinnen. Auch wenn ich nicht vorhabe, dem nachzueifern: Auf die Weiterentwicklung dieses Feldes in den nächsten Krimis dürfen Sie gespannt sein.