Hava Nagila und Heidi Klum

Die Pioniertage des israelischen Comics sind vorüber. Heute hat sich die Szene etabliert und internationalisiert. Jonas Engelmann traf die Gründer des einflussreichen Kollektivs Actus Tragicus aus Tel Aviv.

In »How to love«, der aktuellsten Publikation des Actus-Tragicus-Comic-Kollektivs aus Tel Aviv, ist ein Beitrag von Rutu Modan mit dem Titel »Your Number One Fan« enthalten. Darin wird der israelische Musiker Shabtai zu einem Gig nach Sheffield eingeladen, von dem er sich den großen Durchbruch erhofft. Doch dann steht er verloren auf der Bühne des Gemeindehauses der Sheffielder Jüdischen Gemeinde, und während er einen Song ankündigt, den er im Libanon geschrieben hat, fragt ein alter Mann im Publikum: »Und wann spielt er Hava Nagila?«
Unerfüllte Erwartungen in alle Richtungen prägen auch die Geschichte und die Rezeption der israelischen Comic-Szene. Yirmi Pinkus ist einer der Gründer des Comic-Kolletivs. Bis zu Beginn der neunziger Jahre, erzählt er, existierte in Israel keine Comic-Szene, auch Übersetzungen europäischer und amerikanischer Comics konnten sich nicht durchsetzen. Sowohl Superman als auch Asterix auf Hebräisch wurden nach wenigen Ausgaben wieder eingestellt. Einzig an einen hebräischen Popeye will sich Yirmi Pinkus dunkel erinnern können.
Anfang der Neunziger studierte Pinkus, ebenso wie Rutu Modan, die Mitgründerin des nach einer Bach-Kantate benannten Verlagskollektivs, an der Bezalel Academy of Art and Design in Jerusalem. Ein belgischer Gastdozent brachte sie dort mit europäischen und amerikanischen Underground- und Avantgarde-Comics in Kontakt, die ihnen die Möglichkeiten dieses bislang in Israel weitgehend unbekannten Mediums offenbarten.
Nach dem Studium gaben Modan und Pinkus die israelische Ausgabe des Mad-Magazins heraus; ein Projekt, das in einem finanziellen Desaster endete. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelten die Zeichner gemeinsam mit Batia Kolton, Mira Friedmann und Itzik Rennert das Konzept ihres eigenen Verlages Actus Tragicus, der 1995 offiziell gegründet wurde. Zunächst publizierten sie ihre Bücher auf Englisch und präsentierten israelische Themen für ein außer­israelisches Publikum. Modan und Pinkus betonen, dass die Verlagsgründung weder eine idealistische Idee noch eine politische Entscheidung gewesen sei, vielmehr war es eine Notlösung, um Strukturen zu schaffen, die eine minimale Aufmerksamkeit möglich machten.
Mit Erfolg: Bereits 1998 wurde Actus auf das »Fumetto«-Comicfestival nach Luzern eingeladen und zeigte im gleichen Jahr beim Comic-Salon in Erlangen eine Ausstellung. Dort erregte die Gruppe ein wenig Aufmerksamkeit, weil ihr Material anders war, als man es in Westeuropa kannte; die Einflüsse waren eklektischer, Vorbilder nur schwer auszumachen. Durch das Inter­esse, das ihre Arbeit in Europa erfuhr, gelang es ihnen, auch in Israel wahrgenommen zu werden. Damit wurden die Gründungsmitglieder von Actus zu den Initiatoren der israelischen Comic-Szene, sie etablierten sich als Lehrer an Hochschulen, wo sie die nachfolgenden Generationen israelischer Comic-Zeichner, wie die mittlerweile aufgelöste Dimona-Gruppe, beeinflussten. Sie initiierten mit großem Erfolg ein bis zwei Mal pro Jahr Comic-Tage in Tel Avis, die »Actus Hosts«, die der Netzwerkbildung ebenso wie dem Verkauf ihrer Comics dienten. Meist entstand pro Jahr ein Sammelband, der neben den Comics der Gründungsmitglieder Gastbeiträge u.a. von Art Spiegelman, Anke Feuchtenberger oder David Polonsky enthielt. Heute haben viele große Verlage in Israel Comics in ihrem Programm, wenn auch nicht immer mit großem Erfolg, wie Rutu Modan anmerkt.
Ihr wachsender Bekanntheitsgrad hatte noch einen weiteren Effekt: Rutu Modan, Yirmi Pinkus und die anderen Mitglieder von Actus wurden zu Repräsentanten der israelischen Kulturlandschaft, mit allen Privilegien wie auch Problemen. Die Schwierigkeit, als Repräsentant Israels verstanden zu werden, zeigte sich auch während des deutsch-israelischen Austauschprojekts »Cargo«. Drei deutsche Comic-Zeichner reisten nach Israel, drei israelische Zeichner kamen nach Deutschland. Yirmi Pinkus erzählt im Interview, dass er für seinen Beitrag zum 2005 erschienenen Band »Cargo« einige Kritik einstecken musste. Sein Comic »Schwarze Milch« zeigt die Eindrücke seines Aufenthalts im Schwarzwald und in Berlin, begleitet und kommentiert werden die Bilder von Paul Celans Gedicht »Todesfuge«, das er während seiner Deutschland-Reise immer in auf einem Zettel in der Hosentasche mit sich führte. Es diente ihm als Folie, vor der er Deutschland wahrnahm. So sieht man ein Bild von Heidi Klum, über dem die Gedichtzeile »dein goldenes Haar Margarethe« steht und darunter: »Am 29sten April druckte die Bild-Zeitung eine Liste der 50 schönsten Deutschen. Heidi Klum kam nur auf Platz 5.« Mit dem Unbehagen an Deutschland, das aus diesen Zeichnungen sprach, konnten nicht alle Rezensenten umgehen. Pinkus nennt die ablehnenden Kritiken »Genug damit«-Rezensionen, was die Vorbehalte deutscher Rezensenten auf den Punkt bringt.
Andere Vorbehalte der Deutschen gegenüber den israelischen Zeichnern betrafen die Politik Israels. So erzählt Rutu Modan, dass das westliche Publikum von israelischen Comics stets erwarte, dass diese die Situation im Nahen Osten verstehbar machen und einfache Lösungen präsentieren, wie es beispielsweise Joe Saccos mit »Palestine« vormacht. Dass sie es dem westlichen Publikum nicht so einfach machen wollen, wird den Mitgliedern von Actus oftmals zum Vorwurf gemacht. Modan beschreibt ihr eigenes Verständnis als Künstlerin als eines, das eindeuti­ge Aussagen vermeidet; den westlichen Rezipienten hält sie vor, den Unterschied zwischen Meinung und Sichtweise nicht mehr zu sehen. Natürlich hat sie eine Meinung, die aber nicht direkt Teil ihrer Kunst werden muss, da Kunst eher die Komplexität darzustellen versuchen muss.
Die Pionierzeiten jedoch sind vorbei. Zwar sind die Mitglieder von Actus noch immer aktiv, wie ihre jüngste gemeinsame Publikation zeigt, doch haben sich ihre Schwerpunkte etwas verschoben. Während Rutu Modan, die inzwischen in England lebt, sich als eine der international erfolgreichsten Zeichnerinnen etabliert hat, ist Yirmi Pinkus mittlerweile erfolgreicher Roman­autor. Sein Buch »Professor Fabrikant’s Historical Cabaret« über ein Kabarett im Rumänien der dreißiger Jahre war in Israel sehr erfolgreich. Der Comic-Band »How to love« zeigt die neuen künstlerischen Schwerpunkte auch der anderen Actus-Mitglieder auf beeindruckende Weise.
Bemerkenswert an der israelischen Comic-Szene, meint Modan, ist der Umstand, dass sie Frauen einen großen Raum lässt. Bei Actus sind die Zeichnerinnen in der Mehrheit. Während in der westlichen Welt Comics in erster Linie für ein männliches Publikum produziert wurden, fehlte dieser Nerd-Faktor in Israel, wenn auch, wie sie anmerkt, Comics sich derzeit in Israel mehr und mehr als Medium für männliche Teenager etablieren.