60 Jahre BRD – Bürgerfest am Brandenburger Tor

»Glückwunsch, Deutschland!«

Beelitzer Spargel, Grundgesetz im Liliput-Format, jede Menge deutsche Opfer und vieles mehr. Alles zum Mitnehmen. Ein Besuch bei der Geburtstagsparty der BRD.

»Rosamunde, schenk mir dein Herz und dein Ja, Rosamunde, frag doch nicht erst die Mama, Rosamunde, glaub mir, auch ich bin dir treu, denn zur Stunde, Rosamunde, ist mein Herz grade noch frei«, kommt es aus Lautsprechern in den Minister­gärten. Das ist zwar kein so richtig deutsches Lied, aber seit mehr als 60 Jahren ein Garant für die Gemütlichkeit, die Uwe Seeler an Deutschland so schätzt. Und allemal populärer als die dritte Strophe von Hoffmanns Hymne.
»Die Bundesrepublik Deutschland wird 60« und feiert auf der Straße des 17. Juni das Grundgesetz. »Das Bürgerfest war ein großer Erfolg«, wird Regierungssprecher Ulrich Wilhelm sich am Abend des 23. Mai freuen. Und die Vierte Gewalt zum Stehsatz des Bundespresseamtes greifen und texten: »Deutschland feiert große Geburtstagsparty in Berlin« (Berliner Morgenpost), »Fanmeile für die Demokratie« (Tagesspiegel), »Mehr als 600 000 Menschen feiern in Berlin die Geburtsstunde des Grundgesetzes« (Spiegel Online).
Der Zoo Rostock ist dabei, aber auch die Freiwillige Feuerwehr Berlin-Zehlendorf, eben alles, was zu 60 Jahren Grundgesetz gehört, Beelitzer Spargel, die Big Band der Bundeswehr, Deutsche Rentenversicherung, Freiberger Bier, Sorben und Südschleswiger Dänen, Riesenbuletten, Beethovens Neunte, Rostocker Rauchwurst, EKD und Deutsche Bischofskonferenz, Ebert-, Naumann-, Seidel-, Böll-, Adenauer- und Luxemburg-Stiftung, Kräuterquark und Gummibärchen, bayerische Trachtler mit Alphörnern, die Aktion »Gegen Kinderarmut e.V.« und das Ministerium für Arbeit und Soziales mit dem Lob »Die soziale Republik wird 60«. Auch der Großbäcker Kamps gratuliert, »Glückwunsch, Deutschland! Die Bundesrepublik Deutschland wird 60. Feiern Sie mit: Bürgerfestkuchen XXL Stück 1.00 Euro« und wirbt für Franchise-Partner, »Werden Sie Ihr eigener Brötchengeber!«
Wo aber findet sich das Grundgesetz, dessen Jubiläum an diesem Tag gefeiert wird? Beim Freistaat Sachsen jedenfalls nicht. Im Museumsbus »20 Jahre – Unser Aufbruch 1989–2009« ist man ratlos: »Ein Grundgesetz? Nein, damit haben wir nichts zu tun.« Auch die Bundeswehr muss passen. Das Bundesinnenministerium sowieso. »Fragen Sie mal bei der Bundeszentrale für politische Bildung.« Hier hat der Bittsteller Glück. Das Grundgesetz liegt dort in Stapeln. »Aber von 2006, ist das denn gültig?« Der Einwand wird unwirsch abgebügelt: »Das ist die letzte Fassung. Ein anderes haben wir nicht!« Der Bundestag dagegen ist auf dem neuesten Stand. Sein Exemplar verzeichnet schon die 54. Änderung vom 19. März 2009. Fast jedes Jahr eine Ergänzung, Streichung, Neufassung. Kein schlechter Schnitt. Manche nur auf dem Niveau einer Verordnung, andere, wie der Eingriff in den Artikel 16, beseitigen Grundrechte.
Auch im Zelt des Bundesverfassungsgerichts gibt es eine aktuelle Ausgabe. Im Liliput-Format, ohne die Liste der Änderungen. Dafür kann jeder vor dem Stand auf Whiteboards vom Artikel 5 Absatz 1 Gebrauch und seine eigenen Änderungsvorschläge machen. Den Souverän interessieren Grundrechte und Ewigkeitsklausel nicht, schließlich ist er hier zu Hause: »Es darf aber nicht sein, dass gewisse Ausländer die Deutschen als Rassenhasser bezeichnen, schließlich nutzen sie hier die sozialen Einrichtungen.« Da bleibt selbst der Zusatz von anderer Hand, »Kein Mensch ist illegal!«, peinlich.
Um halb drei übernimmt Thomas Gottschalk das Programm auf der Doppelbühne am Brandenburger Tor und führt, »Hallo Deutschland« oder »Hey Deutschland«, so genau ist das nicht zu verstehen, der Ton ist derselbe, durch die sechzigjährige Musikgeschichte der Bundesrepublik. Die andere, die, die zum Grundgesetz geführt hat, bleibt im Ungefähren. Schließlich ist das eine Party. Immerhin, im Zelt des Außenministeriums erfährt man, dass das »Naziregime eine Katastrophe für Deutschland und Europa« war, und staunt dann doch. Sechs Millionen ermordete Deutsche. Für das, was da noch war, ist Erika Steinbach vom Zentrum gegen Vertreibungen zuständig, und nur sie allein: »Mehr als 15 Millionen Deutsche und viele andere Völker waren im 20. Jahrhundert Opfer ethnisch begründeter Austreibungen.« Noch mehr deutsche Opfer also.
Die Bundeswehr, neben dem Bundestag größter Aussteller, wirbt mit einer »Karriere mit Zukunft« und einer Karte der globalen Krisenherde, Sri Lanka, Nepal, VR Korea, Georgien, Saudi-Arabien, Kolumbien, Spanien und so weiter. Wenn wir könnten, was wir könnten. Auch der Panzerspähwagen »Fennek« ist dabei, auf Deutsch »Wüstenfuchs«, Ähnlichkeiten sind zufällig. Der Wüstenfuchs wird hin und wieder, die Unschärfe des Artikels 35 Absatz 2 ist da hilfreich, an die Polizei ausgeliehen. Die G 8-Krawallmacher von 2007 werden sich erinnern und wir alle uns daran gewöhnen.
Die Verfassung feiern? Die Besucher denken gar nicht daran. Auf der »Grundgesetz-Fan-Meile« (Süd­deutsche Zeitung) sind sie mit anderem beschäftigt. Wo gibt es was? Und wo gibt es was umsonst? Und wenn es wo was umsonst gibt, wie schleppe ich es nach Hause?
Papiertragetaschen, Plastiktragetaschen, Tragetaschen aus Jute, Tragetaschen aus Baumwolle, mit Kordel, mit gedrehten Papiergriffen, mit flachen Papierhenkeln, mit Boden, ohne Boden, Taschen des Bundesministeriums für Verteidigung, Taschen des Deutschen Bundestages, Taschen des Bundesinnenministeriums, mit Tarnfleck-Dekor, in Schwarz-Rot-Gold, blaue Taschen, weiße Taschen, rote Taschen, zweifarbige Taschen, dreifarbige Taschen. Hier ist Deutschsein nicht mehr Folklore, hier heißt Deutschsein Bei-sich-selbst-Sein, Jäger und Sammler, immer auf der Suche nach Beute. Immer auch bereit, sie einem anderen abzujagen oder doch so viel wie dieser davon­zuschleppen. Es wird gedrängelt und geschubst, wenn es um das Ganze geht, werden keine halben Sachen gemacht. Das war schon immer so. »Ich möchte das Gleiche wie der Herr vor mir«, fordert ein älterer Mann am Counter des Bundestages: Kugelschreiber, blaues Schlüsselband, das Grundgesetz, ein Verzeichnis der Abgeordneten des Parlaments und noch mehr Papier. Draußen wirft er das Bedruckte in einen Abfallcontainer. Er wird nicht der Einzige sein beim Bürgerfest am Brandenburger Tor.
Gegen drei steht fest, der VfL Wolfsburg wird zum ersten Mal Deutscher Meister, Horst Köhler zum zweiten Male deutscher Bundespräsident. Beifall.
Und das Grundgesetz? » … jeder sollte sich mal ein paar Stunden damit beschäftigen, das ist ein gutes Programm für einen verregneten Sonntagnachmittag« (Ulrich Matthes, Darsteller beim Bürgerfest). Was sonst?