Der Bildungsstreik im europäischen Kontext

Lernen lohnt nicht

Der Bildungsstreik ist im europäischen Zusammenhang zu betrachten. Eine Auswertung.

In der Woche vom 15. bis zum 19. Juni fand in Deutschland ein Bildungsstreik von Schülerinnen, Schülern und Studierenden statt. Die Beteiligung war überraschend groß. Allerdings war sie an den Schulen wohl höher als an den Hochschulen, die meisten Studierenden verhielten sich distanziert, lau desinteressiert. Höhepunkt der Woche waren die Demonstrationen am 17. Juni in vielen größeren und kleineren Städten der Bundesrepublik, an denen insgesamt rund 265 000 Personen teilnahmen.
Den Protesten gingen viele Aktivitäten voraus. Im vergangenen November hatte es bereits Demonstrationen und Aktionen von etwa 100 000 Schülerinnen und Schülern gegeben.

Der Bildungsstreik ist kein auf Deutschland begrenztes Phänomen. Gegen die neoliberale Reorganisation der institutionellen Bildungsprozesse, vom Kindergarten über die Schulen bis zu den Hochschulen, gibt es in einer Reihe von europäischen Gesellschaften Proteste, etwa in Griechenland, Italien, Kroatien und Frankreich. Universitäten oder einzelne Institute werden besetzt, die Lehre wird über Wochen und Monate ausgesetzt, große Demonstrationen finden statt, an denen – wie in Frankreich – auch die Lehrkräfte teilnehmen. In Italien und Frankreich wurden bereits einzelne Regelungen aus den neuen, so ge­nannten Reformgesetzen herausgenommen – dennoch kommt es zu keiner Beruhigung. In Deutsch­land erscheinen die Wissenschafts- und Bildungsbehörden besonders hartleibig. Trotzdem lassen sich Risse und Widersprüche feststellen.
Hochschullehrerinnen und -lehrer, von denen viele seit langem jeden Unsinn der unternehmerischen Universität mitgetragen haben – Drittmitteleinwerbung, Ranking, Exzellenz, Studiengebühren, Bachelor und Master, externe Evaluation etc. –, stellen fest, dass ihre Möglichkeiten, überhaupt noch wissenschaftlich zu arbeiten, weiter eingeschränkt werden. Ein Ende der Leistungsverdichtung durch immer neue Benchmarks ist nicht abzusehen. Nach den Studierenden leiden nun auch die Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen unter den Entscheidungen und den neuen Steuerungsinstrumenten der Präsidien. Niedrige Gehälter, Zielvereinbarungen und die Herausbildung von Hierarchien zwischen den Studiengängen – wer in einem Exzellenzcluster arbeitet, muss weniger lehren, erhält mehr Mitarbeiter und eine höhere Bezahlung – machen ihnen zu schaffen. Sogar der konservative Hochschullehrerverband hat beschlossen, die zweite Phase des Bologna-Prozesses nicht wie die erste passiv oder sogar zustimmend hinzunehmen.
Auch Politiker sind sich uneinig. Landespolitiker wie Jürgen Rüttgers warnen verständnisvoll-konservativ vor der Gefahr der »Halbbildung«. Hin­gegen hält die Kultusministerkonferenz, die der Diskussion mit Eltern, Lehrern, Schülerinnen, Schü­lern und Studierenden eher aus dem Weg geht, »Bologna« keineswegs für gescheitert, allen­falls hier und da, Zeichen erster Schwäche, seien nachträgliche Änderungen notwendig.
Dieter Lenzen, Präsident der FU Berlin und wich­tigster Repräsentant der Strategie, unternehmerische und »eliteorientierte« Universitäten zu schaf­fen, verkündete, sich an den Protesten beteiligen zu wollen, und bat seine Lehrkräfte um Verständnis für die fehlenden Studierenden. Offensichtlich sah er eine Möglichkeit, die Proteste für seine Ziele, mehr Geld für die »Exzellenz« herauszuholen, instrumentalisieren zu können. Andere hingegen, wie der Heidelberger Rektor, ver­anlassten die Polizei, auf dem Campus gegen die Studierenden vorzugehen, Schülerinnen und Schüler wurden wegen ihrer Abwesenheit sanktioniert.

Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) bezeichnete die Protestierenden als »Gestrige«. Die Entscheidungen für einen »europäischen Bildungsraum« seien irreversibel, behauptet sie. Doch der Protest ist europäisch. Bei den Protestie­renden handelt es sich um diejenigen, die in den nächsten 40 Jahren an den Universitäten for­schen und lehren, die in den Schulen unterrichten, die an vielen Stellen der Gesellschaft mit ihrem Wissen die Zukunft bestimmen werden. Sie sind im positiven Sinn »gestrig«, weil sie sich nicht alert an die Dynamik der Kapitalverwertungs­prozesse anpassen und sich nicht mit einem billigen und inhaltlich wertlosen Studium abspei­sen lassen.
Anders als in den vergangenen Jahren, als oftmals der Akzent auf der Verhinderung der Einführung von Studiengebühren und der Kritik an der sozialen Auslese an den Hochschulen lag, fordern die Protestierenden nun bessere Bedingungen für Wissen und Bildung. Sie wenden sich gegen Verschulung und Dauerüberprüfung, wollen die Abschaffung von Bachelor und Master, richten sich gegen die Eliteuniversität, fordern die Möglichkeit des Studiums für alle, die Demokratisierung des gesamten Bildungssystems und die Einführung freier alternativer Bildungskonzepte. Damit wenden sie sich gegen die Ewiggestrigen, diejenigen, die an ihrer Macht und ihren Gewinnen festhalten wollen und denen Bildung für alle und kritisches Wissen immer schon zuwider war. Die Forderungen der Studierenden sind historisch und sachlich rational: Sie treten für Unabgegoltenes ein, für gute Bildung jenseits der Verwertungsimperative, für all das, was seit Jahrzehnten immer wieder gefordert wird, um die Hochschulen endlich einmal zu Orten der wissenschaftlichen Forschung und Lehre und der lebendigen Erfahrung der Erkenntnis zu machen, an der wirklich alle Forschenden, Lehrenden und Lernenden sich gleichermaßen beteiligen können.

Die Proteste und Streiks markieren wahrscheinlich eine Wende in der bildungspolitischen Konstellation. Lange wurde versprochen, dass sich je­der »hocharbeiten«, dass soziale Ungleichheit durch Bildungsanstrengungen ausgeglichen werden könne. Die Mittelschichten reproduzieren ihre gesellschaftliche Stellung über den schulischen Apparat und den Erwerb von Bildungstiteln. Sie konnten aufgrund der Bildungsversprechen der vergangenen Jahrzehnte erwarten, dass ihre Kinder durch Schul- und Hochschulabschlüsse berufliche Perspektiven und die Chance zum Aufstieg erwerben würden. Der »Umbau« des Bildungsapparats konnte als Versuch gedeutet werden, ihre Chancen zu verbessern; weiter vorhandene Bildungsungleichheit ließ sich hinnehmen, sie betraf vor allem Jugendliche aus migran­tischen Milieus und der Arbeiterklasse.
Inzwischen müssen die Mittelschichten feststel­len, dass immer höhere Investitionen in die Bildung zu erbringen sind, diese sich aber gleichzeitig immer weniger lohnen. Leistungsverdichtung durch G8 und Zentralabitur, Entwertung des Abiturs, Studiengebühren, Kurzzeitstudiengänge, Bildungsabschlüsse, deren Marktwert undurch­sichtig ist oder die die Berufs- und Einkommens­chancen mindern, weil die Schule oder Hochschule in den einschlägigen Rankings nicht so gut abgeschnitten hat – dies alles beweist den Mittelschichten, dass das deutsche Bürgertum auf ein Bündnis mit ihnen nicht mehr viel Wert legt. Soweit es selbst überhaupt auf Wissen angewiesen ist, verfügt es über die finanziellen Mittel, die eigenen Kinder an internationalen Schulen und Hochschulen unterrichten zu lassen oder es sich auf dem Weltmarkt billig zu kaufen.
Wissen wird zur Ware, die auf dem globalen Markt verwertet werden soll. Damit wird Bildung und Wissen von den Trägern kapitalistischer Herrschaft aber auch freigesetzt. Für die Linke, die sozialen Bewegungen ist das eine gute Gelegenheit, sich die Bildung wieder anzueignen.