Wahlen im kurdischen Nordirak

Ein Haftbefehl für den Minister

In der nordirakischen Autonomieregion wird am 25. Juli gewählt. Die beiden großen kurdischen Parteien müssen damit rechnen, ihr Machtmonopol zu verlieren.

Die Szene, die sich vorige Woche auf den Straßen Suleymaniahs im kurdischen Nordirak abspielte, hätte nicht einer gewissen Komik entbehrt, wären nicht Menschen dabei zu Schaden gekommen. Denn es geschieht nicht alle Tage, dass im Nahen Osten vor laufender Kamera Leibwächter eines amtierenden Ministers gegen Polizisten handgreiflich werden.
Am 25. Juli werden in dem Autonomiegebiet ein neues Parlament und der Präsident gewählt. Anhänger einer neu gegründeten Reformliste namens Change feierten am 12. Juli, wie jede Nacht seit Beginn des offiziellen Wahlkampfs, eine Party auf der Straße. Bis Verteidigungsminister Sheikh Jaffar Mustafa anrückte und seine Leibwächter, wie kurdische Zeitungen berichten, ziemlich wahllos auf die Menge einprügeln ließ. Dabei kam es sogar zu Handgreiflichkeiten zwischen den Männern des Ministers und der Polizei. Auch ein Fernsehteam, das die Ereignisse filmte, soll angegriffen worden sein.
Change ist eine Abspaltung von der Patriotischen Union Kurdistans (Puk), die von Jalal Talabani geleitet wird. Mustafa Narchiwan, ein Mitbegründer der Puk, tritt nun für Change mit dem Versprechen an, das korrupte politische System im Nordirak zu reformieren. Insbesondere unter jungen Leuten findet die neue politische Gruppierung großen Anklang. Wahlumfragen zufolge kann sie sogar in Suleymaniah, einer Hochburg der Puk, am 25. Juli mehr als die Hälfte aller Stimmen erwarten.
Die beiden großen Parteien Puk und KDP (Kurdische Demokratische Partei) herrschten seit der Existenz eines autonomen Kurdistans im Norden des Irak fast unangefochten. Nun gibt es erstmals eine politische Herausforderung. Denn neben Change treten noch vier weitere Listen gegen die etablierten Parteien an, eine Abspaltung von der KDP, eine Liste der vereinigten Linken, eine Reformliste, die aus Sozialisten und islamischen Parteien besteht, sowie eine konservative Gruppierung.

Insbesondere die Puk bangt um ihren künftigen Einfluss. So kam es in den vergangenen Wochen auch immer wieder zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Anhängern der Puk und Wahlkämpfern von Change. Seinen Einfluss mit allen Mitteln erhalten wollte wohl auch Verteidigungsminister Sheikh Jaffar Mustafa. Da es im Autonomiegebiet nun aber zumindest rudimentär eine gewisse Rechtsstaatlichkeit und freie Medien gibt, berichteten diverse Fernsehstationen am nächsten Tag ausgiebig über die Eskapaden des Ministers, und einer der involvierten Polizisten erstattete Strafanzeige. Seit dem 13. Juli wird Jaffar Mustafa per Haftbefehl gesucht. Die Zeit, in der man seine Macht mit solch brachialen Mitteln sichern kann, ist offenbar vorbei.
Der Vorfall ist auch symptomatisch für einen tief greifenden Wandel, der sich, von westlichen Medien weitgehend unbemerkt, im kurdischen Nordirak vollzieht. »Dieses Jahr haben wir einen echten Wahlkampf«, meint etwa Aram Jamal vom Kurdish Institute for Elections (KIE). »Es geht um Alternativen zu den herrschenden Parteien und vor allem auch um einen Wandel des ganzen Systems. Zum ersten Mal haben die Menschen den Eindruck, die Politik mitbestimmen zu können.« Und »sie lassen sich nicht mehr alles gefallen«.
Bislang war es der KDP und der Puk gelungen, ihr Machtmonopol zu wahren. Polizei, Militär, Ökonomie und fast alle gesellschaftlich relevanten Bereiche unterstanden ihrer direkten oder indirekten Kontrolle. Vor allem verfügten sie über die Ölrente, die über 90 Prozent des kurdischen Haushaltes ausmacht. Obgleich beide Parteien seit Jahrzehnten in offener Konkurrenz zueinander stehen, die sich nicht selten in bewaffneten Auseinandersetzungen entlud, kandidieren beide nun auf einer Liste. Posten und Ämter sollen paritätisch verteilt werden. Solange die kurdischen Gebiete sich in einer Art Ausnahmezustand befanden und die beiden Parteien zumindest Sicherheit und Auskommen für große Teile der Bevölkerung garantierten, äußerte der wachsende Unmut mit ihrer Politik sich vornehmlich hinter verschlossenen Türen.

Der Protest der neuen Parteien und Listen richtet sich weniger gegen die programmatische Ausrichtung von KDP und Puk als gegen deren Führungsstil. Themen wie Nepotismus, Korruption und selbstherrliches Missmanagement dominieren deshalb die Kampagnen. So fordert Change vor allem eine klare Trennung von Staat und Parteien, Transparenz bei der Geldvergabe und die Stärkung des Parlaments.
Change besteht fast ausschließlich aus ehemaligen Kadern der Puk, sie kommen vor allem aus jenem Teil der Partei, der früher als Komala organisiert war und sich erst in den achtziger Jahren mit der Fraktion um Jalal Talabani zusammenschloss. Ihr gehören Politiker wie der ehemalige Minister Mohammad Tauwik an, die dem inneren Kreis des kurdischen Establishments entstammen. Sie stützten sich, seit sie in den Wahlkampf eingetreten sind, auf die Zustimmung von Studenten, technischer Intelligenz und städtischer Mittelschicht, deren Unzufriedenheit mit den Zuständen am deutlichsten artikuliert wird. Reihenweise seien, melden kurdische Zeitungen, in den vergangenen Monaten Anhänger der Puk zu Change übergelaufen. Aber auch unabhängige Organisationen, die bislang Distanz zur Parteipolitik gehalten haben, unterstützen nun diese Liste. Diese Menschen erwarten, dass Change nicht zu einer neuen Puk wird. »Sonst werden die ganz schnell wieder abgewählt«, erklärt eine Mitarbeiterin des KIE.

Derzeit häufen sich bei der unabhängigen irakischen Wahlkommission Beschwerden darüber, dass die Puk und die KDP ihre Machtposition im Wahlkampf missbrauchen. Diese Beschwerden werden regelmäßig von unabhängigen Zeitungen wie Hawalti und Awene publiziert. Dass es, anders als in der Vergangenheit, nun solche Institutionen und Medien gibt, ändert auch die Spielregeln. Jahrelang etwa wurde über eine neue Verfassung für die Region diskutiert, nun sollte sie im Schnellverfahren vom Parlament abgesegnet und dann am Wahltag per Referendum bestätigt werden. Diese Verfassung gesteht dem Präsidenten des Autonomiegebiets weitgehende Entscheidungsbefugnis zu. Damit steht sie im Gegensatz zur irakischen Verfassung, die dem Präsidenten nur repräsentative Funktionen zuerkennt.
Verschiedene Gruppierungen kritisieren den neuen Verfassungsentwurf als Versuch der beiden großen Parteien, sich in letzter Minute mit der Stärkung des Präsidialamtes indirekt die Macht zu sichern. Sie legten Beschwerde bei der Wahlkommission ein. »Die Legislaturperiode des Parlaments endete im Mai, danach hat es keine Entscheidungsbefugnis mehr«, erklärt Aram Jamal. Deshalb sei die Verabschiedung der Verfassung nicht legal gewesen. Auch sei die vorgeschriebene Frist für die Abhaltung eines Referendums missachtet worden. Die Wahlkommission gab den Klagenden recht, am 25. Juli wird es kein Referendum geben.
Wie auch immer die Wahlen ausgehen, im neuen Parlament werden auch Oppositionelle sitzen. Bereits jetzt erklären Repräsentanten der Regierung, sie wollten umfassende Reformen einleiten. Die alte Partei- und Machtstruktur werden sie nicht erhalten können. Mit den größten Verlusten muss die Puk rechnen, davon wird die KDP jedoch nicht profitieren, denn beide Parteien werden gemeinsam mit dem von ihnen geschaffenen Herrschaftssystem identifiziert.
Die Menschen im Nordirak bereiten sich auf eine wohl grundlegende strukturelle Wandlung in den Autononomiegebieten seit dem Sturz Saddam Husseins vor. »Was wir hier sehen, ist eine demokratische Revolution«, meint deshalb ein junger Aktivist von Change euphorisch. Noch allerdings fürchten viele, dass die KDP und die Puk, wenn ihre »Kurdistan-Liste« herbe Verluste einstecken muss, nicht ohne Weiteres bereit sein werden, die Macht zu teilen.