Thomas Lenz im Gespräch über Sanktionen, Disziplinierung und Arbeitszwang

»Es gibt nicht mehr Arbeit für alle«

Thomas Lenz ist Geschäftsführer der Wuppertaler »Arge« und Mitglied der Grünen. Anfang der achtziger Jahre war er Mitglied des Wuppertaler Stadtrates, Fraktionsgeschäftsführer der Grünen im Stadtrat und Leiter des Sozial- und Jugendamtes.

Wir sind erfreut, dass Sie mit uns sprechen. Von den Leitern der Berliner Arbeitsagenturen haben wir auf unsere Interviewanfragen nur Absagen bekommen. Oft hieß es, man rede lieber nicht mit der Presse, denn die stelle die Dinge immer zu Ungunsten der Arbeitsagenturen dar. Können Sie das nachvollziehen?

Ja, das kann ich teilweise nachvollziehen. Bei allen Mängeln, die das jetzige System hat, wird es oft zu Unrecht sehr negativ dargestellt. Dazu ein Beispiel: In der Öffentlichkeit ist immer von Ein-Euro-Jobs die Rede. Wenn Sie das aber durchrechnen, kommen Sie bei den so genannten Ein-Euro-Jobs auf einen Stundenlohn von neun bis zehn Euro. Zusätzlich zu dem einen Euro bekommen die Menschen ja das Arbeitslosengeld, Miete, Nebenkosten sowie Qualifizierung, Fahrtkosten, die Befreiung von Rundfunkgebühren und anderes.
Wir haben hier in Wuppertal 27 000 Ausbildungs- und Qualifizierungsplätze für Arbeitslosengeld-II-Empfänger. Vor den Hartz-Reformen hatten wir nur rund 1 000 solcher Ausbildungs- und Qualifizierungsplätze. Oft wird unterschlagen, was dieses System an guter Förderung leistet.

Aber das Hartz-IV-System betont vor allem das »Fordern«.

Sehr flapsig gesagt: Wenn mir ein 20jähriger gegenübersitzt, der keinen Schulabschluss hat, und ich sage ihm: »Pass mal auf, wir organisieren dir einen Schulabschluss, bezahlen dir während deiner Schulausbildung die Miete, Nebenkosten und Lebensunterhalt«, und der sagt mir: »Alter, ich hab’ keinen Bock drauf, schieb die Kohle rüber«, dann kann ich das zwar persönlich akzeptieren, aber es kann nicht sein, dass jemand anders dafür bezahlt – und zwar die, die jeden Morgen um sieben Uhr an der Werkbank stehen.

Und in einem solchen Falle würde also sanktioniert.

Ja. Es gibt doch Schlimmeres, als einen Schulabschluss und die Finanzierung der Schulzeit angeboten zu bekommen, auch wenn ich finde, dass der Staat sich nicht in Lebensentwürfe einmischen sollte.

Ist es denn der Normalfall, dass Arbeitslose »keinen Bock« haben?

Nein, natürlich nicht, und da muss man vorsichtig sein, weil auch dies oft falsch dargestellt wird. Wir betreuen hier 25 000 Bedarfsgemeinschaften in Wuppertal mit 50 000 Menschen. Angesichts dieser Zahlen sind die 500 Sanktionen, die wir im zweiten Quartal diesen Jahres verhängt haben, wirklich nicht relevant. Der häufigste Grund, warum wir Sanktionen verhängen, ist, dass Menschen Beratungstermine nicht wahrnehmen.
In meinem Alltag nehme ich meist das Gegenteil von »kein Bock« wahr. Wenn ich unsere Ausbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen besuche, höre ich sehr oft: »Kann ich nicht noch länger hier bleiben?« Es ist schade, dass in der Öffentlichkeit immer die negativen Einzellfälle präsentiert werden und nicht die Tausende Fälle, in denen die Leute glücklich sind, weil sie zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder etwas zu tun haben. Meine Erfahrung ist, dass Arbeitslosigkeit krank macht.

Arbeit kann unter bestimmten Bedingungen mindestens ebenso krank machen.

Ja, unter bestimmten Voraussetzungen. Aber Arbeitslosigkeit macht krank, ich kenne viele der Leute persönlich. Wenn die ein paar Monate eine vernünftige Arbeit haben, erkennen Sie sie nicht wieder.

Aber sind die Arbeitsplätze, in die mit Zwang und Sanktionen vermittelt wird, Arbeitsplätze, in denen Menschen aufblühen? Oder machen nicht gerade solche aufgezwungenen Arbeiten besonders krank?

Da muss man differenzieren. Wir vermitteln zum Teil ganz normal in den ersten Arbeitsmarkt, rund 10 000 Abgänge hatten wir im letzten Jahr in den ersten Arbeitsmarkt. Das, was wir selbst als zweiten Arbeitsmarkt anbieten, ist Arbeit mit Würde – und da legen wir in Wuppertal Wert darauf, wobei ich weiß, dass das nicht überall so ist. Wir machen kein Blätterputzen im Wald. Wir haben im Wuppertaler Stadion Zoo zwei Stehplatztribünen gebaut – 50 Leute haben wir da beschäftigt, und viele kamen darüber in den ersten Arbeitsmarkt. Was meinen Sie, was die für stol­ze Gesichter gemacht haben, als das Stadion eingeweiht wurde.

Statistiken zeigen, dass die meisten Maßnahmen es nicht schaffen, Arbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Daher sind solche Maßnahmen doch meist nichts als Beschäftigungstherapie oder Disziplinierung.

Das ist wiederum ein anderes Problem. Das ist die Lebenslüge, die wir in unserer Gesellschaft pflegen. Fakt ist: Wir haben nicht mehr Arbeit für alle.

Warum sollte dann jemand, der keine Lust hat zu arbeiten, mit Sanktionen zur Arbeit gezwungen werden? Wenn man die Arbeitskraft mancher Menschen nicht braucht, warum muss man sie dann disziplinieren?

Doch, die Arbeitskraft braucht man, wenn diese Menschen sinnvolle Sachen machen. Vor drei, vier Wochen sprach mich ein Mann an. Er trug einen Anzug und eine Aktenmappe und sagte mir dann: »Ich bin seit über zehn Jahren arbeitslos – wundert Sie das?« Ich habe ihm gesagt: »Ja, das wundert mich, Sie sehen aus, als kämen Sie gerade aus dem Büro.« Und dann hat er mir erzählt, dass er gelernter Bürokaufmann ist, seine Firma pleite ging und die vielen Absagen, die er auf Arbeitssuche erhielt, für ihn irgendwann wie Tritte in die Magengrube waren. Irgendwann sei er nicht mehr aufgestanden und habe sein Leben nicht mehr organisiert bekommen. Jetzt aber habe er sich selber Arbeit besorgt. Die Arbeit sieht so aus: Er steht morgens um sechs Uhr auf, geht um sieben ins Schwimmbad, schwimmt zwei Stunden, dann geht er zwei Stunden zum Beten in die Kirche, dann geht er drei Stunden ins Altenheim und unterhält sich ehrenamtlich mit alten Leuten. Dadurch, dass er weiß, dass er in diesem Altenheim gebraucht wird, hat er sein Leben wieder sortiert bekommen.

Scheinbar haben nicht alle Menschen den Arbeitszwang derart internalisiert, sonst müsste wohl nicht sanktioniert werden. Erwerbsloseninitiativen berichten, dass aber immer wieder auch auf Verdacht sanktioniert wird.

Das tun wir in Wuppertal nicht, deshalb ist bei uns die Sanktionsquote auch niedrig. Sanktionen nach Verdacht zu verhängen, um die Sanktionsquote zu erhöhen, ist falsch. Sanktionen dürfen nicht willkürlich verhängt werden.

Wie wird denn seitens Ihrer Arge kontrolliert, dass Sanktionen nicht willkürlich verhängt werden?

Durch die Schulungen und die Führungskräfte und Experten vor Ort, die kontrollieren, ob wirklich ein Sanktionsgrund vorliegt. Wir haben auch viele psychisch Kranke in diesem System, wir haben viele Menschen mit schwierigen Lebenslagen, Obdachlose, Drogenkranke, ältere Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen. Mit Verlaub: Warum sollte ich diese Leute sanktionieren?
Hier gibt es meiner Meinung nach auch einen Widerspruch in diesem System. Mein Eindruck ist, dass viel zu viele Inhalte eins zu eins aus dem SGB III – also aus dem System des Arbeitslosengeldes I für normale temporäre Arbeitslosigkeit – in das System des Arbeitslosengeldes II übertragen werden. Einen Drogenkranken zu sanktionieren, der einen Termin verpasst, ist unsinnig. Das weiß jeder, der sich mit Drogenkranken auskennt. Wir haben das in Wuppertal so organisiert, dass solche Leute nur von spezialisierten Mitarbeitern betreut werden. Ich kritisiere häufig, dass es viel zu wenig Kenntnisse über die Menschen im Bereich des Arbeitslosengeldes II gibt.

Treffen Sanktionen aber nicht immer gerade die Schwächsten, diejenigen, die sich nicht wehren können, weil ihnen schon die sprachlichen Möglichkeiten fehlen?

Wenn Sie es so machen, wie das System es vorsieht, ja. Wenn jemand auf unsere Briefe nicht reagiert, könnten wir formal gesehen sanktionieren. Aber das machen wir nicht. Wir fahren bei den Leuten vorbei und sehen nach, warum sie nicht reagieren. Da haben wir täglich Fälle, bei denen wir in Wohnungen kommen und dort merken: Diese Leute machen seit zwei Jahren die Post nicht mehr auf. Soll ich die sanktionieren? Nicht wirklich.

Ist es möglich, Sanktionen zu nutzen, um Ausgaben einzusparen, um damit die Zielwerte, die den Argen von der Bundesagentur gesetzt werden, zu erfüllen?

Theoretisch wäre das möglich, aber wir praktizieren das nicht. Mithilfe von Sanktionen Geld zu sparen, um damit im Wettbewerb um hohe Sanktionsquoten zu punkten, ist falsch.

Nach Auskünften der Bundesagentur für Arbeit gibt es für die Anzahl der Sanktionen keine Zielvorgabe. Werden die Sanktionsquoten der verschiedenen Argen dennoch untereinander verglichen?

Der Wert wird im Rahmen der Evaluation verglichen. Wenn die Sanktionsquote einer Arge unterdurchschnittlich ist, muss man das erklären.

Auch wenn die Sanktionen in Ihrer Arge nicht viele Arbeitslose treffen, haben sie ja dennoch Wirkung auf alle, indem sie Arbeitslose einschüchtern und ihnen suggerieren, sie wären selbst an ihrer Lage schuld.

Nein, also ich erlebe seit 20 Jahren etwas anderes in diesem Bereich. Auch früher gab es im Sozialhilfesystem Sanktionen, nur wurden die nicht kritisiert. Wer Termine des Sozialamts nicht wahrgenommen hat, dem drohten auch Sanktionen. Das ist nichts Neues bei Hartz IV.

Wenn die Sanktionen alle wegfallen würden – was würde dann passieren?

Bei der geringen Anzahl der Sanktionen, die wir verhängen, weiß ich nicht, ob das überhaupt Auswirkungen hätte. Aber noch einmal: Wenn man den Menschen sinnvolle Maßnahmen bietet, dann hat das positive Auswirkungen. Ich sag’ es mal flapsig: Sie haben dann einfach wieder Spaß am Leben. Das heutige System hat Nachteile. Aber das alte System war ein Alimentierungssystem, und das finde ich sozial schädlich. Letztendlich haben wir den Leuten früher einen Scheck rübergeschoben, und das war es dann. Ob man das gut findet oder nicht: Arbeit bedeutet soziale Integration.