Der Machtkampf im Iran dauert an

Tränengas zum Gebet

Die iranische Opposition nutzte die Freitagspredigt in Teheran für einen Massenprotest, der Machtkampf im Establishment dauert an.

War es die Rührung oder das Tränengas? Als Hashemi Rafsanjani bei der Freitagspredigt über den Propheten Mohammed sprach, traten ihm Tränen in die Augen. Für Sentimentalität ist »der Hai«, wie er von vielen Iranern wegen seiner Geschäftsmethoden und seines Talents für politische Intrigen genannt wird, nicht bekannt. Während seiner Predigt griffen Polizisten und Basij-Milizionäre die Menschen an, die keinen Zutritt mehr fanden und sich vor der Teheraner Universität versammelt hatten. Die Tränengasschwaden trieben über das Universitätsgelände in die Halle, in der Rafsanjani sprach.
Das Durcheinander im Iran könnte kaum größer sein. Das Freitagsgebet ist der wöchentliche Höhepunkt des politischen Lebens, eigentlich dient es dazu, die loyalen Anhänger des Regimes auf neue Kampagnen einzuschwören. Nun wurde es zum Sammelpunkt der Opposition, Mir Hussein Mousavi hatte dazu aufgerufen, die Gelegenheit für neue Proteste zu nutzen, und Hunderttausende kamen. Rafsanjani den Zugang zum Minbar, der Kanzel des Predigers, zu verwehren, wagte der religiöse Führer Ali Khamenei offenbar nicht. Doch unterblieb die übliche Übertragung der Predigt im Fernsehen.

Uneinigkeit gibt es nun auch unter der Hardlinern. Präsident Mahmoud Ahmadinejad ernannte Esfandiar Rahim Mashai zu seinem ersten Vizepräsidenten. Mashai hatte sich im Jahr 2007 in der Türkei einen Folkloretanz von Frauen angeschaut und im folgenden Jahr gesagt, die Iraner seien »Freunde aller Völker der Welt, sogar der Israelis«. Dieser schüchterne Versuch Ahmadine­jads, den Iranern anzudeuten, dass er zu Zugeständnissen bereit sein könnte, stieß umgehend auf Widerspruch. Hussein Shariatmadari, Chefredakteur der Khamenei ergebenen Zeitung Kayhan, stellte »Bedauern und Sorge« unter den Anhängern des religiösen Führers fest.
Die Demonstrationen am Freitag hatten ähnliche Ausmaße wie während des Höhepunkts der Proteste Mitte Juni. Somit ist klar geworden, dass die Hardliner die Revolte nicht einfach aussitzen können. Das Regime ist mit einer Massenbewegung konfrontiert, die sich nicht einschüchtern lässt. Offenbar wissen die Anhänger Khameneis nicht recht, was sie nun tun sollen. Wenn die Repression weiter verschärft wird, könnte das die Empörung steigern. Werden hingegen Zugeständnisse gemacht, könnte dies die Protestierenden ermutigen.
Unkalkulierbar sind auch die Reaktionen im klerikalen und politischen Establishment. Khamenei und Ahmadinejad mangelt es an prominenten Unterstützern. Es ist unwahrscheinlich, dass oppositionelle Ayatollahs wie Ali Hussein Montazeri sich einschüchtern lassen. Sich mit einer Kampagne im Stil der Moskauer Schauprozesse der Kritiker zu entledigen, würde zögerliche Geistliche in die Opposition treiben. Andererseits gilt auch für die Dissidenten im Establishment, dass Zugeständnisse sie zu weiter gehenden Forderungen ermutigen könnten.
Deshalb wird Khamenei wohl nicht Rafsanjanis Ratschlägen folgen, der mahnte: »Islamische Republik ist nicht nur ein formeller Titel. Er steht für die republikanische und die islamische Natur.« Rafsanjani sprach nicht von Wahlbetrug, sondern von einem Vertrauensverlust, betonte aber, die republikanischen Institutionen seien nun in Gefahr, und »ohne das Volk und seine Stimme gibt es kein islamisches System«. Rafsanjani berief sich auf die höchsten religiösen Autoritäten, den Propheten Mohammed und Imam Khomeini. Am deutlichsten war der Rat, den der Prophet angeblich seinem Schwiegersohn Ali gab, den er nach schiitischer Ansicht als Nachfolger auserkoren hatte: »Wenn du siehst, dass sie gegen dich sind und nicht mit dir kommen wollen, dann musst du sie lassen. Lass sie tun, was sie wollen.«
Viele Oppositionelle waren enttäuscht, sie hatten sich noch deutlichere Worte erhofft. Rafsanjani propagierte zwar eine Versöhnung, der zitierte Ratschlag des Propheten kommt jedoch der Forderung gleich, dass die für den Wahlbetrug Verantwortlichen verschwinden müssen, wenn sie das Vertrauen der Bevölkerung nicht zurückgewinnen können. Überdies forderte er die Freilassung der wegen der Proteste Inhaftierten und »eine Atmosphäre, in der alle ihre Ansichten äußern können«.
Das ist umso bemerkenswerter, als Rafsanjani eigentlich nicht zu den Reformislamisten zählt. Bis zu den Wahlen galt er als Vermittler zwischen den Fraktionen, nun teilt er sich die Arbeit mit Mousavi, der zu Protesten aufruft, während Rafsanjani die Feinde Khameneis im Establishment um sich sammelt. Er ist Vorsitzender des Expertenrats, des einzigen Gremiums, das den religiösen Führer legal absetzen kann, und des Schlichtungsrats, der vermitteln soll, wenn religiöse und republikanische Gremien sich nicht einigen können. Den Schlichtungsrat anstelle des Wächterrats will der ehemalige Präsident Mohammed Khatami mit der Überwachung eines Referendums betrauen, das über die umstrittenen Wahlen entscheiden soll.
Wenn die Oppositionellen den Machtkampf in den Institutionen gewinnen sollten, stünden sie jedoch vor einem Problem. Es ist fraglich, ob Khamenei und Ahmadinejad eine Absetzung akzeptieren würden. Ayatollah Mohammed Yazdi, ein Mitglied des Wächterrats, sagte nach der Predigt Rafsanjanis: »Stimmen allein geben keine Legitimität.« Die Kleriker, die die republikanischen Institutionen für entbehrlich halten, gehören zwar nicht zu den angesehensten und einflussreichsten Gelehrten. Doch unter den 180 000 iranischen Geistlichen finden sich genügend Loyalisten, um wenigstens den Schein zu wahren.

Entscheidend ist im Fall einer Eskalation, wem die Streitkräfte folgen werden. Ahmadinejad will Rostam Qassemi, einen General der Revolutionswächter (Pasdaran), zum Ölminister machen. In seiner ersten Amtszeit hatte Ahmadinejad den Pasdaran bereits zahlreiche hohe Posten und Milliardenaufträge zugeschanzt, u.a. zum Bau von Pipelines. Nun einen Revolutionwächter direkt an die Quelle zu setzen, mag die Loyalität der Offiziere stärken, doch wird die islamistische Bourgeoisie, deren Repräsentant Rafsanjani ist, diesen Schritt als eine weitere Einschränkung ihrer Geschäftstätigkeit missbilligen. Selbst unter den Pasdaran scheint es Widerspruch zu geben. Mohsen Sazegara, der zu den Gründern der Pasdaran gehörte und derzeit im US-Exil lebt, glaubt sogar, das die Mehrheit der Revolutionswächter die Kommerzialisierung der Truppe ablehnt: »Sie wollen nicht korrumpiert werden.«
Möglicherweise überschätzt Sazegara den Idealismus. Dass in Ahmadinejads Amtszeit die bereits zuvor erhebliche Korruption weiter zugenommen hat und der Klientelismus faktisch offizielle Regierungspolitik wurde, trug jedoch sicher dazu bei, große Teile des Establishments gegen den Präsidenten aufzubringen. Eher als auf die Pasdaran kann die Opposition auf die Armee hoffen, deren Offiziere sich durch die Privilegierung der konkurrierenden Paramilitärs zurückgesetzt fühlen. Nach Angaben der Webseite Peiknet, die der Opposition nahesteht, wurden in der vergangenen Woche 24 Offiziere verhaftet, die zu einer Geheimversammlung zusammengekommen waren. Am Samstag seien 36 Offiziere vom Militärgeheimdienst verhaftet worden, die in Uniform zu Rafsanjanis Freitagsgebet gehen wollten. Besorgt ist Khamenei jedenfalls, am Sonntag ernannte er den Geistlichen Mohammed Ali Ale Hashem zum neuen Leiter der Politisch-Ideologischen Abteilung der Armee.
Khamenei stellte am Montag klar, dass er keine Kompromisse zu schließen gedenkt. Erneut bezeichnete er die Proteste als ein Werk ausländischer »Feinde des iranischen Volkes«, die »den Unruhestiftern Anweisungen geben«. Es ist zu befürchten, dass die Unentschlossenheit des Regimes nicht allzu lange andauern wird. Ein erstes Anzeichen für ein noch härteres Vorgehen war der Angriff auf Mehdi Karroubi, den zweiten reformislamistischen Präsidentschaftskandidaten, der überdies Geistlicher im Rang eines Hojatolislam ist, eine Stufe unter dem Ayatollah. Dass Milizionäre ihm am Freitag den Turban vom Kopf schlugen, mag harmlos erscheinen im Vergleich zu sonstigen Brutalitäten, bedeutet aber, dass auch Geistliche nicht mehr respektiert werden, wenn sie sich gegen den religiösen Führer wenden.

»Es erinnert mich an die Zeit kurz vor dem Sieg der islamischen Revolution«, kommentierte Karroubi. Die Opposition bedient sich vieler Strategien, die auch in den Revolutionsjahren 1978/79 angewendet wurden. Es ist recht wahrscheinlich, dass die kommenden Proteste dem damaligen »schiitischen Rhythmus« folgen werden. Einem Todesfall folgt eine 40tägige Trauerzeit, dann wird demonstriert. Ein erster derartiger Protesttag könnte das Ende der 40tägigen Trauerzeit für Neda Agha-Soltan sein, die am 20. Juni erschossen wurde.
Obwohl die Verfassung die göttlichen über die republikanischen Institutionen stellt, reden Männer wie Rafsanjani und Montazeri, beide ehemals Mitkämpfer Khomeinis, nun wie Liberale und wollen den Eindruck erwecken, es gäbe eigentlich keinen Widerspruch zwischen »Islamischer Republik« und Demokratie. Das muss nicht bedeuten, dass sie der dunklen Seite der Macht entsagt haben. Doch die Dynamik der Massenbewegung hat sie bereits jetzt weit über die Grenze dessen hinausgetrieben, was bislang unter Reformislamismus verstanden wurde. Wenn sie nach einem Sieg zum islamistischen business as usual zurückkehren wollen, müssen sie damit rechnen, dass die Bewegung sich gegen sie wendet.
So unschön die Rufe »Allahu Akbar« in säkularen Ohren klingen mögen, frei übersetzt lautet die Botschaft für Khamenei, Ahmadinejad und ihre Schlägertrupps: »Gott ist nicht mit euch. Er hasst Idioten wie euch.« Dem Regime wird das Monopol auf Rechtgläubigkeit abgesprochen, und wenn es gelingt, den religiösen Führer zu stürzen oder abzusetzen, wird das die ideologischen und institutionellen Grundlagen der »Islamischen Republik« erschüttern. Zwangsläufig führt dies zu einer Stärkung der republikanischen Institutionen, die, wenn die Protestbewegung kampfbereit bleibt, der Demokratisierung den Weg ebnen könnte. Das befüchtet auch Ayatollah Jaafar Shojuni, ein Anhänger Khameneis: »Wenn wir beginnen, die maßgeblichen Stützpfeiler des Systems zu unterminieren, wird kein Stein auf dem anderen bleiben.« Hoffentlich behält er recht.