Das Bundesverfassungsgericht erinnert den Bundestag an seine Pflichten in der EU-Politik

Einmal Lissabon und zurück

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts diskutieren die Parteien darüber, inwieweit der Bundestag und der Bundesrat künftig die Regierung bei ihrem Handeln auf der Ebene der EU kontrollieren sollen.

Seit das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung zu den Klagen gegen den Lissabonner EU-Vertrag verkündet hat, reißt die Kritik an dem vorgeblich »zutiefst integrationsfeindlichen Urteil« (Financial Times Deutschland) nicht ab. Nicht nur Unionspolitiker sehen »die Grundrichtung der bisherigen deutschen Europa-Politik« in Frage gestellt (Jürgen Rüttgers), vor allem sind es selbst ernannte Berufseuropäer in Politik und Medien, die sich bemüßigt fühlen, die Karlsruher Richter aggressiv anzugehen.
Deutschland, so droht etwa der Europa-Abgeordnete der SPD, Jo Leinen, laufe Gefahr, zur »lahmen Ente unter den 27 Mitgliedsstaaten zu werden«, wenn das »Urteil aus dem letzten Jahrhundert« allzu konsequent umgesetzt werde. Dem ehemaligen Außenminister Joschka Fischer zufolge will das Bundesverfassungsgericht der vertieften europäischen Integration »einen nationalen Riegel vorschieben«. Andere wiederum sehen in der auch von der CSU erhobenen Forderung nach mehr Rechten für Bundestag und Bundesrat eine »Zwangsjacke« für Europa oder gar »Handschellen« für »deutsche Handlungs­fähigkeit« (Rheinischer Merkur): Der »deutschen Bundeskanzlerin und den Bundesministern im Ministerrat« solle »zugemutet werden, nur noch mit gebundenen Voten zu Gipfeln zu reisen«, empört sich der nordrhein-westfälische Integrationsminister Armin Laschet (CDU) über ent­sprechende Vorschläge der bayerischen Schwesterpartei und merkt kategorisch an: »Wer nicht verhandeln darf, ist Zuschauer. Deutschlands Kanzlerin gehört aber nicht auf die Ersatzbank, sondern aufs Spielfeld.«

Dabei hatten noch am Tag der Verkündung, dem 30. Juni, alle das Urteil begrüßt. Die einen begeisterten sich daran, dass die Verfassungsrichter die deutsche Ratifizierung des Lissabonner Vertrages grundsätzlich für verfassungskonform erklärt hatten, die anderen rekurrierten genüsslich auf den Totalverriss des Begleitgesetzes, welches die Rechte von Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten regeln soll und nun komplett umgeschrieben werden muss.
Der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler, einer der Kläger, frohlockte im rechts-konservativen Duktus, dass die Entscheidung die »souveräne Staatlichkeit Deutschland(s) gegenüber Kompetenzanmaßungen durch die EU« gerettet habe. »Die Linke« wollte in dem Urteil hingegen eine »demokratische Nachhilfestunde für CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne« erblicken und erklärte etwas voreilig die »Selbstentmachtung der Legislative in Bezug auf den europäischen Gesetzgebungs- und Entscheidungsprozess« für »gestoppt«. Und auch Vertragsbefürworter hatten zunächst die von den Verfassungsrichtern vorgegebene Stärkung des Bundestages in EU-Angelegenheiten begrüßt.

Die schlechte Laune bei den Verteidigern des Lissabonner Reformvertrags kam erst später auf – und sie wuchs mit der Erkenntnis, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts eben doch nicht »mehr Theorie wie Praxis« (O-Ton Leinen) sind, sondern klare Bedingungen für künf­tige Kompetenzverlagerungen auf die Ebene der EU formulieren. Dabei ist es peinlich genug, dass das Bundesverfassungsgericht den Bundestag an seine eigenen Rechte gemahnen und ihn dazu auffordern muss, seinem europa-politischen Kontroll- und Mitwirkungsauftrag gerecht zu werden.
Schon vor vier Jahren, beim Europäischen Haftbefehl, mussten die Parlamentarier auf Geheiß der Verfassungsrichter eine grundgesetzwidrig-schlampige Umsetzung eines EU-Rahmenbeschlusses korrigieren. Der aktuelle Fall ist noch gravierender, da dem Bundestag quasi ein Ver­sagen in eigener Sache nachgewiesen wird. Was einer Abmahnung durch die Richter gleichkommt, soll nun in einem zweiten Versuch korrigiert werden. So müssen die Abgeordneten Sommerurlaub und den Vorwahlkampf unterbrechen und in das Hohe Haus zurückkehren.
Die Noch-Koalitionsparteien arbeiten bereits an einem neuen Begleitgesetz, über welches am 26. Au­gust auf einer Sondersitzung des Bundestags beraten werden soll. Am 8. September schließlich – kurz vor Ladenschluss, denn am 27. September wird der Bundestag neu gewählt – soll das Gesetz von einer ganz großen Koalition aus Union, SPD, FDP und Grünen verabschiedet werden. Ob die Linksfraktion bei den Beratungen mitspielen darf, so sie überhaupt will, ist ungewiss. Wichtig ist den anderen Fraktionen vor allem, dass der deutsche Ratifizierungsprozess – nicht zuletzt wegen seiner »Signalwirkung« für Polen, Tschechien und Irland, wo am 2. Oktober erneut über den Lissabonner Vertrag abstimmt wird – rechtzeitig abgeschlossen werden kann.
Was letztlich drinstehen soll im neuen Begleitgesetz, ist noch nicht ausgemacht. Klar ist bislang lediglich, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts – etwa zu jenen Bestimmungen, die Kompetenzausweitungen der EU vorsehen, sowie zum »Notbremse-Verfahren« in bestimmten Politikbereichen – eins zu eins umgesetzt werden sollen. Jedoch schon die Frage, in welcher Form die Erweiterung der Rechte von Bundestag und Bundesrat festzuschreiben ist, birgt Konfliktstoff. Von Union und FDP wurde bereits angeregt, die seit 2006 bestehende Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung zur Zusammenarbeit in EU-Angelegenheiten »in Gesetzesform zu gießen«. Davon dürfte die Bundesregierung nicht allzu begeistert sein.
Und völlig unklar ist, ob und inwieweit die weitreichenden Forderungen der CSU – etwa nach »verbindlichen Stellungnahmen« oder nach einem imperativen Mandat von Bundestag und Bundesrat in EU-Angelegenheiten – integriert werden sollen. Solcherart Kontrolle wird von SPD und CDU rundweg abgelehnt. Die Koalition möchte das Urteil am liebsten nur minimal umsetzen. Erst soll der Lissabonner Vertrag ratifiziert werden, alles andere dann erst später folgen, so die Devise. Wobei zu vermuten ist, dass »später« in diesem Fall »sehr viel später« oder eher »nie« heißt: Einem internen Bericht der Bundestagsverwaltung zufolge kam in den vergangenen Jahren nicht nur die Bundesregierung ihren Unterrichtungspflichten in EU-Angelegenheiten eher schleppend nach. Auch der Bundestag machte weithin »Dienst nach Vorschrift«, hatte »nur selten eine Meinung« zu Europa (Taz) und gab lediglich zu einem minimalen Bruchteil der EU-Rechtsetzungsakte Stellungnahmen ab. Weder die Kontrollierten noch die Kontrolleure schienen bislang tatsächlich willens, am bestehenden Zustand etwas zu ändern. Und anstatt sich ernsthaft an der europa-politischen Debatte zu beteiligen, schimpfte mancher Großkoalitionär lieber gelegentlich auf »Brüssel« – obwohl dort nach wie vor an führender Stelle niemand anderes als die eigene Regierung agiert.

Was auch immer Bundestag und Bundesrat in Zukunft auf europa-politischer Ebene tun werden – eines ist jetzt schon absehbar: Das europäische Demokratiedefizit wird auch bei einer mustergültigen Umsetzung des Karlsruher Urteils nicht beseitigt werden können. Der Klage­bevollmächtigte der Linksfraktion in Karlsruhe, Andreas Fisahn, hat darauf hingewiesen, dass der Richterspruch in »nationaldemokratischer Starrheit« verharre, da er darauf ziele, »Demokratie national zu beschränken, nicht europäisch zu konjugieren«. Die progressive Forderung nach einer europäischen Demokratie bleibe so auf der Strecke.
Und noch auf einen weiteren Aspekt macht Fisahn aufmerksam: Über die ausschließlich auf den Markt orientierte Wirtschaftsordnung der EU schweigt sich das Urteil aus. Diese aber entzieht den Mitgliedsstaaten nach Ansicht von EU-Kritikern weitaus mehr Kompetenzen als institutionelle Regelungen, wie sie das Bundesverfassungsgericht moniert hat. Damit bleibt der Hauptbereich, in dem EU-Handeln wirksam ist, bei der mitgliedsstaatlichen Kontrolle weiterhin außen vor.