Über den Künstler Marc Brandenburg

Fenster zur Nacht

In den Achtzigern hing er neben unserem Autor am Tresen des Berliner »Kumpelnest 3 000«, heute hängen seine Zeichnungen über dem Schreibtisch von Cord Riechelmann. Ein Porträt des Künstlers Marc Brandenburg

The House of deep essential Shit and Disco Therapeutics« war der Titel einer Ausstellung von Marc Brandenburg bei Contemporary Fine Arts 1993 in Berlin. Die damals gezeigten Bilder waren überwiegend Motiven aus Magazinen und Bildbänden nachempfunden. Zu sehen waren unter anderem ein Hirschgeweih mit Posaune, John Lennon, Pepsi-Puppen und ein Maschinengewehr. Dazwischen hatte Brandenburg immer wieder, so als wollte er der Erzählung der Bilder einen Absatz eigener Art hinzufügen, Zeichnungen pornografischen Inhalts gehängt. »Das ist mein Traumjunge«, hatte er über ein Bild gesagt, auf dem ein Junge gelangweilt und faul onaniert.
Materialtechnisch kontrastieren Brandenburgs Zeichnungen elementar mit ihren Gegenständen. Das Maschinengewehr etwa war vom Schaft über das gebogene Patronenmagazin bis zum Lauf sehr genau gezeichnet, allerdings mit den simpelsten Mitteln: mit einer einzigen Bleistiftstärke auf einem Blatt Papier. Das Gegenteil auch zur großen Geste der Malerei? »Absolut«, antwortete Brandenburg 1993 dem verstorbenen Taz-Kunstkritiker Harald Fricke in einem Gespräch anlässlich von »The House of deep essential Shit and Disco Therapeutics«.
»Absolut«, lautet auch eine der Antworten, die Brandenburg im Interview in der aktuellen Spex gibt. Die vorausgegangene Frage bezog sich auf das Berghain und bezeichnete den Techno-Tempel als das »vielleicht letzte Überbleibsel einer Subkultur, wie sie in den Achtzigern selbstverständlich war«. Anlass des Spex-Gesprächs war eine im Februar im Berghain neu installierte Fensterreihe, die nach Entwürfen von Brandenburg gestaltet wurde. Das sehr schöne Interview in der Spex korrespondiert dabei in vielfacher Hinsicht mit dem Gespräch, das Fricke 1993 mit Brandenburg geführt hat und das damals auf drei lose gefalteten Din-A-4-Blättern als Multiple in einer Auflage von 100 vom Galeristen Bruno Brunett vertrieben wurde. Nur sind heute aus einer Bleistiftstärke drei – HB, 5B und 2H – geworden, und die Zeichnungen haben sich vom DIN-A-4-Format enfernt und bespielen mittlerweile eben auch Clubs und U-Bahnhöfe, wie in der Ausstellung »Underground« 2007 am Berliner Alexanderplatz. Auch der Preis liegt nicht mehr bei 800 Mark pro Blatt wie 1993, sondern bei was-weiß-ich wie viel Euro. Brandenburg wird allgemein zu den Gewinnern auf dem Kunstmarkt der vergangenen Jahre gezählt, und das ist eine gute Nachricht. Geht es hier doch um ein Werk, in das man nur eintreten kann, wenn man die Singularität seines Unternehmens und die daraus erwachsenden Ziele berücksichtigt.
Wobei »singulär« in diesem Fall überhaupt nichts mit abgehobenen, solipsistischen oder eskapistischen Positionen eines einsamen Künstler-Ichs, das sich gegen die Zeit in der Zeit zu behaupten versucht, zu tun hat. Die künst­lerische Singularität, um die es hier geht, ist eine in einem bestimmten Allgemeinen aufgehobene. Während ich dies schreibe, schaue ich auf eine Zeichnung von Brandenburg, die ihn mit dem verstorbenen schwulen Gehörlosenaktivisten Gunter Puttrich-Reignard zeigt. Beide sitzen Kaffee trinkend auf der Bank zwischen Tresen und Fenster im Kumpelnest 3 000. Wie Gunter und ich gehörte auch Marc hier eine Zeit lang zum Tresenschlampenpersonal, und das war für Marc im Unterschied zu vielen anderen nur eine Station an dem ortlosen Ort des Nachtlebens.
Man kann Brandenburgs künstlerische Sozialisation mit den markanten Orten der Berliner Nacht seit 1979 in Beziehung setzen: Dschungel, Kumpelnest 3 000, Möbel Olfe, Ostgut und heute das Berghain. In all diesen Läden hat Marc in verschiedenen Funktionen – als Türsteher, Barmann, DJ – gearbeitet, und es ist ihm zu glauben, wenn er sagt, dass er das heute nur deshalb nicht mehr tut, weil ihm die Zeit fehle. Das Zeichnen mit dem Bleistift ist ein Knochenjob, und die Ausstellungsangebote werden nicht weniger. Und Ausstellungen sind ein entscheidendes Movens der Produktion Brandenburgs. Seine Zeichnungen konzipiert er immer für eine bestimmte Ausstellung an einem bestimmten Ort. Was nichts weniger heißt, als dass der Anlass des Zeichnens ebenso äußerlich bestimmt ist wie ihr Inhalt: Der große Gegner ist jede Form der Innerlichkeit. Die Motive kommen von außen, und sie basieren nach der »Deep Essen­tial Shit Show« immer mehr auf eigenen Fotografien. Das sind Schnappschüsse von allem Möglichen: vom Abhängen und Teetrinken mit Freunden, von Ästen und Blüten von Pflanzen im Berliner Tiergarten, Menschenmengen auf Anti-Nazi-Demonstrationen, vom Karussell auf Rummelplätzen, von ornamentalen Mustern auf Tapeten oder von Kotzlachen am Boden.
Wenn die Fotos vorliegen, werden sie der die Kunst Brandenburgs bestimmenden Frage unterworfen: Was gibt es auf dem Bild zu sehen? Worin liegt die Untiefe dieses Bildes? Ist die Antwort gefunden, beginnt der eigentliche Akt der Kunst. Dann werden die Motive auf ein Blatt übertragen und mit dem Bleistift bearbeitet, bis die Handgelenke nicht mehr mitmachen, und jene Pausen eingestreut, die dann genauso schön sein können wie das Zeichnen und als Schnappschuss vielleicht ins nächste Bild wandern.
Die Zeichnungen haben sich über die Jahre verändert. Wurden zu Beginn die schwarzen Stellen der Vorlagen auch schwarz in der Zeichnung wiedergegeben, sind sie heute prinzipi­ell invertiert: Aus Schwarz wird Weiß, und aus Weiß wird Schwarz. Die Veränderungen sind dabei allerdings überhaupt nicht als Entwicklungsroman zu lesen. Entwicklungsgeschichten setzen Anfänge voraus, aber Anfänge fehlen in der Regel in Brandenburgs Bildchroniken. Anfänge sind nicht so wichtig und immer Zufall. Womit aber nichts gegen den Zufall gesagt sein soll.
Der Zufall ließ Brandenburg als Kind eines afroamerikanischen GIs und einer deutschen Mutter 1965 in Berlin zur Welt kommen. Später lebte er mit der Mutter, einem Stiefvater und seinen Geschwistern eine Zeit lang in den USA, in der Nähe von Detroit. Der Stiefvater war gewalttätig und schrecklich, und so war es ganz gut, nach der Scheidung der Eltern zurück nach West-Berlin zu kommen. Dort wird dann der 1979 ins Nachtleben einbrechende Punk zu so etwas wie der künstlerischen Initiation Brandenburgs. Eine Initiation, die bei Marc immer auch etwas von dem speziell (afro-) amerikansichen Impetus behält, wie er sich insbesondere in Produktionen des Motown-Labels ausdrückt: Ritual, Erlösung und Transzendenz in Tanz und Gesang wie im Gospel schwingen auch in seinen Bildern mit. Dabei ist er komplett areligiös und bestimmt kein Künstler des Nicht-Anwesenden.
Wo Gewalt herrscht oder unvermittelt auftaucht, gehört sie auch in das Bild, das dann Kunstwerk wird. Wenn man nach so etwas wie einer Ethik in Brandenburgs Schnappschuss-Chronistenarbeit suchen will, findet man sie gerade in diesem Gewaltkontext. Das Maschinengewehr nämlich, von dem am Anfang die Rede war, wird, wenn man weiter weg geht vom Bild, zu einem abstrakten schwarzen Klumpen, in den ein paar helle Linien dringen. Was heute noch Maschinengewehr ist, kann auch etwas anderes werden, aber bis es so weit ist, malt Brandenburg weiter mit Gewalt im Bild.