Afghanistan vor den Wahlen

Im Stahlnetz der Jihadisten

Mehrere Militäroffensiven sollen sicherstellen, dass im August die Präsidentschaftswahlen stattfinden können. Die meisten Afghanen erwarten, dass es bei der Abstimmung nicht ehrlich zugehen wird.

Im Umgang mit den Medien haben die Taliban etwas dazugelernt. Bislang gaben nur die westlichen Militärs ihren Offensiven klangvolle Namen, so ist die US-Armee derzeit mit der »Operation Dolchstoß« beschäftigt, das britische Militär schwingt die »Pantherklaue«. Nun ziehen die Jihadisten nach. »Wir beginnen unsere eigene Operation Stahlnetz, als Antwort auf die Operation Dolchstoß«, erläuterte Qari Yusuf Ahmadi, ein Sprecher der Taliban in der umkämpften Provinz Helmand, Journalisten des Institute for War and Peace Reporting. »Wir werden ihren Dolch in unserem Netz fangen.«
Etwa 91 000 ausländische Soldaten sind derzeit in Afghanistan stationiert, die Offensiven, die derzeit in verschiedenen Teilen des Landes stattfinden, sind jedoch eher defensiver Natur. Sie sollen vor allem sicherstellen, dass die Präsidentschaftswahlen am 20. August überhaupt stattfinden können. Da die Taliban einem Bericht des International Council on Security and Development (Icos) zufolge Ende 2008 eine »permanente Präsenz in 72 Prozent des Landes« hatten und seitdem noch weiter vorgedrungen sind, unter anderem in das Einsatzgebiet der Bundeswehr, ist das keine einfache Aufgabe. Denn die Feuerkraft der ausländischen Truppen genügt, um die Taliban bei Gefechten zum Rückzug zu zwingen, doch die Zahl der Soldaten ist zu gering, um das Land zu kontrollieren.
Deshalb bemüht sich die afghanische Regierung auch um Waffenstillstandsabkommen mit den Taliban. Eine Integration der »Gemäßigten« unter den Jihadisten soll folgen. Ein Lokalkommandant der Taliban im Distrikt Bala Mughab ließ sich am Montag auf ein solches Abkommen ein, doch die meisten Jihadisten scheinen angesichts ihrer Erfolge derzeit keinen Anlass für Kompromisse zu sehen.
Die erste Phase der britischen Offensive in Helmand wurde am Montag offiziell beendet. Pre­mier­minister Gordon Brown lobte die »heroischen« Bemühungen seiner Soldaten, sie hätten das Leben »für 100 000 Menschen sicher gemacht«. Es gibt jedoch etwa 32 Millionen Afghanen, und viele von ihnen bezweifeln, dass die militärischen Erfolge dauerhaft sind. »Wenn sie ein Gebiet säubern und keine Streitkräfte zurücklassen, kehrt die Opposition zurück und es wird schlimmer als zuvor«, sagt Abdul Jabar, ein ehemaliger Offizier der afghanischen Armee. »Das hinterlässt einen sehr schlechten Eindruck bei den Leuten, sie laufen zu den Aufständischen über, weil sie diese als die stärkere Kraft sehen.«

Dass zahlreiche Wahllokale in entlegenen Gebieten und 150 000 Wahlhelfer vor Angriffen der Jihadisten geschützt werden müssen, ist jedoch nicht das einzige Problem. Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in den Jahren 2004 und 2005 war es zu Manipulationen gekommen, deren Ausmaß nie geklärt wurde. In diesem Jahr wurden bereits bei der Wählerregistrierung Betrugsvorwürfe erhoben. Die NGO Free and Fair Elections Foundation of Afghanistan stellte in 40 Prozent der untersuchten Bezirke Unregelmäßigkeiten fest, unter anderem seien nicht existierende »Geisterwähler« in die Listen eingetragen worden. Vielerorts soll die Registrierung nun überprüft werden.
Nach den letzten Wahlen kamen einige unabhängige Kandidaten ins Parlament, unter ihnen Malalai Joya (siehe Interview Seite 5), der später allerdings ihr Mandat wieder entzogen wurde. Die Mehrheit der Abgeordneten, den meisten Schätzungen zufolge rund zwei Drittel, repräsentieren jedoch weniger ihre Wähler als den Warlord, dem sie dienen.
Es gibt mittlerweile etwa 100 Parteien, darunter Payman-e Kabul, ein Bündnis von sechs linken Gruppen. Bei den Wahlen durften jedoch nur Personen kandidieren, und politischen Einfluss haben nur Parteien, denen ein Warlord vorsteht. Die mächtigste Gruppierung ist wohl die National United Front of Afghanistan, die gleich mehrere Warlords vereint. Die Einheit beruht jedoch vornehmlich auf der Feindschaft gegenüber Präsident Hamid Karzai.

Von einer gesellschaftlichen Demokratisierung kann auch knapp acht Jahre nach der Unterzeichnung des Petersberger Abkommens, das unter deutscher Führung erstellt wurde und die politische Neuordnung regelte, nicht die Rede sein. Damals wurden den Warlords die wichtigsten Posten in der Übergangsregierung zugesprochen. Karzai, der keine bedeutende Privatmiliz führt, sollte als ziviler Präsident zwischen den Kriegsherren vermitteln. Die im Jahr 2004 verabschiedete Verfassung gab Afghanistan zwar die Institutionen einer parlamentarischen Demokratie, erklärte das Land aber zur »Islamischen Republik«, deren Gesetze den »Bestimmungen der heiligen Religion des Islam« folgen müssen.
Es ist daher, milde ausgedrückt, nicht ganz konsequent, wenn jene Regierungen, die für die Islamisten den Gebetsteppich ausrollten, afghanische Politiker kritisieren, die ernst machen mit den »Bestimmungen der heiligen Religion des Islam«. So wollte Karzai, der selbst ein Reaktionär, aber kein Islamist ist, im Frühjahr die schiitischen Hazara für sich gewinnen und dekretierte ein Gesetz, das den Frauen unter anderem jede »unnötige« Beschäftigung außer Haus verbot und ihnen gebot, ihren Ehemännern mindestens alle vier Tage zum Sex zur Verfügung zu stehen. Das Gesetz wurde nach internationalen Protesten vorläufig zurückgezogen, nun soll Karzai nach Angaben des britischen Journalisten Nick Fielding den Hazara und den Uzbeken neben Kabinettsposten und anderen Vergünstigungen angeboten haben, ihren Bevölkerungsanteil ohne umständliche Zählung mit 25 bzw. 15 Prozent festzusetzen, obwohl bislang keine Schätzung eine der beiden Gruppen auf mehr als zehn Prozent taxierte.
Karzai setzte auch den uzbekischen Warlord Rashid Dostum wieder als Generalstabschef ein. Der Präsident muss möglichst viele Bündnispartner um sich sammeln, denn um seine Popularität ist es schlecht bestellt. In seiner ersten Amtszeit hat sich die Sicherheitslage kontinuierlich verschlechtert, neben den Taliban terrorisieren auch Milizionäre regimetreuer Warlords die Bevölkerung. Die Erfolge beim Wiederaufbau sind dürftig und viele Mitarbeiter Karzais gelten als korrupt. Bei einer Telefonumfrage Anfang des Jahres unterstützten ihn 15 Prozent der Bevölkerung, mit diesem Wert ist er noch immer der populärste Politiker des Landes.
Unter seinen 40 Konkurrenten bei der Präsidentschaftswahl finden sich Repräsentanten der Warlords, der ehemalige Taliban-Kommandant Mullah Abdul Salam Rocketi, Akademiker mit politischen und diplomatischen Erfahrungen wie Ramazan Bashardost und sogar zwei Frauen. Doch einer Umfrage des National Center for Policy Research an der Universität Kabul zufolge wollen zwar 80 Prozent der Wahlberechtigten zur Abstimmung gehen, 60 Prozent erwarten aber, dass die Wahlen nicht frei und fair sein werden. Der Wahlkampf bestärkt solche Befürchtungen.
Denn an sich sollte man annehmen, dass ein extrem repressives Ehegesetz die Frauen gegen Karzai aufbringt, doch verließ sich der Präsident offenbar auf die Befehlsgewalt der Männer. Seine Angebote richten sich vornehmlich an Warlords und lokale Machthaber, von denen Karzai erwartet, dass sie die benötigten Stimmen zuverlässig liefern werden.
Dass ein solches System der Stabilisierung und der Entwicklung nicht zuträglich ist, scheint sich unter den westlichen Regierungen langsam herumgesprochen zu haben. Die Kritik an Karzai wird stärker, eine realistische personelle oder politische Alternative haben die USA und die Nato allerdings nicht. Es gibt jedoch Anzeichen für einen möglichen change. Barack Obama will möglicherweise die Ermordung von 2 000 Gefangenen Ende 2001 untersuchen lassen, die Dostum zu verantworten hat (Jungle World, 29/09). Die juristische Verfolgung von Kriegsverbrechen würde alle Warlords hinter Gitter bringen, birgt aber auch Risiken. So weist das Icos darauf hin, dass die 40 000 Milizionäre der National United Front »die bereits brüchige Sicherheitslage weiter komplizieren« könnten.
Die bislang bedeutendste Strategieänderung wurde recht diskret behandelt, vermutlich um keine größere Empörung unter den dogmatischen Drogenbekämpfern im US-Kongress und internationalen Organisationen wie der WHO zu provozieren. Ende Juni gab die US-Regierung beim G8-Gipfeltreffen in Italien bekannt, dass sie ihre Drogenpolitik in Afghanistan ändern wird. Die Vernichtung von Opiumfeldern sei »Geldverschwendung«, sagte Richard Holbrooke, der US-Gesandte für Afghanistan und Pakistan, sie habe »die Einnahmen der Taliban nicht um einen Dollar reduziert, sondern den Taliban geholfen«. Fortan soll nur noch der Handel bekämpft werden, den Bauern soll es mit Hilfsprogrammen erleichtert werden, sich für andere Agrarprodukte zu entscheiden. Antonio Maria Costa, der Direktor des United Nations Office on Drugs and Crime, unterstützt die neue Politik.

Mindestens die Hälfte des afghanischen Bruttosozialprodukts hängt von der Opiumproduktion ab. Während einer Weltwirtschaftskrise ein Land zu entwickeln, in dem es kaum eine Kapitalakkumulation gibt und die Lohnabhängigkeit nicht das wichtigste Prinzip der gesellschaftlichen Ordnung ist, wäre schwierig genug, auch wenn man sich nicht bemüht, den wichtigsten Wirtschaftszweig zu zerstören. Die seit mehr als fünf Jahren in Expertenkreisen debattierte Idee, das Opium direkt von den Bauern zu kaufen und für die Produktion von Medikamenten zu verwenden, hat auch Barack Obama bislang nicht aufgegriffen.
Vorläufig wird Afghanistan daher von der illegalen Opiumwirtschaft und ausländischen Hilfszahlungen, der zweiten bedeutenden Einnahmequelle, abhängig bleiben. Während von der Opi­um­produktion Taliban und regimetreue Warlords profitieren, haben die Hilfszahlungen eine Klientel von Unternehmern, »Experten« und Lohnabhängigen geschaffen. Diese Abhängigkeiten prägen die Politik und behindern die gesellschaftliche Demokratisierung. Wenn nun auch noch, wie es neben der afghanischen auch die britische Regierung vehement fordert, »gemäßigte« Taliban integriert werden sollen, wird die Distanz zwischen der »Islamischen Republik« und dem jihadistischen Emirat noch geringer.