Der Dokumentarfilm »Hotel Sahara«

Den großen Berg aus Sand im Kopf

Bettina Haasen porträtiert in der Doku »Hotel Sahara« illegale Migranten im mauretanischen Nouadhibou.

Wir sind jung, stark und motiviert.« Der 22jährige Valtis aus Kamerun weiß, wie man die Afrikaner seiner Generation charakterisiert. Wie seine Altersgenossen, die Bettina Haasen in ihrem Film »Hotel Sahara« porträtiert, ist er auf dem Sprung nach Europa. Und wie Zehntausende anderer ist er in der Stadt Nouadhibou im westafrikanischen Mauretanien klebengeblieben. Die Überfahrt ist zu teuer. »Casa­blanca des 21. Jahrhunderts« ist der Schimpf- wie Spitzname der Stadt.
Nouadhibou ist für die Reisewilligen des ganzen Kontinents oft die letzte Station vor dem großen Sprung. Hier steigen sie in die klapprigen Boote der Schlepper und hoffen, dass sie heil auf den 1 000 Kilometer entfernten Kanarischen Inseln ankommen. Mit erschütternden Bildern von fast oder ganz Ertrunkenen geht diese Reisewelle einher. Denn Europa hat sich gegen legale Einwanderung abgeschottet, der illegale, oft todbringende Weg über das Meer ist der einzig mögliche.
Mit diesem Aspekt beginnt Haasens Dokumentarfilm und präsentiert Material aus den Überwachungskameras der Hubschrauber der spanischen Guardia Civil, bevor sie mit den Leuten redet.
Die Idee zu diesem Film sei ihr in Agadez, Niger, gekommen, wo sie zwischen 2001 und 2004 als Entwicklungshelferin gearbeitet habe, berichtet die Regisseurin. Sie habe täglich die LKWs gesehen, die durch die Stadt in Richtung Libyen unterwegs waren. In Agadez gebe es auch ein Hotel mit dem Namen »Hotel Sahara«. Sie habe sich mit dem Manager angefreundet und so Zugang zu den Durchreisenden bekommen. Daraus ist zunächst ein Buch entstanden und dann das Treatment für einen Dokumentarfilm. Im Anschluss recherchierte sie die Migrationsrouten und begann sich für das mauretanische Nouadhibou zu interessieren.
Mit 90 000 Einwohnern ist Nouadhibou die zweitgrößte Stadt Mauretaniens. Die frühere französische Kolonie zählt zu den ärmsten Ländern der Welt, und deshalb ist die Emigration dort immer schon ein wichtiges Thema gewesen. Mauretanien hat aber auch mit die größten Fischbestände Westafrikas: 2006 wurde deshalb ein für sechs Jahre gültiges Abkommen zwischen der Europäischen Union und Mauretanien abgeschlossen. Den industriellen Fangmethoden von Europas Fischereiflotten sind die ansässigen Fischer nicht gewachsen. Die maroden Boote werden immer häufiger an Schlepperbanden vermietet oder verkauft.
Hauptwirtschaftszweig ist neben der Fischerei die Eisenerzverarbeitung und -verladung. Und der Menschenhandel, wie die Filmemacherin lapidar zeigt. Die Bootsfahrt zu den Kanarischen Inseln ist gefährlich und teuer. Trotzdem riskieren die Migranten ihr Leben auf einer mehrtägigen Überfahrt – zu horrenden Preisen. Jede Woche spült das Meer weitere Leichen an. Dem Militärpiloten Sebastian von der Organisation Frontex, die die Migration bekämpfen soll, ist das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben. »Wir sehen vielleicht ein Boot«, sagt er. »Dann ist es wieder weg.« Und als nächstes finde man Tote.
Dass der Sicherheitsapparat die illegale Migration bekämpft, heißt aber noch lange nicht, dass Europa nicht von ihr profitieren würde. Denn das Reservoir billiger Arbeitskräfte wird durchaus gebraucht – Europa lebt gut mit den pauperisierten Massen des Südens, deren Zukunft nur im Traum existiert, wie es im Film einmal heißt.
Die Illegalen halten, wenn sie durchkommen, die spanischen Obstplantagen am Laufen. Und sie mucken auch nicht auf in Sachen Lohnhöhe und Arbeitszeit.
In der Politik und den Medien werde dieser Effekt gern unterschlagen, sagt Haasen. Das Bild des Hungerleiders Afrika sei einfach zu praktisch, um es aufzugeben.
Diesen Kontext im Hintergrund, lässt Haasen die im wahrsten Sinne des Wortes Gestrandeten aus der Subsahara-Zone sprechen, den Pfarrer und den Sicherheitschef. Stumm und überwältigend illustrieren Dünenlandschaft und rostige Schiffe die Aussagen – »Hotel Sahara« ist ein in seiner Fotografie und Montage herausragender Film, der die Geschichte der Migration von unten erzählt.
Wer kommt hierher und warum? Die Überlegungen, von denen die meist jungen Migranten erzählen, wirken, als nähmen sie den europäischen Traum ernst. Sie sprechen von Reichtum, Glück und besserem Leben. Ebenso aber sind die Statements geprägt von Pflichtbewusstsein gegenüber den Angehörigen: »Ich kann mich doch zu Hause unmöglich sehen lassen, wenn ich scheitere.«
Es sind nicht wenige, die die Reise schon begonnen hatten. Die Wellen schlugen ins Boot, es wurde Salzwasser getrunken, wer überlebt, hat Löcher im Magen. Und doch soll der nächste Versuch gestartet werden. Denn oft hat die Familie auch ihr Hab und Gut versetzt, um die Reise zu ermöglichen. »10 500 Euro haben meine Eltern für meine Reise bezahlen müssen«, sagt Chichi, eine junge Frau aus Nigeria. »In Europa verdient man in einem Monat mehr als in einem Jahr in Afrika«, sagt Dikou aus dem Senegal. »Ich wollte kein Opfer der Gesellschaft sein«, erzählt Valtis. Der Grund, den er für seine Reise nennt, ist zugleich das Credo der Marktwirtschaft: »Ich wollte mich selbst verwirklichen.« Wer wollte ihm dieses Ziel allen Ernstes streitig machen?
Die jungen Männer träumen davon, Fußballstars zu werden – Graffiti mit Namen berühmter Sportler zieren die Wände der Stadt. Chichi sagt: »Ich brauche jemanden, der mit mir plant, erfolgreich zu sein.«
Vorerst sitzt sie in einer kahlen Zelle. Dass in Nouadhibou alles seine Ordnung hat und die Illegalen im örtlichen Auffang- bzw. Abschiebelager landen, dafür sorgt Sicherheitschef Ould Amar. »Wir helfen den Menschen, indem wir sie ins Lager bringen«, da ist er sich sicher. Und: »Wir spielen für niemanden Polizei. Wir führen Anweisungen durch.« Der örtliche Migrationsbeauftragte sagt: »Migration ist gut, wenn sie legal ist.« Auch das Auffanglager hat einen Spitznamen: »Guantanamo«.
Die Internierten dort können vor allem eines nicht verstehen: Warum Westeuropäer überall hingehen können, sie aber nicht. Der Pfarrer thematisiert dies immer wieder in seinen Predigten: »Ihr habt eure Heimat verlassen, um das Leben zu suchen«, erklärt er den Betenden in seiner Kirche. »Oder vielleicht, um zu reisen? Aber nicht jeder kann sich frei bewegen. Manchmal kommen die Europäer hier an und fahren mit dem Fahrrad durch Afrika. Die können sogar mit dem letzten Schrott hier rumeiern und keiner regt sich auf. Wenn wir nach Europa wollen, heißt es: Visum, Hin- und Rückfahrtticket, Papiere, Papiere, Papiere. Die Heiligen drei Könige sind auch gereist. Haben die Papiere gebraucht? Nein. Die waren frei.«
Reisen bildet; es ist nicht das einzige Mal, dass der Film mit angeschrägten Einsichten aufwartet. Der 34jährige Sidduthi, der schon einmal in Spanien gearbeitet hat, dann aber abgeschoben wurde, ist der Meinung, dass man in Europa viel lernen kann: »Sprache, Kultur und Playstation.«
Früher hätten sich die Europäer der Sklaverei bedient, heute eben der illegalen Migration, erklärt ein Fischer am Strand: »Afrika baut Europa auf.«
Es brauche eine Revolution – auf dem ganzen Kontinent. Die Afrikaner hätten jetzt nur Europa, den großen Berg aus Sand, im Kopf. Es sei an der Zeit, dass dies anders werde.
Die Fische, die er fängt und zerlegt, zeigten sinnbildlich den Ist-Zustand, sagt er: »Die frischen gehen nach Europa. Die vergammelten nach Nigeria.«

»Hotel Sahara«. D 2008. Regie: Bettina Haasen. Start: 6. August 2009