Kämpfe und Massaker in Nigeria

Die Stille vor dem Schuss

Hunderte mutmaßliche Islamisten starben bei Kämpfen und einem darauf folgenden Massaker des Militärs im Norden Nigerias.

Dem nigerianischen Militär war offensichtlich nicht daran gelegen, Gefangene zu machen. Die harsche und unerbittliche Antwort auf die Angriffe auf Polizeistationen und andere staatliche Einrichtungen durch militante Islamisten im Norden des Landes kostete Schätzungen zufolge zwischen 300 und 600 Menschen, zumeist mutmaßlichen Aufständischen, das Leben. Die Kämpfe hatten am vergangenen Sonntag begonnen und sich schnell ausgebreitet. Tausende flüchteten aus ihren Häusern in den Bundesstaaten Borno, Bauchi, Kano und Yobe.
Die Milizen standen mit selbst gemachten Gewehren, Macheten, Krummsäbeln und Bögen der gut ausgerüsteten Armee gegenüber. Von »Gefechten« (FAZ, Spiegel online) konnte dabei nicht die Rede sein. Eher handelte es sich um eine brutale Vergeltungsaktion des Militärs, wie sie in Nigeria nicht unüblich ist und in diesem Fall vom Präsidenten Umaru Yar’Adua de facto angeordnet wurde.

Die Gruppe, die für die ersten Angriffe verantwortlich gemacht wird, ist unter den Namen al-Sunna wal Jamma (Anhänger der Lehren Mohammeds) und Boko Haram bekannt. Bei einigen nigerianischen Offiziellen, in vielen westlichen Medien und auch, mit spöttischem Akzent, in der Bevölkerung Nigerias ist die Bezeichnung »Taliban« gebräuchlich. Als Ziele der Islamisten gelten allgemein die Anwendung der Sharia in ganz Nigeria, dessen 140 Millionen Einwohner je zur Hälfte dem Islam oder dem Christentum anhängen, und die strenge Trennung von Männern und Frauen. Sie sind feindlich gegenüber westlicher Bildung und Wissenschaft eingestellt. Die seit 1999 in zwölf nördlichen Bundesstaaten eingeführte Sharia-Gerichtsbarkeit gilt ihnen als zu lax.
Ob es Verbindungen zu international agierenden Jihadisten gibt, ist zweifelhaft. Den Nährboden für die Milizen, denen vor allem Jugend­liche und Studenten sowie ehemalige Univer­sitätsdozenten angehören sollen, bereitet die soziale und wirtschaftliche Misere im westafrikanischen Ölstaat sowie eine politische Kultur, die geprägt ist durch oligarchische Strukturen, Klientelismus und offene Gewalt. Für eine wachsende Zahl von Nigerianern im Norden scheint eine strikte Religionsdiktatur offenbar attrak­tiver zu sein als die derzeitige gesellschaftliche Situation.
Boko Haram, so erklärt der Historiker und Anthropologe Murray Last, der sich seit fast fünf Jahrzehnten mit der Region beschäftigt, der Jungle World, sei nur eine von vielen derartigen Gruppen, die sich im Laufe der vergangenen fünf bis zehn Jahre gebildet hätten. »Sie beziehen ihre Rekruten unter den Arbeitslosen mit ›westlicher Ausbildung‹, die nach Jahren des Studiums bemerken, dass sie sozusagen nicht beschäftigungsfähig sind«, schreibt Last in einer Mail aus der nordnigerianischen Stadt Kano. »Also wenden sie sich dem zu, das ihrem Leben einem Sinn gibt: einer muslimischen Gruppe, die verspricht, für die Reformierung Nigerias zu kämpfen und das Land vor all den westlich ausgebildeten Eliten zu retten, die es korrumpiert haben.« Ohne Perspektive erwarte die meisten jungen Leute die Erniedrigung eines Lebens ohne Arbeit und eigene Familie. Der religiöse Fundamentalismus stelle ein »sehr nordnigerianisches Problem« dar.

Dem Anführer der Islamisten, Mohammed Yusuf, gelang am Donnerstag vergangener Woche mit 300 Anhängern während einer Großoffensive des Militärs in Maiduguri, Hauptstadt des Bundesstaates Borno, zunächst die Flucht. Am Nachmittag dann wurde er gefasst. Wenige Stunden nach Yusufs Festnahme verkündete die Polizei den Tod des gebildeten Enddreißigers. Auf einem Journalisten vorgeführten Video gestand Yusuf Berichten zufolge, für die Aktionen der vergangenen Tage verantwortlich zu sein, und bedauerte das. Die darauf folgende Einstellung zeigte ihn erschossen am Boden liegend. Zuvor war die Zuflucht der Gruppe vollständig zerstört worden. Bei Razzien in der Stadt und ihrer Umgebung wurde eine unbekannte Zahl mutmaßlicher Anhänger verhaftet. Associated Press berichtete, in Maiduguri würden sich Männer die Bärte stutzen oder ganz abrasieren, um Angriffen der Sicherheitskräfte zu entgehen.
Seit 2004 kommt es im Norden Nigerias in regelmäßigen Abständen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Militär und Polizei, für die bewaffnete Gruppen religiöser Fundamentalisten verantwortlich gemacht werden. Der unmittelbare Auslöser der jüngsten Kämpfe und Militärschläge ist bisher nur zum Teil klar. Die New York Times berichtete von einem Polizeiangriff auf einen Trauerzug der Islamisten am 11. Juni, bei dem 17 Menschen ums Leben gekommen sein sollen. Yusuf habe daraufhin mit Vergeltung gedroht. Am 24. Juli dann hätte die Polizei bei einer Razzia nahe Maiduguri Kampfausrüstung sichergestellt, zwei Tage später sei mit dem nächtlichen Angriff auf eine Polizeistation der Gegenschlag der Miliz gefolgt.
Seit 1999 sind Schätzungen zufolge mehr als 10 000 Menschen in Nigeria bei gewaltsamen Konfrontationen ums Leben gekommen. Der Kampf um den Zugang zu Land, Ressourcen und politischen Ämtern nimmt in einigen Regionen, in denen Muslime und Christen Nachbarn sind, religiöse Formen an. Im November vergangenen Jahres erst wurden beispielsweise Hunderte bei Auseinandersetzungen in der Stadt Jos im Bundesstaat Plateau getötet. Nach Berichten von Human Rights Watch ermordeten Polizei und Militär im Anschluss an die Riots willkürlich Einwohner von Jos. Die Organisation dokumentierte 118 dieser Morde allein zwischen sieben und 13 Uhr am 29. November 2008.

Der bewaffnete Kampf gegen den nigerianischen Staat erfuhr im Verlauf der vergangenen fünf Jahre sowohl im Norden als auch im Süden des Landes einen beträchtlichen Aufschwung. Doch die Grenzen zwischen staatlichen Institutionen und Aufständischen sind alles andere als klar gezogen. Die Bewegung für die Emanzipation des Nigerdeltas (Mend), eine Dachorganisation für mehrere bewaffnete Gruppen im ölreichen Süden, steht in enger Verbindung zu politischen Unternehmern auf der lokalen, regionalen und nationalen Ebene.
Es ist davon auszugehen, dass auch die islamistischen Gruppen im Norden ihre Kontakte innerhalb des Staatsapparats pflegen. Ein nigerianischer AFP-Journalist berichtete, in der Bevölkerung sei die Ansicht weit verbreitet, der Staat habe die Fundamentalisten so lange gewähren lassen, weil »einige von ihnen aus reichen Fa­milien kommen, die Verbindungen zur Regierung haben«. Die Einführung der Sharia im Norden wie auch die Forderung nach Ressourcenkontrolle im Nigerdelta sind nicht zuletzt ein Faustpfand lokaler Oligarchien in der Auseinandersetzung mit der Zentralregierung über die Autonomie ihrer jeweiligen Region.
In einem kürzlich auf einer internationalen Konferenz in Leipzig vorgestellten Dokument argumentierte Murray Last, dass der Widerstand gegen den Staat im Norden Nigerias generell »langfristig und beharrlich, kaum hörbar« sei. Er halte es angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse für »rational und logisch«, sich verstärkt der Religion zuzuwenden. Die jüngsten Angriffe auf öffentliche Einrichtungen, schreibt er, würden seine These zum Rückzug und zur Abkopplung vieler Menschen vom nigerianischen Projekt bestätigen, wenn auch auf einem extremen Niveau: »Die Stille konnte nicht länger ertragen werden, etwas ›Lautes‹ musste passieren – aber, gebe ich zu, zu welchem Zweck?« schließt Last seine Antwortmail an die Jungle World.
Es zeigt sich in Nordnigeria in diesen Tagen einmal mehr, dass der Aufschwung des Islamismus trotz all seiner internationalen Dimensionen ohne die Berücksichtigung der verheerenden sozialen und politischen Gegebenheiten vor Ort nicht verstanden werden kann. Noch mag es eine kleine Minderheit sein, die in dem westafrikanischen Land gewaltsam gegen alles als »westlich« Empfundene vorgehen will. Doch die Krise der etablierten, gerontokratischen Herrschaftsstrukturen und die fortgesetzte Missachtung elementarster Menschenrechte durch die tonangebende, vom Westen hofierte Oligarchie könnten bald für eine noch stärkere Ausbreitung der bewaffneten Aufstände in ganz verschiedenen Formen sorgen.