Des Bürgers erste Pflicht
Kennen Sie Jörn Thießen? Noch vor einem Jahr hätte kein Grund bestanden, eine solche Frage überhaupt zu stellen, denn der SPD-Bundestagsabgeordnete, der sich als Mitarbeiter im Büro von Björn Engholm und Rudolf Scharping seine Sporen verdient hat, einige Jahre Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr war und seit 2007 Sektenbeauftragter seiner Fraktion ist, gehört zu jenen Repräsentanten der deutschen Parteiendemokratie, die für medienwirksame Auftritte zu farblos und für profilierte politische Arbeit zu durchschnittlich sind, so dass von ihrem Wirken niemand Notiz nimmt. Aus Anlass der rekordverdächtig niedrigen Wahlbeteiligung bei den jüngsten Europa-Wahlen landete Thießen jedoch im Juni einen Coup, der ihn zum Gesprächspartner der Bild-Zeitung avancieren ließ. Er forderte die Einführung einer Strafgebühr für Nichtwähler in Höhe von 50 Euro, um die politikmüden Landsleute an ihre moralische Verpflichtung zu erinnern.
Thießens Einfall war so offensichtlich hirnrissig, dass sich selbst in seiner eigenen Partei keine Fürsprecher finden wollten und der Vorschlag so schnell wie möglich als »Einzelmeinung« zu den Akten gelegt wurde. Auch das »Volksempfinden« kehrte sich sofort gegen den Sozialdemokraten, der als besonders dreister Vertreter einer bürgerfernen Politikerkaste abgewatscht wurde, deren Tätigkeit sich längst nur noch in »Lobbyarbeit« erschöpfe und die von dem, was die »Menschen im Lande wirklich bewegt«, keine Ahnung habe. Eine befremdliche Reaktion, hatte doch Thießen im Grunde nur ausgesprochen, was seit Gründung der Bundesrepublik als fester Bestandteil postfaschistischer deutscher Ideologie gelten kann: dass die Beteiligung an Wahlen für jeden Wahlberechtigten erste Bürgerpflicht ist und jene, die sich ihr entziehen, als egoistische Schädlinge des »Gemeinwohls« gemaßregelt werden müssen. Nicht umsonst erinnert Thießens Vorschlag an die Strafgebühr für Schwarzfahrer: Hier wie dort wird ein Delikt geahndet, das als Straftat zu verfolgen verwaltungstechnisch zu aufwändig und juristisch problematisch wäre, das aber doch als Verstoß gegen die Regeln des Gemeinwesens verfolgt werden müsse. Wer sich am Wahlsonntag bis Mittag im Bett herumdrückt, statt brav zu den Urnen zu marschieren, der soll dabei zumindest ein schlechtes Gewissen haben. Denn wer nicht wählen geht – das wissen selbst die, die sonst vom deutschen Wahlsystem keine Ahnung haben –, der hilft letztlich nur den »Extremisten«, indem er auf die Möglichkeit zur Mitbestimmung verzichtet, die unsere Demokratie ihm bietet.
Es ist eine Besonderheit des bundesdeutschen Parteiensystems, dass es als Motivation zur Beteiligung an Wahlen nicht ausreicht, auf das Eigeninteresse der Individuen zu verweisen. Im Gegenteil gilt sogar als verdächtig, wer eine Partei erklärtermaßen nur deshalb wählt, weil sie die eigenen Interessen am besten vertritt. Es gehört zu den Erblasten der jüngeren Parteien, dass die Bindung an Partikularinteressen in ihnen stets offensichtlicher gewesen ist als in den großen Volksparteien. Während die Grünen jedoch sehr schnell das Kunststück fertigbrachten, ihre spezifischen Themen wie Umwelt- und Klimaschutz, Pazifismus oder Frauenemanzipation als dem »Gemeinwohl« dienlich zu vermarkten, sehen sich die Freien Demokraten bis heute dem stereotypen Vorwurf ausgesetzt, ein Interessenverband mitleidloser und asozialer Heuschreckenzüchter zu sein, deren Politik dem Interesse der Allgemeinheit zuwiderlaufe. Erfolge konnte die Partei dagegen immer dann einfahren, wenn sie – wie nun wieder mit dem Schlagwort der »Wirtschaftskompetenz« – ihre Kernthemen auch dem kleinen Mann von der Straße als relevant darzustellen vermochte. Auf diese Weise sind inzwischen sogar die kleineren Parteien allesamt zu virtuellen Volksparteien mutiert, während die alten Volksparteien, die sich zunehmend als »Schlachtschiffe« oder »Altherrenvereine« diffamiert sahen, die Themen der Konkurrenz in ihre Wahlprogramme integrierten, um nicht vollends den Anschluss zu verlieren. Der Stimmenverlust, den SPD und CDU seit Jahren gegenüber den Zahlen der klassischen Epoche der Volksparteien zu verzeichnen haben, reflektiert diese Veränderung.
Wenn am Monatsende in Thüringen, Sachsen und im Saarland gewählt wird, dürften die alten Affekte gegen »Interessenpolitik« und für das »Gemeinwohl« unter neuen Bedingungen reanimiert werden. In den Ländern der ehemaligen DDR ist es vor allem die NPD, die als – leider oft buchstäblich zu verstehendes – Totschlagargument für die Teilnahme an der Wahl herhalten darf. Wer in Regionen, in denen die Nazis sich als basisdemokratischer Hilfstrupp zwecks Erhalt des sozialen Netzes empfehlen, nicht Farbe bekenne und gegen die Rechten votiere, der überlasse ihnen die Straße, so mahnen Christ- und Sozialdemokraten in antifaschistischem Brustton. In Regionen jedoch, in denen so gut wie keine bürgerliche Öffentlichkeit existiert und die Institutionen zivilen Lebens derart zerrüttet sind wie vielerorts in den neuen Bundesländern, findet »gelebte Demokratie«, wie man sie in Deutschland versteht, eben tatsächlich primär in Form ritualisierter Sauforgien und spontaner Pogrome statt. Gerade in jenem »direkten Kontakt mit den Menschen«, der zur Leitideologie des deutschen Volksparteienmodells gehört, können CDU und SPD mit den neonazistischen Sozialarbeitern, die tatsächlich wissen, was ihre Kunden wünschen, nicht konkurrieren. Vielmehr wäre es an der Zeit, zu erkennen, dass der »nationale Sozialismus«, der in manchen Regionen der neuen Bundesländer längst die Straße regiert, unmittelbar zu verwirklichen droht, was im populistischen Jargon der Volksparteien »Gemeinwohl« heißt.
Sympathisch an den großen Volksparteien traditioneller Couleur war im Sinne demokratischer Erziehung gerade nicht ihre Orientierung am »Gemeinwohl«, sondern die Tatsache, dass es sich dabei großteils um Ideologie, nicht um unmittelbare Praxis handelte. Demokratien, in denen Bürger »ihren« Politikern misstrauen, weil diese angeblich ihre eigene und nicht die Sache »der Menschen« vertreten, können gegenüber jener verwirklichten Volksdemokratie, von der nicht nur in zonalen Randgebieten inzwischen wieder offen geschwärmt wird, als das humanere Modell gelten. In den USA wäre die Erkenntnis, dass Politiker sich nicht am »Gemeinwohl« orientieren, sondern Lobbyismus betreiben, die hierzulande als provokante Parole herausposaunt wird, den meisten Bürgern nichts als ein Achselzucken wert. Dort nämlich wird die Beteiligung an Wahlen eben nicht als moralische Bürgerpflicht, sondern bestenfalls als Teilmaßnahme im alltäglichen Kampf für die eigenen, wie immer auch egoistischen Interessen betrachtet. Insofern gehört die Aufgabe, konkrete Interessen notfalls auch gegen das »Gemeinwohl« zu vertreten, dort geradezu zu den Pflichten eines verlässlichen Politikers. In Deutschland dagegen gilt als besonders volksnah, wer die Wahrnehmung individuellen Eigeninteresses publikumswirksam als Schmarotzertum verunglimpft und jeden Einzelnen zum heroischen Verzicht animiert. Die Vermittlungsaufgabe, die sich den Volksparteien zwecks Erhalts ihrer unterschiedlichen Wählerschichten noch immer stellt und die ihrer ideologischen Funktion, der Liquidierung des Eigeninteresses, im Grunde zuwiderläuft, ist insofern ihr letztes demokratisches Rudiment.
Aus dieser Perspektive erklärt sich, weshalb die wütenden Vertreter eines Wahlboykotts mindestens ebenso unsympathisch sind wie die Verteidiger der Wahl als Bürgerpflicht. Nicht dass ihnen die Wahl als moralischer Imperativ verkauft werden soll, stört sie im Innersten, sondern die Tatsache, dass solche Pflicht von den falschen Leuten, nämlich den bürgerfernen Politbürokraten, den Lobbyisten und Karrieristen, gepredigt wird. Wären diese nur volksnah und basisdemokratisch genug, die berufsmäßigen Wahlkampfboykotteure wären die ersten, ihr Kreuzchen zu machen. Das Boykottbündnis »Keine Wahl«, das sich rechtzeitig vor der anstehenden Bundestagswahl formiert und bereits ein eigenes »Wahlboykott-Postfach« zur Entfernung von Wahlformularen eingerichtet hat, fordert auf seiner Internetseite konsequent »Selbstorganisation statt Stellvertreter\_innenpolitik«, denunziert »die selbsternannten politischen Vertreter\_innen« parteienübergreifend als Agenten der »Eigentums- und Machtverhältnisse« und scheut sich nicht einmal, sich zur Unterfütterung solch primitiven Unfugs auf die Demokratiekritik Johannes Agnolis zu berufen.
Stolz werden dort außerdem kreative »Interventionen« dokumentiert, bei denen Wahlplakate vermeintlich zur Kenntlichkeit entstellt wurden, indem etwa ein Wowereit-Porträt mit dem Slogan »Wir bauen weiter an einer Stadt, in der Bildung stark vom Geldbeutel abhängt« zusammenmontiert wurde. Mit solcher negativen Fixierung auf die bekannten Politgrößen und deren Programm stellt man vollends unter Beweis, dass es mit der vielberufenen »Selbstorganisation« nicht weit her ist und man wie alle anderen die Lösung aller Probleme von den herrschenden Autoritäten erwartet. Dass die Kampagne von »Linken« initiiert wurde, ist nur noch an Nuancen, etwa an den typischen Sprachentgleisungen, zu erkennen. Hier erlangt der Wahlboykott tatsächlich eine ähnliche Funktion wie das in solchen Kreisen ebenfalls beliebte Schwarzfahren: Gerade indem man sich verweigert und auch noch ostentativ stolz darauf ist, demonstriert man, wer eigentlich »die Menschen« vertritt, die dessen Sachverwalter täglich verraten. Wem es ernst ist mit der Freiheit, der sollte solche Boykotteure boykottieren. Wenn der Wahlsonntag kommt, ist Boykott dagegen gar nicht nötig – es genügt, einfach nicht hinzugehen.