Kapitalismus ohne Arbeit

Kapital braucht Arbeit

Eine Rückkehr zum auf Arbeit gegründeten Kapitalismus wird es nicht geben. Das wissen Politiker wie Wähler. Und dennoch: Die Politiker behaupten es, und die Wähler wählen sie dafür.

»Arbeit muss sich wieder lohnen«, heißt es auf den aktuellen Wahlplakaten der FDP. Seit Jahrzehnten wird dies auf deutschen Wahlplakaten proklamiert. Die SPD verspricht in diesem Jahr: »Die SPD kämpft für Arbeitsplätze«. »Jobs, Jobs, Jobs«, heißt es auf den Plakaten der Grünen. Mit der gleichen Prioritätenliste werben auch alle anderen Parteien. Ist also alles wie immer? Nicht so ganz.
Schon dass an die Stelle des mit sakraler Bedeutung aufgeladenen deutschen Wortes »Arbeit« der profane Anglizismus »Job« gerückt ist, deutet an, wohin die Reise geht. Früher siegte die SPD noch mit dem Versprechen, künftig würden auch die Arbeitskraftverkäufer ihren Anteil an der Scheinblüte des Kapitalismus abbekommen. Schröder legte sich auf konkrete »Beschäftigungsziele« fest, an denen er gemessen werden wollte.

Angesichts der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise fallen die Ziele weit bescheidener aus. Der Kreis derer, die sich Hoffnungen auf Teilhabe am kapitalistischen Betrieb machen dürfen, schrumpft, und auch was das »Anspruchsniveau« angeht, besteht weiterer Korrekturbedarf. Gleichzeitig hat sich das ideologische Szenario enorm verändert, in dem der Primat der Beschäftigung beschworen wird.
Seit dem Finanzmarktcrash im Herbst vorigen Jahres wettert alles gegen die verantwortungslosen Banken, und kein Kommentator nimmt mehr einen Begriff wie »Hedgefonds« in den Mund, ohne sich zu bekreuzigen. Über Jahrzehnte war es um den Gegensatz zwischen dem guten »schaffenden Kapital«, dem Zwillingsbruder der Arbeit, und dem bösen »raffenden Kapital«, deren vermeintlichem Todfeind, still geworden. Heute verurteilt man den Finanzmarktkapitalismus, damit der verrückten kapitalistischen Produktionsweise auch noch angesichts ihrer Krise ein Persilschein ausgestellt werden kann.
Das Comeback geht allerdings mit einer Bedeutungsverschiebung einher. Einst stand das »raffende Kapital« für die Auspressung der Arbeit, die ihrerseits als die eigentliche gestaltende gesellschaftliche Kraft gefeiert wurde. Heute hat sich das Arbeitspathos längst verflüchtigt, während die primäre Furcht, die sich am Spekulationskapital festmacht, die vor der Marginalisierung der Arbeit ist. Das Wort Ausbeutung taucht zwar noch in ideologischen Reden auf, dahinter steckt aber in erster Linie die Angst, vom kapitalistischen Standpunkt aus überflüssig zu sein bzw. zu werden.

Die Politiker machen beim Spekulanten-Bashing munter mit, und doch handeln sie entgegen ihren ideologischen Verlautbarungen. Von der CDU bis tief in die Partei »Die Linke« hinein herrscht Konsens darüber, dass die Notverstaatlichung des maroden Bankensystems unumgänglich war. Während darüber schwadroniert wird, das verselbständigte Finanzkapital zu regulieren, wird alles getan, um die Dynamik fiktiver Kapitalschöpfung wieder in Gang zu kriegen, diesmal, der Beschäftigung wegen, mittels einer globalen Staatsblase. Die Begründung dafür hat Peer Steinbrück (SPD) schon vor einem Jahr geliefert. Das müsse sein, weil die einzige Alternative dazu »die Apokalypse« wäre.
So viel ist an dieser dem Crashzeitalter angepassten Neuinterpretation des Tina-Prinzips (There is no alternative) berechtigt: Immer vorausgesetzt, der Kapitalismus würde die einzig denkbare gesellschaftliche Ordnung darstellen und soziales Leben wäre nur innerhalb der kapitalistischen Logik möglich, würde das Ende des ungeliebten Finanzmarktkapitalismus tatsächlich unweigerlich den Super-Gau bedeuten. Spätestens mit der mikroelektronischen Revolution hat die Produktivitätsentwicklung den Punkt überschritten, an dem es für diese Gesellschaft noch möglich ist, auf der elenden Grundlage der massenhaften Vernutzung lebendiger Arbeit zum Zwecke der Kapitalverwertung weiter zu funktionieren.
Schon Marx hatte unter anderem im so genannten Maschinenfragment herausgearbeitet, warum das System der abstrakten Arbeit mit der Verwissenschaftlichung der Produktion seine historische Grenze erreicht. Aus dieser Prognose ist indes längst eine Diagnose geworden. Der Kapitalismus hat sich nur dadurch über sein historisches Verfallsdatum hinaus retten können, dass er sich mit der ständig ausgeweiteten fiktiven Reichtums­kreation an den Finanzmärkten eine höchst prekäre Ersatzbasis geschaffen hat. Das Ende der fiktiven Kapitalschöpfung kann für dieses System nie und nimmer die Rückkehr zu einem auf Arbeit gegründeten Kapitalismus bedeuten, sondern nur den Absturz ins Bodenlose.

Die politische Klasse kennt diese Zusammenhänge nicht und will sie nicht kennen, trotzdem trägt sie dieser historischen Konstellation auf ihre Weise praktisch Rechnung und tut das Gegenteil dessen, was sie propagiert: Weit davon entfernt, das Finanzkapital streng zu regulieren, wird der Staat zu dessen Hauptagent und tut alles, um die Schöpfung fiktiven Kapitals aufrecht zu erhalten. Diese höchst zwiespältige Haltung findet bei den Wählern durchaus Zustimmung, was sich leicht erklären lässt.
Das »Wahlvolk« ist in seiner überwältigenden Mehrheit nicht weniger zwiegespalten als seine Repräsentanten. Einerseits ist die Erbitterung über das kasinokapitalistische Treiben groß, andererseits steht die Unhintergehbarkeit der herrschenden Ordnung völlig außer Frage. Nicht nur der internalisierte vorauseilende Gehorsam gegenüber den Systemimperativen ist ungebrochen, man ahnt durchaus auch, worin diese Zwänge bestehen.
Zwei Verarbeitungsformen überlagern sich und prägen die Stimmung. Auf der einen Seite werden am laufenden Band Illusionen über die Möglichkeit eines Kapitalismus mit menschlichem Antlitz produziert und die strukturelle Abhängigkeit der glorreichen Marktwirtschaft wird von der Dynamik des fiktiven Kapitals wegphantasiert. Überall kursieren Phantombilder einer erneuerten Marktwirtschaft, in der ökonomische Prosperität gerade auf der Berücksichtigung ökologischer und sozialer Belange beruhen soll und in der die Arbeit eine Renaissance erlebt.
Auf der anderen Seite weiß auch das werte Publikum im Grunde sehr wohl, dass so etwas einer Quadratur des Kreises gleichkäme und wie abhängig Wachstum und Beschäftigung von der Aufrechterhaltung der so lautstark beklagten finanzmarktkapitalistischen Exzesse sind. Was die praktischen Konsequenzen angeht, endet die Kritik am Finanzkapital denn auch in den Wahlkampfdebatten auf der rein symbolischen Ebene. Gemessen an den Summen, die zur Rettung der HRE und anderer Geldinstituten aufgebracht wurden, dreht sich etwa die Boni-Debatte um Peanuts.
Je dramatischer die kapitalistische Entwicklung, je weitreichender die Folgen des staatlichen Krisenmanagements, desto langweiliger der politische Richtungsstreit. So macht es den Eindruck. Ende September wird jedenfalls der fadeste Bundestagswahlkampf seit 1949 enden. Noch nie waren die sachlichen Gegensätze so gering, selten war so früh absehbar, wer das Rennen auf das Kanzleramt für sich entscheiden dürfte. Die allgemeine Zustimmung zu Merkels Politik wird von Kommentatoren häufig auf ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis zurückgeführt. Gerade in turbulenten Zeiten, so heißt es, klammere sich »der Wähler« an das Bewährte und scheue vor gesellschaftlichen Experimenten zurück.
Diese Erklärung ist genauso wirklichkeitsfremd wie der laufende Wahlkampf. Zum einen hat sich das Bewährte nicht bewährt. Zum anderen erwartet kein Mensch ernsthaft von der kommenden Regierung einen Verzicht auf Experimente. Der moderne Kapitalismus ist nun einmal der größte Menschenversuch aller Zeiten, und zwar, wie spätestens seit dem Kriseneinbruch des vorigen Jahres klar geworden ist, ein völlig aus der Kontrolle geratener. Auch wenn es eigentlich keiner wissen will, hat sich das herumgesprochen.

Solange die prinzipielle Entscheidung zwischen der Fortsetzung und der geregelten Abwicklung der Frankensteiniade Kapitalismus erst gar nicht ins Auge gefasst wird, stehen unweigerlich weitere Experimente ins Haus. Das ist auch für die wahlberechtigten Versuchskaninchen ein offenes Geheimnis. Merkels Popularität beruht wesentlich darauf, dass sie mit ihrem auf Wahlkampfverzicht ausgerichteten Wahlkampf die vorherrschende Bedürfnislage besser trifft als die Konkurrenz. Das Gros der Wähler will die letzten schönen abwrackprämienkapitalistischen Tage genießen und bloß nicht hören, womit es längst rechnet und sich bereits abgefunden hat.