Über das letzte armenische Dorf in der Türkei

Die Überlebenden vom Berg des Moses

In einem Dorf in der türkischen Provinz Hatay leben heute Nachkommen der Überlebenden der »Vierzig Tage des Musa Dagh«. Ein Besuch im letzten armenischen Dorf der Türkei.

Wer die Geschichte nicht kennt, wird auf den ersten Blick nicht bemerken, dass sich Vakifli von anderen Dörfern der seit 1939 türkischen Provinz Hatay unterscheidet. Am Ortseingang heißt ein Schild Besucher auf Türkisch willkommen und weist darauf hin, dass hier biologische Landwirtschaft betrieben wird. Erst wer die kleine Dorfstraße am einzigen Teehaus vorbei bis zu einer Kreuzung fährt, kann an einem Hinweisschild erkennen, dass es geradeaus zum Kirchenviertel weitergeht. Spätestens vor der Kirche wird deutlich, dass es sich hier nicht um ein normales türkisches Dorf handelt. Vakifli ist die letzte noch existierende armenische Dorfgemeinde der Türkei.
Hier leben Nachkommen jener Armenier und Armenierinnen, deren Überlebenskampf der ­österreichische Jude Franz Werfel 1933 in seinem weltweit bekannten Werk »Die vierzig Tage des Musa Dagh« geschildert hat. Die Bewohner von sechs armenischen Dörfern um den »Mosesberg« (Musa Dagh auf Türkisch, Musa Leer auf Armenisch) hatten sich 1915 gegen ihre Depor­tation gewehrt und auf eine Plattform am Gipfel des Gebirgsmassivs zurückgezogen, die sich relativ leicht gegen die Angriffe der osmanischen Armee verteidigen ließ. Hier harrte die armenische Dorfbevölkerung aus. Die »vierzig Tage« waren in Wirklichkeit 53 Tage. Während dieser Zeit wurde die Versorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln immer katastrophaler, die Toten mussten vom Berg über eine steil abfallende Klippe ins darunter liegende Meer geworfen werden.

Die verzweifelte Bevölkerung rechnete schon mit ihrer Vernichtung, als die Besatzung eines französischen Kriegsschiffs sie bemerkte und zumindest jene aufnahm, die jung und gesund genug waren, um über die Steilhänge des Berges zum Meer zu kommen. 4 000 Überlebende wurden vorerst nach Port Said in Ägypten in Sicherheit gebracht.
Im Unterschied zu Entwicklungen in anderen Regionen der heutigen Türkei kehrten die Vertriebenen nach der Niederlage des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg und dem Sturz der für den Genozid an den Armeniern verantwort­lichen »Jungtürken« 1919 in ihre Herkunftsregion zurück. Die heutige Provinz Hatay mit ihrer arabischsprachigen Bevölkerungsmehrheit und ihrer Hauptstadt Antakya war mittlerweile Teil des französischen Mandatsgebiets Syrien geworden. Mit den lokalen Arabern hatten die Armenier nie Probleme gehabt und so entschloss sich der Großteil der Überlebenden zur Rückkehr. Noch einmal blühten die Dörfer am Mosesberg auf. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs gab jedoch Frankreich dem zunehmenden Druck der Türkei nach und trennte 1938 die Region von Syrien. Damit sollte die Neutralität der damals mit Deutschland sympathisierenden Türkei erkauft werden. Antakya und die armenischen Dörfer wurden 1939 an die Türkei angegliedert. Den Armeniern wurde angeboten, entweder nach Syrien oder in den Libanon auszuwandern oder in Zukunft unter türkischer Herrschaft zu leben. Die meisten zogen es vor, ihre Wohnorte erneut zu verlassen. Nur die Bevölkerung von Vakifli entschied sich zu bleiben.
Heute leben in den Wintermonaten rund 120 Menschen hier. Im Sommer kommen alle Verwandten aus Istanbul und dem Ausland zurück, dann wächst die Bevölkerung auf etwa 400 Menschen. Noch größer wird diese Zahl während des Festes Surp Asdvadzadzin. Hunderte Armenier aus Istanbul, Syrien, Frankreich, Österreich oder gar den USA kommen zu diesem Anlass in das Dorf.
Die Geschichte des Dorfes und die Ereignisse von 1915 sind hier immer noch sehr präsent. Avedis Demirci, der Dorfälteste, wurde noch oben auf dem Musa Leer geboren. Der rüstige alte Herr bedauert es zwar sehr, dass seine Augen mittlerweile so schlecht sind, dass er nicht mehr lesen kann, erfreut sich sonst aber bester Gesundheit. Oft hat er schon seine Geschichte erzählt. Sein Name Avedis bedeutet »Frohe Botschaft«. Er wurde 1914 in Vakifli geboren. Auf dem Gipfelplateau des Mosesberges taufte man ihn gerade, als die rettenden französischen Kriegsschiffe in der Ferne auftauchten. Er und sein Name sind bis heute lebendige Erinnerung an den Überlebenskampf auf dem Berg, der sich hinter dem Dorf erhebt.
Sein Enkel erzählt, dass dort auf der Höhe von Damlacik einst ein Denkmal stand, das die Form eines Schiffes hatte und das die Armenier im Gedenken an ihre Rettung errichtet hatten. »Die türkische Armee hat es aber nach dem Militärputsch von 1980 zerstört«, meint er resigniert.
Das Verhältnis zum türkischen Staat und zur türkischen Bevölkerung bleibt schwierig. Die Dorfbewohner bedauern, dass die Kinder in der Schule keine Möglichkeit haben, Armenisch zu lernen. Lediglich im Sommer werden mühsam private Kurse organisiert. Einige berichten von Provokationen türkischer Besucher. Vor allem mit den Bewohnern jener fünf Dörfer, die einst armenisch waren und in denen nach 1939 Türken angesiedelt wurden, hat es früher Probleme gegeben. Als die Drohungen und Beleidigungen überhand nahmen, kamen jedoch die arabischen Bewohner der Gegend zur Hilfe. »Die haben den Türken einmal klar gemacht, dass sie, die Araber, hier in der Gegend die Mehrheit bilden und die Türken es zu spüren bekommen würden, wenn sie die Armenier weiter belästigen«, erzählt ein jüngerer Mann. Damit hätten die Provokationen rasch ihr Ende gehabt.

Im Alltag beschäftigen die Menschen hier allerdings oft wesentlich banalere Probleme. Vakifli lebt vom Anbau von Gemüse und Obst – biologischem Gemüse und Obst. »In der Türkei kennt man das noch nicht wirklich«, erklärt ein älterer Bauer, der in der Nähe des Friedhofs seine Bio-Tomaten anpflanzt: »Niemand ist hier bereit, für biologisches Gemüse mehr zu bezahlen.« Vergangenes Jahr konnte die Kooperative des Ortes ihre biologischen Zitronen, Mandarinen und Orangen noch bis nach Europa exportieren. In Deutschland, Österreich oder Schweden gab es genug Bedarf an biologischen Zitrusfrüchten. Das hat sich jedoch mittlerweile geändert. Aber in Vakifli gibt es außer der Landwirtschaft keine weiteren Einnahmequellen. Eine Zeit lang können sich die Menschen hier auch ganz gut selbst versorgen. Außerdem hat fast jede Familie jemanden im europäischen Ausland, der im Notfall aushelfen kann. Trotzdem wünscht sich Bürgermeister Berc Kartun heute nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen eine Aussöhnung der Türkei mit Armenien. Zitronen und Orangen sind auch im verbliebenen Rest des armenischen Siedlungsgebiets, im unwirtlichen Hochland der Republik Armenien, Mangelware. Hier könnten die Bauern von Vakifli einen neuen Exportmarkt finden.
Bei Avedis Demirci sind gerade arabische Freunde aus einem Nachbardorf zu Besuch. Sie unterhalten sich auf Arabisch. Demirci ist, wie die meisten Bewohner des Dorfes, dreisprachig. Im Dorf wird Armenisch gesprochen, in der Stadt Arabisch und in der Schule und auf Ämtern muss Türkisch gesprochen werden. Das gemüt­liche Treffen in der Abendsonne sagt mehr über das gute Verhältnis zu den Nachbarn als jede Beteuerung, miteinander auszukommen. Die Verbrechen von 1915 wurden nicht in dieser Region geplant, sondern von den politischen Verantwortlichen des jungtürkischen »Komitees für Einheit und Fortschritt«.

Trotzdem wurde gerade der Widerstand am Musa Leer zu einem wichtigen Symbol für die Arme­nier. Mit dem Buch von Franz Werfel, der im Genozid an den Armeniern Parallelen zum nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus erkannte, wurde diesem Widerstand ein universelles Denkmal gesetzt. Ani Degirmencioglu, eine in Wien lebende Armenierin aus Istanbul, fasst die Bedeutung dieses Widerstands mit einem Vergleich zusammen: »Der Musa Leer hat eine ähnliche Bedeutung wie das Warschauer Ghetto, wo sich die Juden gegen ihre Vernichtung gewehrt hatten. Auch die Armenier ließen sich nicht wehrlos abschlachten. Dass es dieses Dorf heute noch gibt, ist ein Resultat dieses Widerstands.«