Nur die Green Line ist undicht. Zyprische Migrantenabwehr

Diese Grenze rettet Leben

Schnellboote, Radarschirme, Nachtsicht­geräte: Die Küstenwache Zyperns ist hoch gerüstet. Aber die Migranten kommen meist über die Green Line. Und stecken dann in Zypern fest. Eine Patrouille am zyprischen Ende der Festung Europa.

»Die Polizisten hatten Brechstangen dabei, um uns Angst zu machen«, sagt Aurun, »sie haben mich aus dem Schlaf gerissen und mir ins Gesicht geschlagen.« Der 29jährige Bengale studiert seit vier Jahren auf Zypern und sagt, er sei an Rassismus hier einiges gewohnt. Aber was am Freitag vor zwei Wochen um fünf Uhr morgens ablief, kann er nicht fassen. »Ich habe eine Aufenthaltsgenehmigung!« sagt er, aber das sei der Polizei egal gewesen. 257 Polizisten riegelten da die Altstadt ab, suchten systematisch nach Menschen, die nicht wie eingeborene Zyprer aussahen, und brachten 150 von ihnen, oft mit Gewalt und in Handschellen, zum Verhör auf die Wache. Unter den 150 Festgenommenen will die Polizei zwölf Menschen ausgemacht haben, die in Schlägereien zwischen Migrantengruppen verwickelt gewesen sein sollen, sowie 36 »Illegale«.
Einer von diesen ist Auruns Freund. »Er wollte in drei Tagen heiraten«, sagt Aurun, der mit einer weinenden jungen Zyprerin vor dem Schreibtisch von Fatima steht. »Wir brauchen sein Ausländerbuch«, sagt Fatima, die bei der antirassistischen Organisation Kisa Migranten berät, und schaut auf den Bildschirm ihres Computers. Aber so oft sie die Unterlagen, die Aurun bei seinem Freund im Schrank gefunden hat, auch durchsehen, das Ausländerbuch, das seinen Aufenthaltsstatus dokumentiert, ist nicht dabei. »In drei Tagen hätten sie geheiratet«, sagt Aurun, »aber wenn wir zy­prische Mädchen heiraten wollen, tun sie alles, um das zu verhindern.«

»Wenn man ins Gesicht geschlagen wird, dann macht es auch etwas hier«, sagt Aurun und deutet auf seinen Bauch. »Wir sind viele, wir könnten uns wehren.« Unter den 800 000 Einwohnern Zyperns leben immerhin 72 000 Migranten mit meist befristeter Aufenthaltsgenehmigung und Schätzungen des Innenministers zufolge 30 000 »illegale Migranten«.
Zu einer Demonstration, zu der antirassistische Organisationen und Migrantengruppen an dem Sonntag nach der Razzia aufgerufen haben, um in der Altstadt Nikosias gegen Polizeigewalt und Rassismus zu protestieren, kommen rund 400 Menschen. Linksalternative Zyprer, ein paar junge Anarchisten und auch einige der vielen Migrantinnen und Migranten. »Aber die meisten sind aus Angst nicht mitgekommen«, sagt Aurun. Viele von ihnen stehen dicht gedrängt auf den Balkonen, manche winken den Demonstranten. »Ich rufe ihnen zu, sie sollen herunterkommen, aber sie haben Angst«, sagt er. Ein anderer Bengale erzählt auf der Abschlusskundgebung, wie die Polizei seine Unterkunft stürmte. »Er geht damit ein großes Risiko ein«, meint Aurun, denn die Polizei verzeihe Migranten keinen Widerstand. Dass auf der Demonstration nur einige Polizisten in normaler Uniform zu sehen sind, heiße nichts. »Die Polizisten in Zivil passen genau auf.« Einer der leicht zu identifizierenden Zivilpolizisten trägt ein T-Shirt, auf dessen Rückseite ein Cartoon zu sehen ist. Eine Comicfigur schlägt dort grinsend eine andere mit einem Knüppel zu Brei. »Have a Nice Day« steht darüber.

Im Hauptquartier der Port and Marine Police der Hafenstadt Limassol erklärt uns ein freundlicher junger Sergeant names Georgios, was seine Einheit alles unternehme, um die EU-Außengrenzen vor illegalen Migranten zu schützen. Auf seiner Powerpoint-Präsentation sieht man die geteilte Insel Zypern. »Diesen unteren Teil der Küste haben wir unter Kontrolle, aber leider haben wir keine Kontrolle über das von türkischen Truppen besetzte Gebiet«, sagt er. »Dort landen die illegalen Migranten, und dann kommen sie über die Green Line zu uns«, ergänzt der Kommandant der Port and Marine Police, Lambros Themistocleous. »Um nach Zypern zu gelangen, müssen sie noch nicht einmal in Boote steigen«, sagt Georgios, »sie nehmen in Syrien einfach eine Fähre und kommen dann über die Green Line in die EU.« An den von der Marine Police kontrollierten Küstenabschnitten landen daher schon länger keine Flüchtlingsboote mehr an. Denn die Nachricht, dass es viel einfacher ist, in den türkisch kontrollierten Norden zu reisen und dann die Green Line zu überqueren, hat sich schnell herumgesprochen. Und so gesehen ist es wohl der Teilung Zyperns zu verdanken, dass wenigstens vor dieser Mittelmeerinsel schon länger keine Migranten mehr im Mittelmeer ertrunken sein sollen.

In einem Raum des Hauptquartiers stehen große Monitore. »Das ist das Radar«, erklärt einer der Polizisten und zeigt auf einen Bildschirm, auf dem die Konturen Zyperns zu sehen sind. Rund um die Insel sieht man viele kleine rote Punkte: Containerschiffe, Fischerboote, Yachten, wohl auch noch kleinste Jollen. Das Radarsystem gibt Auskunft über Größe und Geschwindigkeit des »Target«, wie die Polizisten sagen. Man kann die Zeit rückwärts laufen lassen und sehen, welches »Target« woher kam und wie sein Kurs verläuft. »Wenn der Kurs chaotisch ist, ist das verdächtig.« Dann könnte es sich um ein Flüchtlingsboot handeln. Die Polizisten vergleichen daher das Radarbild mit einem Bild auf dem Monitor daneben. Der zeigt die Position von Schiffen an, die sich über ein Satellitensystem identifizieren. Ist das verdächtige »Target«, das man auf dem Radar sieht, nicht dabei, ist das ein weiteres Indiz. »Wenn es dann auch nicht auf Funksprüche reagiert, dann checken wir es.« Dann fahren wir hinaus aufs Meer, um nachzusehen.
Für diese Zwecke liegt ein großes graues Schnellboot im Hafen. Georgios ist der Kapitän, er zeigt uns die Brücke, die an das Cockpit eines Flugzeugs erinnert. Auch hier gibt es Radarschirme, Satellitensysteme, einen Platz für den Funker, über dem das Bild des Hl. Nikolaus hängt, des Schutzpatrons aller Seefahrenden. Seit dem EU-Beitritt des Landes verfügt die zyprische Polizei über modernste Technologie. »Wir haben Nachtsichtgeräte, die Technik ist auf dem neuesten Stand«, sagt Georgios. Ein Großteil der Elek­tronik kommt aus Deutschland, der gigantische Motor stammt aus Friedrichshafen. »Es wurden mehrere dieser Schnellboote gebaut, zwei bekamen wir, die anderen gingen ans Militär.« Und eigentlich ist auch das hier ein Kriegsschiff. Auf Deck stehen drei Bordkanonen. »Die haben wir zum Glück noch nie abfeuern müssen«, sagt Georgios, der mit seinem rundlichen Gesicht auch nicht so aussieht, als wäre er scharf auf Gewalt.
Für Einsätze in der Nähe steht ein kleineres, etwa fünf Meter langes Schnellboot bereit. Georgios packt zwei Maschinenpistolen ein, macht die Leinen los und schiebt die Gashebel nach vorne. Das Boot springt mit hoher Geschwindigkeit über die Wellen. Eine kleine Demonstration, dass alles hier bestens gerüstet ist. Es geht in den großen Hafen, wo die Port and Marine Police ein amerikanisches Kriegsschiff vor Terroristen schützen soll. »Das Problem der illegalen Migration hat höchste Priorität«, sagt uns Filippos Constantinides, der Chef der Einheit in Limassol, »aber wir haben viele Aufgaben, auch Search and Rescue.« Darauf sind die Männer besonders stolz. Georgios deutet auf seinen muskulösen Kollegen: »Das ist unser bester Taucher, er hat erst neulich wieder im Sturm gekenterte Segler weit draußen aus dem Meer gezogen.« Was mit den illegalen Mi­granten passiere, wenn sie in ihren kleinen, oft überfüllten Booten gefunden würden? Werden die auch aus dem Meer gezogen und gerettet? »Wenn sie in zyprischem Hoheitsgewässer aufgegriffen werden, sind wir für sie verantwortlich, sie bekommen Wasser, Essen, Erste Hilfe und werden zu den Migrationsbehörden an Land gebracht«, erklärt einer von Constantinides’ Männern. »Wenn sie außerhalb unserer Hoheitsgewässer sind, verhindern wir, dass sie in sie einfahren«, sagt er. »Dann informieren wir die anderen EU-Länder, um sie zu warnen, dass illegale Migranten unterwegs sind.« Solche Kooperation läuft teils direkt über die EU, teils über die Grenzschutzagentur Frontex. »Morgen kommt wieder jemand von Frontex, um drei Wochen mit uns zu arbeiten«, sagt der Polizist. »Frontex hilft uns beim Erfahrungsaustausch zwischen den EU-Staaten.«

An Erfahrung hat Frontex einiges zu bieten. Nach einem Bericht des ARD-Politikmagazins Report Mainz von Anfang September hat die Grenz­schutz­agentur im vergangenen Jahr 5 969 Menschen auf See abgefangen und nach Afrika zurückgeschickt. Flüchtlinge aus dem Senegal beschrieben den Journalisten, wie ihr Boot auf See aufgebracht wurde: »Wir hatten nur noch drei Tage zu fahren, da hat uns ein Polizeischiff aufgehalten. Sie wollten uns kein Wasser geben. Sie haben gedroht, unser Boot zu zerstören, wenn wir nicht sofort umkehrten. Wir waren fast verdurstet und hatten auch Leichen an Bord. Trotzdem mussten wir zurück nach Senegal.« Eigentlich sind alle EU-Grenzschützer auch außerhalb der Territorien der ­EU-Staaten an Flüchtlingskonventionen und Menschenrechte gebunden, aber denen fühlt sich Frontex in der Praxis offenbar nicht verpflichtet. Ein senegalesischer Flüchtling berichtete Report, dass Frontex-Beamte vor verdurstenden Flüchtlingen Wasserflaschen demonstrativ ins Meer entleert hätten.
Ob die Männer der Einheit in Limassol auch so verfahren würden? Die Polizisten sehen aus wie gute Familienväter, nicht wie Militaristen oder rassistische Brutalos. Aber trotzdem: Was würden sie tun, wenn sie außerhalb der zyprischen Gewässer ein Flüchtlingsboot ausmachten, auf dem die ersten schon verdurstet seien? »Natürlich bekommen die Leute Erste Hilfe«, versichern uns die Männer der Port and Marine Police Limassol, und viel zu gerne möchte man ihnen das glauben.

Doros Polykarpou wirft einen Blick auf die vielen Dokumente auf seinem Schreibtisch, zieht eines heraus und schüttelt den Kopf. »Hier schreibt uns das Justizministerium, dass Kinder keine medizinische Versorgung erhalten, wenn sie nicht die Aufenthaltsgenehmigung ihrer Eltern vorweisen«, sagt der Leiter der antirassistischen Organisation Kisa und massiert sich die Schläfen. »Wir haben mit dem Justizministerium schon so oft darüber verhandelt, und ich dachte, sie hätten kapiert, dass es so nicht geht.« Auf die Gesetzgebung und die Anweisungen der Behörden Einfluss zu nehmen, ist das eigentliche Ziel von Kisa, aber viel Zeit bleibt dafür nicht. Während Fatima noch telefoniert, um für Auruns Freund einen Anwalt zu organisieren, warten schon die Nächsten vor ihrem Schreibtisch, Menschen aus Afrika, aus dem Nahen Osten, aus Asien. In einer Ecke von Polykarpous Büro steht eine Bananenkiste mit Akten von Migranten. Auf den bunten Regis­trierkarten stehen Namen, daneben das Herkunftsland, Sri Lanka, Iran, Nepal, Afghanistan.
Seit 2004, seit dem Jahr, in dem Zypern EU-Mitglied und damit Teil der EU-Außengrenze wurde, ist die Nachfrage nach individueller Hilfe für Mi­granten stark gestiegen, erklärt Polykarpou. Aber der Beratungsservice sei nicht das, was Kisa eigentlich wolle. »Politisch gesehen ist das reine Zeitverschwendung. Es ist doch nicht unsere Aufgabe, den Behörden zu erklären, dass sie sich an die geltenden Gesetze halten müssen.« Lieber würde Doros Polykarpou mehr Zeit dafür aufbringen, gegen rassistische Regelungen vorzugehen, wie etwa gegen jene Auflage des Justizministerium, die Kindern illegaler Migranten den Zugang zur medizinischen Versorgung verwehrt.

»Zypern hat es den Deutschen nachgemacht und gedacht, die Gastarbeiter gehen einfach wieder, nachdem sie ein paar Jahre für uns arbeiten«, sagt Polykarpou. Denn was die Deutschen tun, gelte hier als ordentlich. Doch wer Jahre auf Zypern gelebt habe und dann seine befristete Aufenthaltsgenehmigung verliere, könne meist nicht einfach gehen und woanders ein neues Leben anfangen. Und in andere Länder der EU käme man von hier aus nicht, auch wenn das viele hofften. »Zypern ist eine Sackgasse.« Aber nicht jedes diskriminierende Gesetz der deutschen Ausländerpolitik wurde hier kopiert. Immerhin gibt es auf Zypern keine Residenzpflicht, keine Internierung der Asylbewerber.
Dafür wissen Neuankömmlinge auf Zypern oft nicht wohin. »Vermieter dürfen nicht an Menschen ohne Aufenthaltsstatus vermieten«, sagt Polykarpou. Deshalb vermieteten zyprische Hausbesitzer ihre Gebäude in der Altstadt an Migranten mit Papieren, die sie wiederum zimmerweise zu noch höheren Preisen an Illegale weiter vermieteten. »Die Zyprer riskieren nichts und machen trotzdem bequem Geld, die Migranten mit Papieren tragen das Risiko und bereichern sich dafür an denen, die gar nichts haben. Das ist das System Altstadt Nikosia.« Wie immer und überall bringt die gesetzmäßige Ausgrenzung der Migranten eine eigene Branche hervor, ein Netz aus Kriminalität, Korruption und Ausbeutung.
»Zwischen den Arbeitsmigranten und den Unternehmern vermitteln Agenturen«, erklärt Polykarpou. Wer einen Job erhält, bekommt eine an diesen Job gebundene Aufenthaltsgenehmigung. »Wer seinen Job verliert, verliert sein Bleiberecht.« Also sind die Migranten ihren Arbeitgebern ausgeliefert. Weil die Agenturen den Arbeitgebern ­garantieren, dass sie für eine ausgefallene Arbeitskraft eine neue schicken, kann jeder syrische Bauarbeiter und jede vietnamesische Haushaltshilfe jederzeit ersetzt werden.

Und damit die Migranten nicht den Einheimischen die besseren Jobs wegnehmen, gibt es Arbeitsgenehmigungen nur für Drecksarbeit. Etwa in der Landwirtschaft, wo Migranten in der Hitze Felder hacken. »Auf den entlegenen Höfen müssen sie dann oft ihren Lohn für Unterkunft und Verpflegung an den Arbeitgeber zurückzahlen.« In zyprischen Privathaushalten arbeiten asiatische Migrantinnen. Männer aus dem Nahen Osten arbeiten auf dem Bau. Wer in Zypern ein Maurer sei, könne Migranten einstellen, statt selbst zu arbeiten, sagt Polykarpou. »Die Zyprer legen dann die Füße hoch.« Sein Telefon klingelt. »Ich habe noch keine Lösung«, spricht er in sein Handy. »Sie haben Ihren Mann festgenommen, damit Ihnen und Ihren Kindern das Essen ausgeht und Ihr Mann aufgibt«, sagt er zu einer Frau am anderen Ende der Leitung. »Die üblichen Schikanen«, meint er, als er auflegt.
Nach Skandalen, bei denen es um schwere Verwicklungen mit der organisierten Kriminalität gegangen sei, habe die Polizei keinen guten Ruf, erklärt Polykarpou. Nun versuche sie, diesen mit Razzias aufzubessern, um zu zeigen, dass sie die Zyprer beschütze. »Und wenn Sie mich fragen: Die Mehrheit der Zyprer steht hinter dieser rassistischen Polizeiaktion«, stellt er resigniert fest. Und da ist er sich einig mit Georgios, dem jungen Sergeant der Port and Marine Police. »In der Altstadt Nikosias gab es immer wieder Kämpfe zwischen Migranten, ich glaube zwischen Hindus und Sikhs.« Aber seit der groß angelegten Polizeirazzia herrsche nun Ruhe und Ordnung. »Viele Zyprer sagen uns jetzt, das sollte man in allen Städten so machen.«